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Vergessenes Blut
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eBook457 Seiten6 Stunden

Vergessenes Blut

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Über dieses E-Book

Endlich kommt der Anruf, auf den der junge Ray Fox, ein erfolgloser Makler aus South Central, so lange gewartet hat. Doch als sich dieser mysteriöse Job ganz anders als erwartet herausstellt, gerät er, ohne es zu ahnen, immer mehr in die vergessenen Fänge seiner eigenen Vergangenheit. Angetrieben von seiner düsteren Gabe fühlt er sich verpflichtet, das Böse zu vernichten. Bei einem seiner nächtlichen Streifzüge als Rächer der Unschuldigen trifft er auf die schöne Jules, eine knallharte Kämpferin, die scheinbar die gleichen Ziele verfolgt. Sie ist es auch, die erkennt, wer Ray wirklich ist und dieser ahnt keineswegs, wie lange sie schon auf der Suche nach ihm ist. Sie offenbart Ray die Welt eines Jahrhunderte währenden Krieges zwischen den Beschützern der Menschen und dem Volk der Hotheri, deren blutrünstigen Feinden. Während Ray sich sichtlich verwirrt auf die Suche nach Antworten begibt, regt sich in ihm ein maßloses Verlangen, welches Jules durch eine Leichtsinnigkeit aus den Tiefen seiner Seele hervorlockt. Und diese entfesselte Dunkelheit hat es nicht nur auf ihr Blut abgesehen. Zu welcher Seite gehört Ray wirklich?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum19. Sept. 2015
ISBN9783737566407
Vergessenes Blut

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    Buchvorschau

    Vergessenes Blut - Charlotta Pinot

    Prolog

    Der raue Asphalt brannte unter ihren Fußsohlen. Kein Wunder, sie rannte schon seit Stunden, als wäre der Teufel hinter ihr her.

    Um kurz zu verschnaufen, stoppte sie an der nächsten Kreuzung und hielt sich an einem Straßenschild fest. Mit dürren Fingern umklammerte sie den Pfeiler und lehnte sich erschöpft dagegen.

    „St. Andrews" – verflixt, wo war sie nur? Diese Straße wirkte wie leer gefegt, geradezu geisterhaft. Kein Mensch war zu sehen und das gesamte Viertel verströmte eine schaurige Abgeschiedenheit.

    Gitter an den Häuserfenstern und meterhoher Stacheldraht auf den verwahrlosten Zaunkronen verliehen dieser Gegend einen vertrauten Anblick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

    Hinter einem Zaun raschelte etwas im Gebüsch.

    Ihr Puls begann sofort, zu rasen.

    Oh nein, hatten die sie etwa gefunden?

    Da, schon wieder.

    Sie spitzte die Ohren und schlug sich panisch beide Hände vor den Mund, um nicht versehentlich laut loszuschreien. Ihr Herz hämmerte wie verrückt und dann stürzte sie los. Nur weg von der beleuchteten Straße, hastete sie in die Finsternis.

    Sie lief, so schnell sie konnte, doch wäre das niemals schnell genug, sollten die ihr wirklich auf den Fersen sein.

    Der Wind frischte etwas auf und trieb Tränen in ihre Augen. Viel zu heiß und trocken war die salzige Brise, die von der Meerseite herüberwehte. Nun flatterte ihr schmutziges Hemd wie ein Fähnchen über ihre spitzen Knochen, welche ihren kindlichen Körper in den einer alten Frau verwandelten.

    Außer diesem einst weißen Fetzen Stoff, der ihr seit Jahren als Kleidung diente und einem 20 Dollar Schein in der mageren Faust, trug sie nichts weiter bei sich.

    Abgehetzt bog sie in eine dunkle Gasse und suchte Schutz hinter einem der stinkenden Müllcontainer, die überall herumstanden. Hätte sie doch bloß das Messer nicht verloren, dachte sie.

    Mit angezogenen Beinen und beiden Armen fest um die Knie geschlungen, schloss sie die Augen und zählte in Gedanken von Hundert rückwärts. Ihr stoßweiser Atem würde sie verraten, sollte einer der Verfolger in ihre Nähe gelangen. Sie musste sich beruhigen und absolut still sein.

    Mucksmäuschenstill.

    Ansonsten war alles umsonst. All die Qualen ihrer Flucht und derer, die sie zurücklassen musste, wären vergebens gewesen.

    Die halbe Nacht war sie orientierungslos durch den Wald geirrt, bis sie endlich eine Straße erreicht hatte. Fast hätte der Lkw sie überfahren, als sie sich mit wild rudernden Armen vor das Fahrzeug geworfen hatte, um auf sich aufmerksam zu machen. Zum Glück durfte sie bis nach Los Angeles mitfahren und der Trucker hatte nicht die Polizei gerufen oder das Jugendamt alarmiert. Oder weiß Gott Schlimmeres.

