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Sturm ohne Wind: Obscuritas I
Sturm ohne Wind: Obscuritas I
Sturm ohne Wind: Obscuritas I
eBook418 Seiten5 Stunden

Sturm ohne Wind: Obscuritas I

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Über dieses E-Book

Nathalie entflieht ihrer dem Untergang geweihten Welt und gelangt in eine Welt voller Magie. Doch auch hier findet sie keinen Frieden: Die ewige Nacht droht von allem und jedem Besitz zu ergreifen. Das Ende der Zeit ist nahe. Immer tiefer wird Nathalie in den Konflikt dieser Welt hineingezogen, aber ihr wird bald klar, dass sie nicht für beide Welten kämpfen kann. Je länger sie bleibt, desto schwieriger wird es für sie zu entkommen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Nov. 2019
ISBN9783749785636
Sturm ohne Wind: Obscuritas I

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    Buchvorschau

    Sturm ohne Wind - Aliće Weiglein

    Kapitel 1

    -Silber und Stahl-

    Den zusammengefalteten Brief in ihren Händen haltend, blickte Nathalie durch eines der Fenster nach draußen. Sofort musste sie blinzeln, so gleißend hell blendete die Sonne. Auf den Handflächen und ihren nackten Armen spürte sie die Hitze, die sich hinter der Scheibe aufgestaut hatte. Als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, konnte sie die Landschaft, die sich dahinter erstreckte, besser erkennen. Dasselbe wässrige Aquarell wie immer. Blasse Farben, verwaschener Horizont, der immer selbe Bildausschnitt aus einer unveränderten Perspektive.

    Nie hatte sie etwas anderes zu sehen bekommen, denn außer im Haus durfte sie sich nur im kleinen Garten aufhalten. Ihr Ziehvater ging alle paar Wochen zum nächstgelegenen Tauschmarkt, aber begleiten durfte ihn niemand. Es sei zu gefährlich, erwiderte er immer, wenn sie ihn danach fragte. Nicht selten geschah es, dass selbst er, ein Mann von stattlicher Statur, überfallen und niedergeschlagen wurde. Jedes Mal schwiegen sie und hungerten, bis er soweit genesen war, um einen erneuten Versuch wagen zu können. Er war ihre einzige Versorgung und Nathalie wünschte sich oft genug, an seiner Statt gehen zu können. Die traurigen Blicke und das beharrliche Schweigen trieben sie schier in den Wahnsinn.

    Nathalie seufzte und ließ den Blick wieder nach draußen schweifen. Sie wusste nicht, was hinter den Hügeln lag, die das Dorf, oder vielmehr die verlassene, verwahrloste Häusersiedlung umgaben. Ihre Sicht reichte nur bis zu den Windkrafträdern, die sich auf den Hügelkuppen gen Himmel streckten. Allerdings hatte es den Anschein, als ob ein Riese mit ihnen Mikado gespielt und anschließend alles wirr durcheinander liegen gelassen hätte. Viele waren zerbrochen und hatten keine Rotoren mehr. Nur noch Stümpfe von unterschiedlicher Höhe standen aufrecht. Rumpfstücke und Rotorblätter lagen ungeordnet in der Umgebung verteilt.

    Nathalie ließ ihren Blick weiter wandern. Unten im Tal sollten laut Beschreibung ihres Ziehvaters in früheren Zeiten florierende Felder gewesen. Doch diese Zeiten mussten lang vorbei sein. Nathalies Erinnerungen nach lag das Land schon immer brach und wild wuchernde Pflanzen suchten sich ihren eigenen Weg. Der Bach, der sich durch das Tal geschlängelt hatte, war während der verheerenden Dürre der letzten Hitzeperiode restlos ausgetrocknet. Am Bachufer standen einige verwahrloste Häuserruinen, in denen schon lange niemand mehr wohnte.

    Gedankenverloren wandte sich Nathalie vom Fenster ab. Die bunten Ringe und Flecken vor ihren Augen verblassten nach und nach. Ihre Aufmerksamkeit richtete sie nun wieder auf den Brief. Sie sehnte sich danach, seinen Inhalt zu verstehen, um einen Blick auf den Mann dahinter zu erhaschen, der ihr Vater gewesen sein sollte. Aber sie verstand bisweilen nicht einmal sich selbst. Wusste nicht, was sie fühlen sollte und scheiterte daran, die Welt zu begreifen, die ihr alles verbot, wovon sie träumte. Die sie zu einer Gefangenen in diesem Haus machte. Man sprach nicht von ihrem Vater, man erklärte ihr nicht, was er ihr in seinem Abschiedsbrief umständlich aufzudecken versuchte. Jeden Tag, so fand Nathalie, musste er ein weiteres Mal sterben, weil sie zum Vergessen gezwungen wurde und sein Abbild in ihren Erinnerungen zu einem formlosen Schleier der Vergangenheit verblasste.

    Sie hämmerte mit geballten Fäusten gegen die Scheiben, wollte sie im Zorn einschlagen, hinaus brechen in die Freiheit und dem näher zu sein, was sie weder kennen durfte, noch jemals kennen würde. Als wartete ihr Vater dort irgendwo in der Trostlosigkeit, eine leuchtende Silhouette, die ihr den Weg wies, wie eine kleine Sonne, ohne sie jedoch zu verbrennen. Doch sie wusste, dass sie ihn weder drinnen noch draußen, noch sonst irgendwo finden würde. Er war fort, für immer, und hatte sie in einer kalten Welt zurückgelassen, in der alle schwiegen und im Verborgenen stumme Tränen vergossen.

    „Warum ist es so schwer, zu sprechen, mit mir zu sprechen über ein totes Stück Papier?, hatte sie ihre Zieheltern einmal angeklagt. „Alles was ich will, ist doch bloß verstehen. Ist es denn falsch, aus der Vergangenheit lernen zu wollen? Ist es falsch, erfahren zu wollen, wer ich bin?

    „Du begreifst das nicht", hatte ihr Ziehvater erwidert und sie dabei so gleichgültig angesehen, wie einen der vielen Gegenstände, die er Tag ein Tag aus vergebens zu reparieren versuchte und schließlich mit einem Schulterzucken auf den Müll zurückwarf.

    „Es kommt schon lange nicht mehr darauf an, die Welt zu begreifen oder auch nur sich selbst zu verstehen. Es kommt einzig darauf an, zu überleben. Überleben ist alles. Wenn du das schaffst, bist du wer. Aber nicht mehr als das. Du bist, weil du lebst, oder du stirbst und bist nichts. Eine andere Rolle ist nicht notwendig."

    „Du sagst mir nur das, was mir helfen soll, hatte Nathalie ihm verzweifelt vorgeworfen. „Aber ich habe einen Brief, einen Brief von meinem Vater. Und er wollte mir etwas sagen, über sich, über mich, vielleicht noch mehr. Und du, ihr beide, ihr wisst es und doch schweigt ihr.

    Ihre Ziehmutter hatte sich mit glasigen Augen abgewandt und hatte es ihrem zornigen Gatten die Verteidigung überlassen.

    „Ja, ganz recht, dein Vater war jemand. Damals war es noch entscheidend, wer man war. Das ist lange her und dieser Brief ist nichts als ein Nachhall einer anderen Zeit, ein Beweis, dass es nie mehr genauso sein wird. Wir leben wie die Tiere, das haben wir dir versucht beizubringen. Wie die Tiere. Darum leben wir noch. Instinkt, mein Kind, kein Verstand. Wenn du nach höherer Erkenntnis verlangst, dann lebst du in der falschen Zeit und unser Schutz kann dich nicht retten. Dabei war es das, was dein Vater wirklich wollte: Dich sicher zu wissen."

    Er stierte auf seinen wässrigen Nahrungsbrei. „Aber du, du wirst seine Mühen mit deiner rastlosen Unzufriedenheit zunichtemachen", sagte er, ohne den Blick vom Essen zu wenden.

    Gedemütigt von seiner Ignoranz und seinem Trotz, nahm Nathalie sich vor, das Thema nicht ein zweites Mal aufzubringen. In all den Jahren hatte sie sich bemüht, ihr Dasein nicht zu hinterfragen, aber sie konnte die Worte in dem Brief nicht vergessen. Konnte den Vater nicht vergessen, den sie nie gekannt hatte. Sie war nicht wie ihre gleichgültigen Zieheltern: sie empfand etwas. Sie wollte raus aus dem Gefängnis, das ihre einzige Heimat war, aber ihr wohl bewusst, dass sie sich draußen nicht lange alleine würde durchzuschlagen und versorgen können, wenn sie nicht einmal eine vage Vorstellung davon hatte, was hinter dem Hügel lag, auf den sie Tag um Tag blickte.

    Wenn sie ihren Vater nur ein einziges Mal treffen könnte… Wenn es jemanden gäbe, der bereit wäre ihr das Leben zu erklären…, jemanden mit dem sie sich der Welt draußen stellen könnte ohne Angst haben zu müssen…

    Je mehr sie sich danach verzehrte, desto unerträglicher wurde die Enge, die ihr den Atem raubte. Jedes Mal wenn sie am Morgen die Augen aufschlug, dachte sie darüber nach, ob ihr Dahinvegetieren eine Form von Leben war, die noch irgendetwas Lebenswertes beinhaltete. Vielleicht wollte sie ja gar nicht mehr aufwachen, nur um mit ausdruckslosen Augen aus dem immer gleichen Fenster starren zu müssen. Manchmal wollte sie, die Arme vor der Brust gekreuzt, wie die alten Pharaonen, von denen sie Abbildungen in alten Büchern gesehen hatte, einfach liegen bleiben und darauf warten, dass alle Lebenskraft entweichen würde. Lediglich das Nachsinnen über den Brief ihres Vaters war eine Sache, die ihren Kopf zu beschäftigt hielt, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen.