    Sie riskierte einen kurzen Blick in die Gasse und stellte erleichtert fest, allein zu sein.

    Vorsichtig begutachtete sie ihr Versteck genauer, denn es machte den Eindruck, als wäre dieser Schlupfwinkel bereits bewohnt. Auf dem schmierigen Boden lag eine alte Matratze mit einer vergilbten Decke darauf, welche vermutlich einmal himmelblau gewesen sein musste. Es war nicht gerade einladend, aber weitaus besser als die Hölle, aus der sie geflohen war.

    Dann erweckte eine unförmige Silhouette ihre Aufmerksamkeit, an der sich das wenige Licht brach. Ein absichernder Blick in jede Richtung … und los …

    Schnell krabbelte sie zu der Bäckertüte, die wahrscheinlich aus der überfüllten Mülltonne gepurzelt war, und freute sich über den schimmligen Inhalt. Ihr Magen protestierte, aber sie wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde, ohne etwas zu essen.

    Es schien, als hätten die Jäger einen anderen Weg eingeschlagen und für diesen kurzen Moment fühlte sie sich sicher. Müde streckte sie sich auf dem Boden aus und starrte hinauf in die sternenklare Nacht. Wie sehr hatte sie die frische Luft und den Himmel vermisst. Er glitzerte wie ein schwarzer See aus Millionen kleinen Edelsteinen und verlieh ihrer ausweglosen Situation etwas Beruhigendes.

    Sie wünschte sich, dass alles gut werden würde. Dass dieser Augenblick ihr neues Leben einläutete und sie nie wieder an diesen schrecklichen Ort zurückkehren musste.

    Jedoch befürchtete sie, dass es so nicht kommen würde. Sie musste weiterkämpfen, immer weiter und weiter.

    Aber wo sollte sie die Kraft dazu hernehmen? Sie konnte sich doch jetzt schon kaum noch auf den Beinen halten. Diesen Kampf konnte sie nicht alleine aufnehmen. Niemals. Nur wie sollte sie das schaffen und wer könnte ihr helfen? Die Polizei?

    Selbst mit ihren 14 Jahren war sie nicht so dumm zu glauben, dass sie ihrer Geschichte Beachtung schenken würden. Am Ende landete sie noch in einem dieser Heime, von denen man ihr erzählt hatte.

    Und wie war es eigentlich möglich, dass die nie gefasst wurden? Dass niemand von ihrer Existenz wusste? Sicher, sie hatten da so ihre Tricks. Doch ohne einen Verbündeten bei den Behörden war das alles nicht möglich, dachte sie.

    Sie waren überall. In Kindergärten und Schulen, in der Bank. Arbeiteten in Fabriken und Büros, waren in der Politik und Wirtschaft beschäftigt. Bosse von großen Firmen, Menschen der Öffentlichkeit.

    Aber keiner erkannte sie wirklich. Niemand wusste, wer sie waren und was sie taten. Nur sie wusste es. Sie und die vielen anderen, die man unter der Erde gefangen hielt.

    Sie brauchte jemanden, dem sie vertrauen konnte und der ihr glauben würde – es schien aussichtslos. Jedoch waren ihre Fluchtpläne das auch immer gewesen und hier war sie nun dank der Hilfe eines Fremden.

    Verängstigt und hungrig, aber frei.

    Sie drehte sich, die Arme dicht um ihren Körper geschlossen, auf die Seite und bettete ihren Kopf auf der zerknüllten Papiertüte, in welcher das ranzige Brötchen gelegen hatte. Kurz bevor sich ihre schweren Augen schließen wollten, erblickten sie etwas, das unter der Matratze hervorlugte.

    Neugierig tastete sie danach und hielt plötzlich eine ockerfarbene Wildledermappe in den Händen. Sie begutachtete sie von allen Seiten und wischte sich die dreckigen Finger vorsichtshalber an ihrem Hemd ab, bevor sie die Zettel herausfischte. Sie waren sauber und ordentlich sortiert und passten nicht an diesen schmutzigen Ort.

    Mit blauer Tinte und schöner Schrift auf weißem Papier mussten sie jemandem viel bedeutet haben, wenn er sie so sorgfältig aufbewahrte.

    Das Mädchen schaute auf die Lasche an der Innenseite und las den Namen „Ray Fox". Was für ein lustiger Name. Wer hieß schon Ray Fox, überlegte sie. Vielleicht ein grauhaariger englischer Detektiv mit grün-karierter Mütze und einer hölzernen Tabakpfeife im Mund? Sir Raymond Foxborough!