    Außer seinen letzten niedergeschriebenen Worten hatte Nathalie noch ein weiteres Indiz dafür, dass es einen liebenden Vater in ihrer Vergangenheit gegeben haben musste: Ein silbernes Amulett in Form eines Buchenblattes, das an einer feingliedrigen Silberkette hing. Diese Kette legte sie nie ab, weder zum Schlafen, noch auf Wunsch ihres Ziehvaters, der das Amulett aus irgendeinem Grund hasste. Es war ihr Glücksbringer, ihr Talisman, ihr ein und alles in gewisser Weise.

    Langsam schloss sich ihre Hand um das Amulett und sie drückte es an ihre Brust. Wenn sie es dort einpflanzen könnte, genau an die Stelle, an der ihr kaltes, kränkliches Herz seine kraftlosen Verzweiflungsschläge tat. Das Amulett, so schien es ihr, war viel lebendiger als sie selbst, es strahlte eine beständige Anmut und Kraft aus, unangetastet von Schmerzen und der bedrückenden Nähe des Todes. Sie wünschte sich einen winzigen Splitter seiner Stärke. Aber diese Stärke schien an eine Wahrheit gebunden zu sein, die selbst ein tödliches Elixier war. Eine Wahrheit, von deren zerstörerischem Hauch ihr Vater sie nicht berührt sehen wollte. Zurücklassen sollte sie alles. Aber wohin wenden? Da war nichts.

    „Nathalie!, rief eine aufgeregte Stimme nach oben und riss sie aus ihren Gedanken. „Komm schnell, sie sind mir hierher gefolgt!

    Ohne auf weitere Aufforderung zu warten, lief sie so schnell wie möglich die hölzernen Treppenstufen nach unten. Sie wusste, was die knappen Worte ihres Ziehvaters bedeuteten. Plünderer! Sie machten bandenweise die Gegend unsicher. Wer sein Haus nicht abgeschlossen und verbarrikadiert hatte, mochte diese Nachlässigkeit mit dem Tod bezahlen. Die Überfälle waren unvorhersehbar und konnten jeden treffen

    Wenn sie zuschlugen, nahmen die Banden alles mit, was sie für nützlich erachteten, hinterließen Verwüstung und verschonten in der Regel weder Frauen noch Kinder. Jeder Konkurrent weniger war in ihren Augen das einzige, was im Kampf ums Überleben von Bedeutung war. Wer ihre Angriffe rechtzeitig bemerkte und sich, solange ihre Plünderung andauerte, wohl verborgen hielt, hatte nichts zu befürchten, denn die Banden verschwanden jedes Mal so schnell wie sie gekommen waren. Allerdings führten sie eine Vielzahl von Waffen mit sich und scheuten sich auch nicht, davon Gebrauch zu machen, sollte sich auch nur ein leiser Atemzug vernehmen lassen. Manchmal verfolgten sie sogar ausgewählte Opfer, die ein besonders wertvolles Gut mit sich trugen.

    Und jetzt waren sie hier. An der Schwelle zu Nathalies einzigem Zuhause.

    „Hol dir ein Messer aus der Küche, schnell!", forderte ihr Ziehvater sie auf. Er selbst hielt bereits ein Messer in der Hand und hatte sich mit voller Konzentration dem Geschehen an der Türe zugewandt. Eine steile Falte des Zornes zerteilte seine hohe Stirn und in seinen Augen blitzte der Kampfeswille. Nathalie hatte ihn noch nie so lebendig gesehen.

    Ohne zu zögern öffnete Nathalie eine der Schubladen in der Küche auf und entnahm ihr ein Messer mit schwarzem Griff. Es ruhte dort schon so lange, wie ihre Erinnerungen an das Leben bei ihren Zieheltern zurückreichten. Die Klinge war etwas länger als Nathalies Hand, mit beidseitig scharf geschliffener Klinge und einer zierlichen Spitze. Wie angegossen lag das Messer in ihrer Hand, wie ein eigenes Körperteil. Der Lärm draußen wurde lauter. Eine blutige Vorahnung lag in der Luft.

    Die Plünderer bemühten sich nicht, unauffällig zu bleiben. Nur todesmutige Narren wagten sich ihnen in den Weg zu stellen. So berüchtigt waren sie für ihre Taten, dass jeder kluge Mensch es nicht auf eine offene Konfrontation ankommen ließ.

    Nathalies Finger schlossen sich noch fester um den Griff ihres Messers, bis ihre Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Brust war eng vor Angst und ihr Herz raste vor Aufregung. Schweiß sammelte sich an ihren pulsierenden Schläfen, ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Wie sollte sie sich beherrschen, wenn sie wusste, dass ihr zu Hause, ihr Leben, oder zumindest ihr klägliches bisschen Dasein auf dem Spiel stand? Je mehr sie bei Vernunft zu bleiben versuchte, desto mehr störte sie sich an dem uneinheitlichen Rhythmus ihres Herzschlags und ihren schweren Atemzügen. War dieses Dasein überhaupt einen Kampf wert? Sie war eine Gefangene in ihrem eigenen Leben. Warum nicht einfach den Kampf anderen überlassen… Da wurde sie sich des Amuletts um ihren Hals bewusst, das mit einem Mal Tonnen zu wiegen schien. Ihr Vater hatte auch bis zum Ende gekämpft, dachte Nathalie. Um sie in Sicherheit zu wissen. Konnte sie einfach dastehen und abwarten, was geschah? Hatte ihr Vater sie dafür gerettet, dass sie sich willenlos in ihr Schicksal fügte? Warum war sie dann nicht schon früher aufgestanden und gegangen, um nach Wahrheiten zu suchen?

    Weil das mein Zuhause ist, dachte Nathalie. Mein einziges Zuhause.

    Den Stimmen nach zu urteilen, musste die Bande etwa ein halbes Dutzend Köpfe zählen. Damit war die Bande vielleicht verhältnismäßig schwach besetzt, aber trotzdem zu stark, um sie einfach in die Flucht schlagen zu können. Weder Nathalie, noch ihre Ziehmutter hatten sich je verteidigen müssen. Einzig und allein Nathalies Ziehvater verließ das Haus, um neue Güter heranzuschaffen. Woher kamen die Sachen, die er brachte? Was hatte er schon alles auf diesen unzähligen Trips erleben müssen? Manchmal war er verletzt nach Hause gekommen, hinkend, oder mit blutigen Schnitten an den Armen und dem Oberkörper. Aber er hatte immer beharrlich geschwiegen und seine Wunden versorgt. Nathalie war es gewohnt, keine Fragen zu stellen. Jetzt aber, wo sie der Gefahr gegenüberstand, schwirrten tausende von Fragen durch ihren Kopf und suchten nach Antworten, die sie nicht fanden. Ärgerlich versuchte Nathalie alle Fragen zu verdrängen und alle Unsicherheit bei Seite zu schieben. Alles was zählte, war das Hier und Jetzt. Ihr Zuhause.

    Das halbe Dutzend Plünderer stand in der offenen Haustüre, die für sie kein Hindernis darstellt hatte, und maßen den Mann und die beiden Frauen mit abschätzenden Blicken. Sie waren zu einer schnellen Entscheidung gelangt und griffen Nathalies Ziehvater ohne zu zögern an.

    Natürlich, dachte Nathalie, er stellt den einzigen ernst zu nehmenden Gegner dar. Die Plünderer wissen, dass sie mit den beiden Frauen, die sich unsicher im Hintergrund hielten, anschließend leichtes Spiel haben werden.

    Warum zögerte Nathalies Ziehvater? Es war, als scheue er den Kampf. Aber den Moment, den er verstreichen ließ, nutzten die Angreifer sofort zu ihrem Vorteil aus. Sie waren es gewohnt, um ihr Leben und gegen andere zu kämpfen. Sie besaßen nichts, sie waren nicht mehr als eine Zweckgemeinschaft aus Männern, die nicht davor zurückschreckten, Gewalt anzuwenden, um tagtäglich ihr Überleben zu sichern. Aus ihrer Sicht waren ihre eigenen Gefährten nicht mehr als zweckmäßig, entweder waren sie da, um ihren Dienst zu tun, oder sie waren nicht mehr da und mussten ersetzt werden.

    Der Moment des Zögerns brachte Nathalies Ziehvater eine lange Schnittwunde am Arm ein. Seine Frau schrie vor Entsetzten und wich zurück. Nathalie konnte alles in ihren Augen lesen: Ich kann sie nicht alleine beschützen. Sie werden sie finden. Alleine bin ich nichts. Du darfst nicht von uns gehen. Alleine sind wir verloren. Wir haben ein Versprechen gegeben. Du kannst mich damit nicht alleine lassen. Sie schafft es nicht ohne uns. Ohne dich.

    Nathalies Gedanken kreisten umeinander, sie konnte keinen Entschluss fassen. Hässliche Fratzen der Zukunft verschleierten ihren Blick, der gerade jetzt so klar wie nie hätte sein sollen. Welche Wahrheit kannten ihre Zieheltern, die sie wohlweißlich vor ihr verborgen hielten? Was hatten sie ihrem Vater versprochen? Was wussten sie über ihren Vater? Konnte das Wissen über ihn zu gefährlich sein, um es mit ihr zu teilen? Warum vertrauten sie ihr nicht?

    Was, wenn sie nicht überlebten? Nathalies Kehle war wie zugeschnürt bei dem Gedanken. Was, wenn sie nie mehr die Wahrheit erfahren würde? Was, wenn heute der letzte Tag war?