    Sie kicherte.

    Im funkelnden Schein der Sterne und dem Licht der flackernden Laternen der Hauptstraße nahm sie sich den ersten Zettel und begann zu lesen …

    Kapitel 1

    Jedidiah Sawyer, der Texas-Kettensägenmörder, stand direkt neben seinem Bett und sann nach nichts anderem als seinem Blut. Oder der verdammte Wecker klingelte. Wer wusste das schon so genau.

    Schläfrig wollte er sich aufrichten, um an den nervigen Quälgeist zu gelangen, aber die Schwerkraft forderte seinen Brummschädel postwendend zurück. Er zog sich das Kissen unter dem hämmernden Kopf hervor und schoss den rasselnden Schreihals gekonnt vom Nachtschrank.

    Mit beiden Augen auf Halbmast sah er sich im Zimmer nun genauer um.

    Die grau gestreiften Vorhänge mit den zwei kleinen Beobachtungslöchern auf der rechten Seite kamen ihm irgendwie bekannt vor. Auch den klapprigen Deckenventilator, der laut ratternd seine Runden drehte, hatte er schon mal gesehen. Gott sei Dank, er war zu Hause.

    Angestrengt versuchte er, sich daran zu erinnern, wo er die letzte Nacht verbracht hatte. Doch da war nichts, rein gar nichts.

    Sein Kopf war ein großes schwarzes Vakuum, in dem sich seine Kopfschmerzen gegenseitig mit einem Elektroschocker malträtierten. Die Migräne war einfach zu mächtig, als dass sie zuließ, dass er sein Gedächtnis durchforstete.

    Abgesehen von dem widerlichen Geschmack des letzten billigen Whiskeys, war ihm offenbar nicht viel von seinem gestrigen Abend in Erinnerung geblieben. Was erfahrungsgemäß weniger am Alkohol lag.

    Also ein ganz normaler Start in den Tag – prima. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen.

    Andere hätten vielleicht einen Freund angerufen, um zu fragen, was sie die letzte Nacht so getrieben hatten. In welchem Club sie ihren letzten Drink zu sich genommen und ihr schwer verdientes Geld verprasst hatten.

    So ein Halunke wie er hatte keine Freunde – ein Typ wie Ray war meistens allein.

    Kurz überlegte er, ob er den Weg ins Büro überhaupt noch antreten sollte, aber ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, klingelte schon sein Handy. Es steckte noch immer in der rechten Hosentasche der Jeans, die er gestern offensichtlich nicht mehr ausgezogen hatte.

    Gequält knurrte er ein „hmm" durch seine Lippen und lauschte mit geschlossenen Lidern dem Anrufer.

    »Sag mir, dass du in einer Minute durch die Tür kommen wirst!«, kreischte es hysterisch aus dem Hörer. Die hohe Stimme fühlte sich an wie kratzende Fingernägel auf einer Tafel. »Hallo? Ray, bist du noch dran?«

    Ein erneutes „hmm" brummte aus seiner staubigen Kehle.

    »Jetzt sag nicht, du liegst noch im Bett?«

    »Meine Güte, Patt, was willst du? Es ist noch dunkel draußen.« Sie kräuselte die Nasenflügel. Er konnte es zwar nicht sehen, aber das tat sie immer, wenn sie wütend war und ihre Tonlage eine Frequenz annahm, die Gläser zum Bersten bringen konnte.

    »Schieb die Fetzen, die du Vorhänge nennst, zur Seite – es ist halb zehn! Jack Dooley wird in dreißig Minuten hier sein. Wir versuchen seit einem halben Jahr, einen Auftrag zu kriegen, bist du verrückt?«

    Adrenalin wand sich durch seine ausgetrockneten Gefäße und sein eben noch so verkatertes Hirn schaltete sofort den Notgenerator auf Full Power. Heißes Blut schoss in seinen Schädel und aktivierte die müden Zellen zu neuem Leben.

    Dooley. Büro. Auftrag. »Verdammter Mist …«, verfluchte er sich selbst und fing sich sofort ein verwarnendes Schnauben am anderen Ende der Leitung ein.

    »Mach ihm einen Kaffee und beschäftige den Kerl irgendwie, ich bin auf dem Weg.«

    »Beschäftigen? Dooley beschäftigen? Ich weiß ja nicht von welchem Dooley du sprichst, aber der, den ich kenne, lässt sich nicht beschäftigen.«  Sie klang verzweifelt.