    Ihre Zieheltern waren ihren Verletzungen erlegen, wie Ertrunkene in ihrem eigenen Blut reckten sich ihre nackten, geschändeten Leiber auf den Dielenfließen. Gelächter drang mal lauter, mal leiser an Nathalies Ohr, sie fühlte wie auch sie immer tiefer rutschte, roch den eisenartigen Geruch ihres eigenen Lebenssaftes. Ihre Hände, die sich umsonst abmühten, sie hoch zu stützen, waren rot wie nach dem Schlachten. Ihre Augenlider waren verklebt und feucht, und ließen sich nur einen kleinen Spalt weit öffnen. In dem winzigen Ausschnitt erkannte sie Feuer. Es schlug aus dem Holz der Möbel, leckte an den Gardinen, verzehrte die Leichen ihrer Zieheltern in Zeitraffer zu schwarzen Kadavern. Einer der Plünderer beugte sich zu ihr, seine Fackel streifte heiß ihre Wange und versengte ihr Haar.

    „Wir bringen das Feuer, kleine Nathalie, damit du die Wahrheit findest in der Dunkelheit …"

    Sie brach zusammen, als er ihr die Arme wegtrat.

    „Vater, murmelte sie mit ersterbender, vom Rauch kratziger Stimme, „das ist nicht die Wahrheit, die du mir versprochen hast.

    „Oh doch, mein Kind", hörte sie den Plünderer ganz nahe an ihrem Ohr und gleichzeitig doch schon wie aus weiter Ferne, dann schlugen ihr Flammen ins Gesicht und ihr wurde schwarz vor Augen…

    Nathalie öffnete mühelos beide Augen, die zwar feucht vor Tränen waren, aber weder geschwollen noch verklebt. Wieder stand sie der Realität gegenüber, die sie nur in ihrer Vision weitergesponnen hatte, zu einer Brutalität die keine Grenzen kannte. Wut zog sich wie ein Geschwür in ihrem Herzen zusammen, als sie ihre schreiende Ziehmutter am Schrank kauern sah. Ihr Messer war ihr aus der Hand gerutscht und lag nutzlos am Boden. Ihr Ziehvater war durch die Plünderer von ihnen beiden abgeschnitten worden, er beugte sich qualvoll hustend vornüber. Inzwischen blutete er aus mehreren Schnitt- und Stichwunden, geschlagen von den Messern und dolchartigen Waffen seiner Gegner.

    Kaum noch in der Lage, sich zu verteidigen, beschränkte er sich auf die notwendigsten Parierstreiche und nahm in Kauf, dass er immer öfter einstecken musste und seine Stärke gleichsam mit seinem gebrochenen Willen schwand.

    Drei der Plünderer traktierten ihn von verschiedenen Seiten, während die anderen drei auf Nathalies Mutter zukamen. Sie hatten es nicht eilig. Nathalie selbst stand nur wenige Schritte entfernt. In ihr war nichts als Zorn. Sogar Trauer und Angst wurden davon weggewischt, wie Gefühle eines anderen, die sie nicht im Entferntesten betrafen.

    „Ich werde euch die Wahrheit schon selbst zeigen!", schrie Nathalie fast besinnungslos.

    So fest wie es ihr möglich war warf sie ihr Messer nach dem nächststehenden Feind.

    Der Getroffene brach mit dem tief in seiner Brust steckenden Messer zusammen und blieb vor Schmerzen gekrümmt liegen. Ein Häuflein Elend. Blut sickerte aus seiner Wunde und färbte sein schmutziges Hemd rot. Ein Tier, geschlachtet von Nathalie. Sie blickte in stummem Entsetzen auf ihre Hände herab, die sauber waren. Wenn man eine Sache stahl, besaß man sie, konnte sie fühlen, ansehen, in Händen halten… Warum war nichts Greifbares, nichts Erkennbares da, wenn man ein Leben gestohlen hatte? Wie konnte es weg sein, ohne dass selbst der Räuber einen Rest davon zurückbehielt? Schuld war unsichtbar. Aber für Nathalie fühlte es sich schmutzig an. Es war das einzige, woran sie in den erstarrten Sekunden denken konnte. In ihrer Phantasie sah sie den Schädel, dessen Haut in Zeitraffer fahl wurde und an den Knochen fest trocknete, die Kiefer zwischen denen es keine Zunge mehr gab, öffnete sich: „Gib mir dein Licht, dein Licht. Lass mich nicht in dieser garstigen Dunkelheit, wo sie alle sind. Gib es zurück! Sie warten ja doch auch auf dich eines Tages."