    »Was weiß ich denn … mach etwas Small Talk … flirte mit ihm, überleg dir was, du bist schließlich eine Frau«, krächzte er ins Telefon und legte auf.

    Jack Dooley war der durchtriebenste Immobilienhai in ganz Kalifornien. Ihm gehörte halb L.A. und es gab kaum einen Millionenkomplex, bei dem er nicht seine klebrigen Finger im Spiel hatte.

    Hin und wieder vergab er kleinere Aufträge an nullachtfünfzehn Makler, um unter falschem Namen seine undurchsichtigen Geschäfte abzuwickeln. Er war bekannt dafür, dass er verdammt gut zahlte und Ray war jemand, der keine Fragen stellte.

    Sie versuchten alles, um mit ihm ins Geschäft zu kommen, aber an diesen Mann persönlich ranzukommen war schwerer, als eine Audienz beim Papst zu erhalten.

    Allein drei Monate waren nötig, um mithilfe einer Privatdetektei eine Telefonnummer herauszufinden.

    Eine Telefonnummer, nicht seine.

    Patt und er arbeiteten sich Tag für Tag vor. Sie riefen unter falschem Namen an, gaben sich als alte Freunde oder Geschäftspartner aus. Patt versuchte es als Dooleys Geliebte und Ray als der Schönheitschirurg seiner Gattin Emily.

    Immer wieder erhielten sie neue Nummern, die im Nirgendwo endeten oder wurden gleich abgewimmelt. Dieser Mann war unsichtbarer als ein Phantom, obwohl die ganze Stadt sein Gesicht kannte.

    Sie waren schon kurz davor aufzugeben, als sie ihn urplötzlich höchstpersönlich an der Strippe hatten. Halleluja! Wie zu erwarten legte Dooley sofort auf, als er hörte, dass Ray ein Makler aus South Central war.

    Klick. Mit der unterbrochenen Verbindung zerplatzten alle Zukunftspläne wie eine Seifenblase. Ray wollte doch nach Europa. Nein, er musste nach Europa und dazu brauchte er Geld.

    Zugegeben, South Central war nicht gerade die beste Adresse für Millionengeschäfte. Er hoffte jedoch, Dooley die Anonymität der Gosse schmackhaft machen zu können. Niemand würde ihn oder seine Geschäftstätigkeit hier vermuten. Keine Paparazzi, keine noblen Partner und schon gar nicht die Polizei.

    Es war der perfekte Ort für zwielichtige Geschäfte. Nicht etwa, dass Ray gerne in kriminellen Kreisen verkehrte – zumindest was das Business betraf –, aber hin und wieder musste man in Grauzonen abtauchen, wenn man am Monatsende noch etwas zu Essen im Kühlschrank finden wollte. Nichtsdestotrotz ging ihm der Arsch so langsam auf Grundeis.

    Nach diversen Versuchen, Dooley erneut zu erreichen, schickte er ihm eine Nachricht auf seinen Pager, dessen Nummer Patt aus sicherer Quelle ergaunert hatte. Nicht einmal ihm hatte sie verraten, wo sie ihre brandheißen Infos immer herbekam.

    Warum ein Immobilien-Mogul wie Jack Dooley einen veralteten Pager besaß und kein Smartphone mit Messenger-App, war ihm schleierhaft. Rays Botschaft war kurz und knapp:

    Mr. Dooley, die Upper-Class gehört Ihnen ja bereits. Wieso nicht auch der Rest? Die Straßen sind voller Geld, es ist dreckig und stinkt. Ich hebe es auf und befreie es von seinem Schmutz. Ich stelle keine Fragen. Was auch immer Sie suchen, ich finde es für Sie. 90220 (310) 603 -7849 Ray Fox, Foxray Investment & Estate

    Zwei endlos lange Wochen später klingelte das Telefon. »Dienstag 10 Uhr in Ihrem Büro.« Der Anrufer nannte keinen Namen, doch sie wussten sofort, wer es war.

    ώώώ

    Im High-Speed sprang Ray unter die Dusche. Das eiskalte Wasser rieselte aus der rostigen Brause über seinen Körper und er putzte die Zähne, während er sich mit der anderen Hand einseifte. Multitasking war gefordert.

    Er trat vor den Spiegel und probierte, sein zerknautschtes Gesicht in Form zu kneten. Vermutlich hatte er schon besser ausgesehen, gleichwohl die tiefen Augenringe und der ungepflegte Dreitagebart ihn älter wirken ließen. Dooley musste ja nicht merken, dass Ray erst Mitte zwanzig war.

    Eilig fuhr er sich durch die dunkelblonden Haare und brachte die widerspenstigen Strähnen mit etwas Gel in Form.

    Ray war ein durchtrainierter Typ, doch heute fühlte sich sein hart erarbeitetes Sixpack nicht wie Stahl, sondern eher wie Wackelpudding an. O Gott, was hatte er gestern nur wieder angestellt?

    Vielleicht war er ja nur laufen? Also joggen, so wie junge, sportbegeisterte Menschen es eben taten, um fit zu bleiben.

    Wohl kaum.

    Oder ’ne stinknormale Kneipenschlägerei – die er verloren hatte?

    Definitiv nicht.

    Hastig stopfte er noch seine Klamotten vom Vortag in die Waschmaschine. Die nagelneue Jeans war voller Löcher und mit striemigen Grasflecken übersät. Und was zur Hölle war das?

    Eine eingetrocknete Blutspur zierte das rechte Hosenbein.

    Das gute Stück würde den trendigen Used-Look in ein ganz neues Licht rücken. Mit so einem verräterischen Unikat sollte er vielleicht besser nicht mehr auf die Straße gehen.

    Folglich kramte er die Hose wieder hervor und pfefferte sie auf den Müllsack, der schon seit einer Woche im Flur herumgammelte. Er sollte dringend etwas gegen seinen Klamottenverschleiß unternehmen, wenn er nicht demnächst nackt rumlaufen wollte.

    Sowohl im Büro als auch unterwegs musste er allzeit was hermachen. Im Discounter Outfit würde man ihn wohl kaum ernst nehmen. Zumal er bereits vorgab, dort zu sein, wo er irgendwann erst mal hinwollte – ganz nach oben.

    Als er sich die Ärmel seines sauteuren George Roth Hemdes zuknöpfte, fielen ihm die Kratzer am Unterarm auf. Lange, feine Schnitte bildeten gerade Linien vom Handgelenk bis zum Ellenbogen. Es hatte sich schon eine dicke Schorfkruste gebildet, also legte er die Manschettenknöpfe bedenkenlos an.

    Spätestens am Abend wäre die Haut wieder glatt wie ein Babypopo, beschwichtigte er sich selbst.

    Noch einmal bemühte er sich, zum gestrigen Abend zurückzufinden, blieb jedoch erfolglos. Aus alter Routine wusste er hingegen, dass sich sein Gedächtnis schon bald erholen und ihm nach und nach die Erinnerungen preisgeben würde, die ihm fehlten. Bloß wollte er das überhaupt wissen?

    Seine Erinnerungen waren wie ein zerbrochener Spiegel. Die Risse und Sprünge verzerrten das Selbstbild und an den scharfen Kanten der Scherben konnte man sich verletzen.

    Nunmehr schlummerte in ihm diese innere Unruhe, welche eine böse Vorahnung auf das Geschehene sein musste.

    ώώώ

    Ray schwang sich in seinen rostigen 82er-Chevy und kämpfte sich durch den Verkehr. Was wollten nur all diese Menschen auf der Straße um diese Uhrzeit?

    »Hat denn hier keiner einen Scheißjob?«, meckerte er in den Rückspiegel mit einer Laune, die immer steiler Richtung Keller schoss. Der sonst so kurze Weg zog sich endlos in die Länge.

    »Ein Wurmloch müsste man haben«, nörgelte er weiter.

    Endlich am Büro angekommen, parkte er den zerbeulten Oldtimer dieses Mal hinterm Haus und lief wieder zum Vordereingang. Dustin Baker, der versnobte Sohn vom Bankdirektor der Union gegenüber, hatte seinen nagelneuen Volvo unmittelbar vor Rays Büro abgestellt.

    »Perfekt, Gott segne diesen Angeber!« Aber bloß nicht mit Geld – dieses verwöhnte Muttersöhnchen bekam so schon den Hals nicht voll.

    Hektisch riss er die Tür auf und stürmte hinein. Zu seinem Glück war Dooley ebenso unpünktlich wie er selbst. Rasch kramte Ray ein paar Unterlagen zusammen, riss Patt den Kaffee aus der Hand und versuchte, cool zu bleiben, auch wenn ihm das nicht so richtig gelingen wollte.

    Sein Herz pochte so laut, dass es wahrscheinlich jeder im Umkreis von einem Kilometer hören konnte. Zumindest jemand mit seinem Gehör. Ihm war flau im Magen und seine Hände zitterten, obwohl sein Blut kochte. Ob das an seiner Aufregung lag oder an dem fiesen Kater, der seine Krallen in ihn geschlagen hatte, blieb zu überlegen.

    »Du hast dich lange genug darauf vorbereitet, es wird schon gut gehen«, gurrte Patt ihm ins Ohr, während sie beruhigend seinen Nacken massierte.