    Wie ein Mann hielten die anderen fünf Räuber inne, drehten sich zu ihrem gefallenen Kameraden um und blickten zu Nathalie. Ungläubigkeit und Verwirrung in ihren Augen, panische Furcht im Herzen, ihr Verstand begriff zum ersten Mal, das auch sie verlieren konnten, dass auch jeder von ihnen nur ein Leben besaß, das sie so leichtfertig aufs Spiel zu setzen gewohnt waren. Ihr Gefährte, hingerichtet von einer jungen Frau, die interessiert auf den Toten herabsah wie auf die Beute einer Jagd. Etwas an ihr war so kalt gegen das Leben, dass sie alle in den Bann zog und gleichzeitig ihr Innerstes zur Flucht wandte.

    Behände bückte Nathalie sich nach jenem Messer, das den hilflosen Händen ihrer Ziehmutter entglitten war. Wären die Plünderer nicht schon aus dem Haus gehastet und hätten die Türe hinter sich zugezogen, so hätte vielleicht auch diese Klinge ihr Ziel gefunden.

    Stille senkte sich über das Haus, in dem nunmehr nur noch seine eigentlichen Bewohner und der Tote zurückgeblieben waren. Niemand wusste etwas zu sagen. Ihr Ziehvater war der erste der das Schweigen brach, obwohl er es war, der am meisten an Stärke eingebüßt hatte:

    „Nathalie, das war die gedankenloseste und zugleich kühnste Tat, die ich je gesehen habe. Ohne deinen Meisterwurf hätten wir das Schicksal dieses Barbaren erlitten. Geflohen sind sie… fragen wir nicht, warum. Aber sie hatten Angst vor dir, Nathalie, Angst. Ich habe noch nie so eine Angst bei ihnen gesehen."

    Was alles hätte schief gehen können erwähnte er besser nicht.

    Nathalie lächelte schwach. Sie war sowohl müde vom Leben, als auch müde vom Verteidigen ihres Lebens. Eigentlich hätte sie sich über den Sieg freuen sollen, aber sie suchte vergebens nach einem solchen Triumphgefühl. Der Hass gegen die Feinde war verflogen und hatte eine unangenehme Leere hinterlassen. Sie starrte den Leichnam an, der wenige Schritte vor ihr lag, doch sie konnte den Anblick des von ihr niedergestreckten Mannes nicht ertragen und wandte sich ab. Egal wie böswillig er zu handeln bereit gewesen war, rechtfertigte das ihre Tat? Er hätte sie alle drei ohne zu zögern getötet, wenn es seinem Zweck dienlich gewesen wäre. Aber war das eine Entschuldigung für seinen Tod? Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass die Sonne aufhörte, sie spöttisch auszulachen. Ihr Vater hatte die Leiche inzwischen auf seine Arme geladen und trug sie langsam und mit hinkendem Bein aus dem Haus. Eine schiere Ewigkeit bewegte sich das Opfer ihres Blutrausches durch ihr Blickfeld, als wollte es für immer dort verharren und sie auf ewig an ihre Zornestat erinnern.

    Du hast mir meinen Namen genommen und sieh! Ich werde der Namenlose sein, der dich verfolgt und deine Träume vergiftet!

    Als Nathalies Ziehvater wieder hereinkam gingen sie alle gemeinsam, wie ein Trauerzug, ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter in fast schon anmutiger Zeremonie alle Wunden notdürftig reinigte und verband. Der Überfall hatte ihnen allen viel abverlangt, so dass sie sich ohne weitere Worte schlafen legten. Nathalie war schon in ihrem Bett, als sie ein Pochen an ihrer Zimmertüre hörte.

    „Komm herein", murmelte sie etwas widerwillig.

    Es war ihr Ziehvater, der ungewohnt bedächtig und mit merklichem Zögern eintrat.

    „Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, du hast heute völlig richtig gehandelt, und zwar richtiger und besser als ich es je gekonnt hätte. Dein Vater wäre stolz auf dich gewesen, das wollte ich dir sagen."

    Er sah ihr fest in die Augen, als wollte er sie dazu zwingen, genauer hinzusehen, das wahrzunehmen, was er nicht aussprach und nur dort irgendwo in seinen Gedanken existierte. Dann zog er das Messer mit dem schwarzen Griff hinter seinem Rücken hervor. Die Klinge war gesäubert und poliert und strahlte schöner als je zuvor.

    „Ich denke, du solltest es behalten, es gehört zu dir, nachdem es dir so viel Glück gebracht hat. Du hast mir oft beim Messerwerfen üben im Garten zugesehen. Jetzt bist du viel begabter darin, als ich je werden könnte. Ich hoffe nicht, dass du noch einmal auf seinen Dienst angewiesen bist, aber es wird kein Schaden sein, wenn du es bei dir trägst."

    Er zuckte mit den Schultern und legte es eine Spur zu hastig auf ihrem Nachttisch ab, wie ein verwünschtes Artefakt, dem er nicht traute und welches er keine Sekunde länger in Händen halten wollte.

    Nathalies Schlaf verlief unruhig und war durchzogen von wirren Alpträumen, die einander nachfolgten wie Krankheiten sich ewig fortsetzten, manchmal ineinander übergehend, manchmal überlagert. Mehrmals wachte Nathalie in dieser namenlosen Nacht auf, um kurz darauf wieder vor Erschöpfung einzunicken, egal wie stark ihr Vorsatz war, nicht wieder in die Grausamkeit ihrer Phantasiewelt hinab zu driften. Doch der Tagesanbruch ließ auf sich warten und so fühlte sie sich am Morgen schließlich so, als hätte sie nun noch das letzte bisschen Kraft aufgebraucht.

    Nach einem kargen Frühstück stieg sie schlafwandlerisch die Treppe in den Keller hinab und verließ noch immer wie in Trance über eine der beiden Fenstertüren das Gebäude. Einmal wandte sie sich um, wie eine Verfolgte, aber es war niemand hinter ihr. Sie hatte sich nur eingebildet, ihren Ziehvater zu hören, der sie bat, im Schutz des Hauses zu bleiben. Doch ihr Ziehvater hätte sie niemals um etwas gebeten. Sein Wort war Befehl. Einen Befehl aber, das stand sicher fest, hatte sie diesmal nicht gehört, also setzte sie ihre ziellose Reise über die Terrasse fort. Splitter des rissigen Pflastersteins bohrten sich wie Dornen in ihre nackten Fußsohlen, doch sie lächelte nur über den unmerklichen Schmerz, der ihr so viel weniger real vorkam, als die Torturen in ihren Träumen.

    Sie stellte sich vor, es wären die Stacheln von Rosenzweigen, die sich wie sterbende Schlangen über den Boden wanden, zuckend, Halt suchend an ihren zierlichen bleichhäutigen Beinen, sie warnend vor einer Welt, deren Opfer keinem Zweck dienten, sondern ihrer eigenen Sinnlosigkeit geopfert wurden. Gerade weil Nathalie sich vorstellte, nicht weiterlaufen zu dürfen, wurden ihre Schritte fester und zuversichtlicher.

    Rosen waren damals ein Zeichen der Liebe. Noch mehr, sie waren auch Symbol für vielerlei Dinge. Schwarz für die Trauer, weiß für die Toten. Die roten Rosen aber, waren den Liebenden vorbehalten. Aber es gibt sie nicht mehr, das war damals…

    Selten genug, dass ihre Ziehmutter Nathalie aus der Vergangenheit erzählte, umso dankbarer war sie über alle noch so winzigen Details, die sie erfahren konnte. Rosen, überall meinte sie ihnen seitdem zu begegnen, mit ihren bunten dicken Blütenköpfen – so wie sie sich Rosen aus den Erzählungen ihrer Ziehmutter vorstellte – aber mittlerweile gewöhnte sie sich an die Streiche, die ihre Augen ihr so oft spielten. Die ihr zeigten, was sie nicht hatte und wonach sie sich umso mehr sehnte.

    Rings um den Steinpfad, der kaum noch als solcher auszumachen war, wucherten die Pflanzen durcheinander, die stark genug waren, um von nichts als Entbehrung satt zu werden. Ihre Zieheltern hatten ihr von dem Brauch berichtet, sich die Natur in dem abgegrenzten, zum Haus gehörenden Gebiet untertan zu machen und nach Wunsch zu gestalten. Eine Tradition, namens Gartens, die ihren Wert verloren hatte. Wer sollte einen bewundernden Blick darauf werfen, wenn man auf der Flucht oder in Verstecken seine Existenz zu retten versuchte? Alles was heute hier zu wachsen in der Lage war, wuchs wie es wollte. In der Mitte der Gartenfläche streckte sich ein großer Baum vergeblich nach Erlösung heischend gen Himmel. Vornüber geneigt stand er da, ein alter gebeugter Krüppel, ein Kriegsveteran, dem niemand seine Wunden zu versorgen kam, der in Verbitterung und Einsamkeit seine letzten Jahre trotzig fristete und doch noch alle zu überdauern gedachte. Nathalie setzte ihren Weg durch den Garten fort, bis sie an den rostigen Maschendrahtzaun gelangte, der das Grundstück abgrenzte. Gekonnt platzierte sie einen Fuß in eine der Maschen und schwang sich auf die andere Seite des Zauns. Vor ihr ragte ein schier undurchdringliches Gestrüpp aus dürren Sträuchern und vereinzelten gekrümmten Bäumen auf. Wenn sie allein sein wollte kam sie oft hierher, sodass sie mittlerweile eine Vielzahl von Wegen durch das enge Gewirr kannte. Das hier war die einzige Freiheit, die sie sich selbst und ihren Zieheltern gegenüber herausnahm: ein Versteck in den Armen der fast erstorbenen Natur. Die aber genauso überdauerte wie sie alle in dieser Welt, in der man niemand sein konnte oder durfte. Auch wenn die Pfade nicht weit führten und immer wieder dort endeten, wo sie begonnen hatten, waren diese Zirkel ein Weg, auf dem Nathalie sich allein und frei bewegen konnte. Ob ihre Zieheltern wirklich nichts von ihrem Geheimnis ahnten, oder sich mit diesem kleinen, überschaubaren Regelbruch abgefunden hatten, ohne je ein Wort darüber zu verlieren, wusste Nathalie nicht mit Gewissheit. Daher zog sie es vor, ihre geheimen Ausflüge nie zu lange auszudehnen und wieder ebenso unbemerkt ins Haus zu gelangen, wie sie sich davongestohlen hatte. Wie sonst schon so oft wollte sie sich auch jetzt aller Gesellschaft entziehen und auf andere Gedanken kommen, um die Ereignisse des Vortags zu vergessen, wenigstens für einen verschwindend kurzen Augenblick, in dem sie sich einbilden konnte, glücklich zu sein.