    »Was, wenn er Unmögliches verlangt, wenn er irgendwelche richtig krummen Dinger abziehen will?«

    »Komm schon, jetzt mach dich nicht verrückt. Er kauft Immobilien, du vermittelst welche. Das passt wie Patricia Richmond und Manolo Blahnik

    »Manuel wer?«

    »Manolooo … ach, Männer!«, stöhnte Patt.

    »Ich wollte nicht ›Arsch auf Eimer‹ sagen, okay?«

    Ray kicherte.

    »Pass auf Schatz, du machst deine Arbeit einfach so gut wie immer, nur dass diesmal hoffentlich andere Summen dahinterstehen«, bekräftigte sie kokett und biss sich keck auf die Lippe.

    Patricia, also Patt, war ein Engel. Kurze Zeit nachdem Ray aus dem Heim für auffällige Jugendliche entlassen wurde, fand sie ihn schlafend in einer Seitengasse der Zweiundsechzigsten. Man hatte ihn an seinem 18. Geburtstag einfach vor die Tür gesetzt.

    „Herzlichen Glückwunsch Ray, du bist jetzt erwachsen. Alles Gute auf deinem weiteren Lebensweg. Und bau keinen Mist Junge", hieß es. Er hatte keine Familie, keine Freunde und auch die Stadt war ihm nach so vielen Jahren fremd geworden. So streunte er umher, ohne zu wissen, wo er hingehörte.

    Tagsüber schnorrte Ray in der Mall und nachts schlief er unter Brücken oder in verwaisten Seitenstraßen. Er verkroch sich hinter Mülltonnen und Verschlägen. Der kalifornische Winter war recht mild, wenngleich ihm Kälte in der Regel nichts ausmachte.

    Patt legte ihm zunächst 10 Dollar hin und ging, kehrte jedoch gleich wieder um.

    „Mein Junge, das ist eine gefährliche Gegend, du solltest nach Hause gehen", riet sie ihm damals besorgt. So kamen sie ins Gespräch und Ray erzählte ihr von seiner Vergangenheit. Nie sprach er freiwillig mit anderen Menschen, doch Patt strahlte eine ganz besondere Wärme aus, dass er sich ihr vollends anvertraute. Er spürte ihre Gutmütigkeit in jeder Faser seines Körpers.

    Sein Leben lang hatte er sich von fremden Menschen ferngehalten und peinlichst darauf geachtet, nichts Persönliches auszuplaudern. Und doch offenbarte er sich mit der Zeit dieser warmherzigen Frau.

    Patt lebte allein und nahm ihn bei sich auf. Sie war damals selbst gerade mal Ende zwanzig und hatte ihm wahrlich damit das Leben gerettet. Sie besorgte ihm einen Aushilfsjob in der Makleragentur, in der sie als Sekretärin angestellt war, und trat ihm regelmäßig in den Hintern, damit er in die Gänge kam. Am meisten liebte er die gemeinsamen Gespräche.

    Beinahe hatte er vergessen, wie man kommuniziert – hatte vergessen, wie man lacht. Emotionslos und ohne jegliche Gefühle, vegetierte er bis dato vor sich hin. Patt war der einzige Mensch, dem er vertraute und sie war auch der einzige Mensch, der sein Geheimnis kannte. Obwohl …, es gab da noch jemand anderen.

    Die Tür sprang auf und ein beleibter Mann im teuren Designeranzug betrat den Raum. Er hatte die wenigen vorhandenen Haare unschön nach hinten gekämmt und roch nach einer Mischung aus Tabak und aufdringlichem Parfüm.

    Dicke Schweißperlen zappelten bei jedem Schritt auf seiner Stirn und Ray wartete nur darauf, dass sie sein rundes Gesicht nieder perlen und mit einem lauten Platsch auf den Fliesen landen würden.

    Okay, bei dreißig Grad im Schatten hätte sogar ein Kaiserskorpion in so einem Anzug geschwitzt.

    »Memo an mich, Klimaanlage reparieren lassen!«, nuschelte Ray verhalten in seinen Dreitagebart.

    Prüfend sah Dooley sich um und schüttelte angewidert den Kopf. Er fühlte sich sichtlich unwohl in dem beengten Büro. Ray und Patt waren stolz auf ihr kleines Reich, was für einen Mann wie ihn wahrscheinlich nicht mehr wert war, als der Dreck unter seinen Fingernägeln. Und so perfekt manikürt konnte da keine Spur von Dreck zu finden sein.

    Im Radio unterbrachen sie das Programm für eine Sondermeldung. Im Griffith Park wurde eine männliche Leiche gefunden. Dem Anschein nach war der Typ übel zugerichtet worden. Ray erschauerte unwillkürlich und auch Patt stockte kurz der Atem.

    »Jack Dooley«, sagte der dicke Mann und grüßte mit einem kurzen Nicken.

    Mit einer Handbewegung bot Ray ihm einen Platz an und sie setzten sich in die abgewetzten Lederstühle. Lässig wühlte Ray in seiner Schublade, in der sich ein paar Projekte befanden, die er ihm präsentieren wollte.

    Dooley winkte gelangweilt ab.

    »Ich habe einen Auftrag zu vergeben und Sie wollen einen Auftrag, richtig?«

    So ein arroganter Fatzke, dachte Ray, lächelte ihn aber weiter abgeklärt an.

    »Was auch immer Sie suchen, ich bin Ihr Mann«, entgegnete er stattdessen und hoffte, dass seine Aversion ihm gegenüber nicht auffiel.

    »Gut, dann sind wir im Geschäft?«, hakte Dooley voreilig nach.

    »Moment, um welche Art Auftrag handelt es sich denn genau?« Irgendetwas stimmte mit dem Kerl nicht, witterte Ray, dessen unsichtbaren Alarmglocken sich plötzlich meldeten. Er wurde misstrauisch.

    »Ich dachte, Sie sind der Typ Geschäftspartner, der keine lästigen Fragen stellt, Mr. Fox?« Er betonte Rays Nachnamen wie einen pharaonischen Fluch. »Ich werde Ihnen die Details in ein paar Tagen zukommen lassen.«

    Rays Verstand warnte ihn, schrie ihn an, doch sie brauchten das Geld. Schon seit Wochen hatte er die Miete für sein Apartment nicht mehr bezahlt und auch Patt konnte mal wieder etwas Bargeld gebrauchen. Ein Kopfnicken signalisierte seine Zustimmung.

    Dooley stand auf und streckte ihm seine verschwitzte Hand entgegen, um den Vertrag zu besiegeln.

    Ray zögerte, denn er hatte da so eine Ahnung, was gleich passieren würde. Die Luft flimmerte und ihm wurde heiß. Sein Körper glühte. Patt sah zu ihm rüber, schüttelte den Kopf und ihre Lippen formten sich zu einem stummen Nein. Doch es war zu spät.

    Ihre Hände berührten sich und schon floss der vertraute Schmerz durch seinen Körper.

    Es brannte wie Feuer und seine Lungen weigerten sich, tief zu atmen. Ein heftiges Pochen ließ ihn innerlich vibrieren. Es war sein rasendes Herz, das gegen seine Rippen schlug, beim Versuch aus der Brust zu springen. Binnen einer Sekunde liefen die Bilder durch Ray hindurch … 

    Er sah Dooley. Dieser saß mit seiner Frau und den Zwillingen am reich gedeckten Frühstückstisch. Er küsste Emily und strich den Mädchen sanft durch die Haare. Dooley nahm seine schwarze Aktentasche und verließ die Veranda durch den überwältigend schönen Garten.

    Plötzlich wieder dieser Schmerz, jetzt in seiner vollen Intensität. Quälend langsam brannte sich ein Strom aus flüssigem Feuer einen Weg tief in Rays Verstand. Verkrampft presste er das letzte Quäntchen Luft aus seinem Brustkorb.

    Jetzt bloß nicht umkippen, du Waschlappen, ermahnte er sich selbst in Gedanken und konzentrierte all seine Kräfte. Dann boten sich ihm neue Geschehnisse …

    Dooley stand in einem unterirdischen Verlies. Die modrige Luft war stickig und schwer. Hier war es nass, kalt und es roch nach abgestandenem Blumenwasser. Wie Diamantenstaub glitzerte die Feuchtigkeit auf den felsigen Wänden.

    Ray drehte sich um. Fenster gab es keine. Nur die rostigen Gitterstäbe, die den Raum zu einem Gefängnis machten, sorgten für ein wenig Luftzirkulation. Im Zentrum der mittelalterlichen Zelle befand sich ein Schlafplatz, wenn man das so nennen konnte. Er war weder bezogen noch in sonst einer Weise ein Bett im herkömmlichen Sinn. Ein versifftes Stück Schaumstoff diente als Basis auf einem von Nässe aufgequollenen Lattenrost.

    Durch Dooleys Augen sah er ein Mädchen. Sie hatte kaum die Pubertät erreicht und hockte nackt und kümmerlich auf der provisorischen Unterlage. Ihre Haut war so schmutzverschmiert, dass man nicht mal mehr ihre ethnischen Wurzeln erkennen konnte.