    Statt einen der ihr bekannten Wege zu wählen, nahm sie das Messer, das sie von jetzt an immer bei sich tragen wollte, und bahnte sich einen Weg durch das dornige Gestrüpp. Trotzdem musste sie die Arme schützend vors Gesicht nehmen. Über ihr wurde das Geäst immer dichter und dichter, so dass Nathalie bald gezwungen war auf Knien weiter zu kriechen. An wenigen Stellen robbte sie sogar auf dem Boden voran, bis die Sträucher auf einmal weiter nach außen rückten und sie aufrecht stehen konnte, ohne ihr Messer zu Hilfe nehmen zu müssen. Sie überlegte angestrengt. Nein, sie war sich sicher, dass sie diesen abgeschiedenen Ort vorher noch nie zuvor betreten hatte. Neugierig sah sie sich nach allen Seiten um. Die Sträucher ließen eine kreisförmige Lichtung frei und schlossen sich knapp über Nathalies Kopf wie zu einem kuppelartigen Dach zusammen. Fasziniert blickte sie sich um und wunderte sich, dass sie diesen Ort nicht schon längst entdeckt hatte. Sie streckte die Arme aus, als wolle sie etwas direkt vor ihr in der Luft greifen. Mechanisch machte sie einen Schritt. Erschrocken taumelte sie rückwärts, als ihr Fuß an etwas stieß. Leise fluchend fokussierte sie den kränklichen, gräulichen Waldboden. Das Hindernis war nichts weiter als ein runder Kanaldeckel, so groß, dass er unter normalen Umständen nicht zu übersehen gewesen wäre. Als ihr Puls sich wieder normalisiert hatte, ging Nathalie neben dem Kanaldeckel in die Hocke und fuhr mit der flachen Hand darüber. Gedankenverloren zeichneten ihre Finger die Umrisse des Deckels nach, bewegten sich nach und nach ins Innere des Kreises und kamen in einer kleinen Vertiefung zum Ruhen. Einer Vertiefung in Form…

    Ihr Herz setzte schier einen Schlag aus. Noch bevor sie hinsah, um sich zu überzeugen, war sie sich absolut sicher. Die Form die sie da erspürte, war so unverwechselbar und so klar und deutlich mit jedem Detail, jeder feinsten Rille und Hebung in ihr Gehirn eingebrannt, dass eine bloße Einbildung außer Frage stand. Es war das Negativ zu dem silbernen Buchenblattanhänger, den sie Tag und Nacht um den Hals hängen hatte. Ohne nachzudenken griff sich Nathalie an die Brust, wo sie die Kühle des Talismans spürte. Ihr Hals war ihr so eng geworden, als läge ein straff gezogener Strick darum. Wo war die Luft zum Atmen geblieben?

    Wie konnte das überhaupt alles sein? Wo war sie und warum war sie hier? Wie konnte es sein, dass der Kanaldeckel eine Mulde passgenau für ihren Talisman aufwies? Träumte sie? Lebte sie noch? Nathalie fühlte sich, als wäre sie in ein Zeitloch gefallen. Als wäre sie irgendwo in Raum und Zeit, nur nicht da, wo sie vor ein paar Minuten, oder waren es schon Stunden, gewesen war. Und nun, dachte sie. Was nun? Wie geht es weiter?

    Aufgeregt und mit zitternden Fingerspitzen öffnete sie den Verschluss der Silberkette und ließ das wohl bekannte Amulett in ihre Hand gleiten. Sie wog es ab, aber diesmal nicht, um seinen Wert oder seine verborgene Lebensenergie zu schätzen, sondern um die Bedeutung zu ermessen, die dem unschuldig glänzenden Schmuckstück tatsächlich innewohnte.

    Noch einmal verglich sie es mit der in den Kanaldeckel eingelassenen Form, um nicht doch einem Trugbild zu erliegen, dem Wunsch etwa, dass sie etwas über

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