    An ihrer linken Schulter entdeckte Ray eine Verletzung. Frisches Blut rann in zwei feinen Linien ihre kaum vorhandenen Brüste hinab. Die Haare hingen ihr verfilzt ins Gesicht und waren vom Blut ganz verklebt.

    Dooley kniete auf dem Boden. Mit runter gelassener Hose sprach er zu ihr. Was er sagte, konnte Ray nicht verstehen. Ruckartig riss der Mistkerl an ihrem Bein und versuchte, sie zu sich herunterzuziehen.

    Das Mädchen strampelte und wehrte sich, schlug Dooley ins Gesicht, spuckte ihn an. Was für eine kleine Kämpferin, dachte Ray. Ihre Lippen bewegten sich, während es für Ray weiterhin ein Stummfilm blieb.

    Plötzlich griff Dooley nach ihrer kleinen Hand und steckte sie mit Gewalt in seine Hose. Sie blickte kurz auf und wich dann so schnell zurück, dass Ray für eine Sekunde die Verbindung verlor. Gleich darauf hatte er wieder vollen Empfang.

    Dooley ließ von ihr ab und knöpfte sich die Hose zu. Während er aufstand, schleuderte er ihr einen Geldschein entgegen. An ihrer blutenden Schulter blieb das knittrige Papier haften wie eine Briefmarke, die man angeleckt und auf ein Kuvert geklebt hatte. Dann machte er kehrt und ließ das ängstliche Kind allein.

    Dooley ließ seine Hand los und hatte nichts bemerkt. »Dann bis bald, Mr. Fox.« Er wandte sich ab und verließ das Büro.

    Dieses Schwein!

    Es dauerte immer nur den Bruchteil einer Sekunde und Ray hatte alle Bilder in seinem Kopf. Bilder, welche die moralisch schlimmsten Taten derer, die er berührte, widerspiegelten. Bei besonders durchtriebenen Menschen sah er ihr ganzes verdorbenes Leben binnen weniger Augenblicke. Wie bei einem Horrorfilm im Schnelldurchlauf war er gezwungen, sich diese Widerwärtigkeiten anzusehen. Er hatte diese Gabe schon sein ganzes Leben. Es passierte nicht immer, aber vielleicht hatten manche Menschen einfach ein reines Gewissen.

    Patt sagte immer, es wäre ein Geschenk Gottes, für das er dankbar sein sollte. Für ihn hingegen war es ein unbarmherziger Fluch. Ray wollte dieses Geschenk nicht, er hasste es abgrundtief.

    Kapitel 2

    Pasadena, 2003-01-26

    Er war wieder da. Dieser schreckliche Traum, der mich jedes Mal schonungslos in jene Nacht zurückversetzt, keimte von Neuem auf. Ständig vergesse ich Dinge, habe Lücken in meiner Erinnerung. Tiefe Schnitte, die nicht mehr verheilen wollen. Aber die besagte Nacht kann ich nicht vergessen – verdrängen vielleicht, aber niemals auslöschen.

    Ich hasse diesen Ort, das war damals mein erster Gedanke, als ich begriffen hatte, wo ich da überhaupt gelandet war. Ich hasse diese Kinder, war mein Zweiter gewesen. So gut es ging versuchte ich, mich von den anderen fernzuhalten. Das machte meine Position als verstörter Sonderling nicht gerade besser. Und diese Rolle war mir gewiss, denn die teuflischen Visionen, die mir in die Wiege gelegt worden waren, verdammten mich in eine Schublade, aus der ich nicht mehr herauskam. Ich hatte keine Freunde, ich wusste ja nicht einmal, wer ich überhaupt war. Als hätte sich ein Spalt im Boden aufgetan, kam ich aus dem Nichts und wurde in die Welt hineingespuckt. Man erzählte mir, meine Eltern wären bei einem Brand in unserem Haus in L.A. ums Leben gekommen. Nähere Informationen gab man mir keine, nicht mal ihre Namen wollte man mir verraten. Die einzigen Erinnerungen, die mir aus meiner Vergangenheit blieben, waren eine verkohlte Actionfigur und eine antike Taschenuhr – angeblich die Uhr meines Vaters. Die goldene Rückseite schmückte eine Gravur in wunderschön geschwungener Schrift. Die Buchstaben waren so verspielt ineinander verschlungen, dass man denken konnte, die Sprache wäre aus einer anderen Welt. „Dein Blut zeigt dir den Weg, wenn du bereit bist, ihm zu folgen. Das antiquarische Schmuckstück lief zwar nicht mehr, doch obwohl sie sehr alt zu sein schien, befand sie sich in einem tadellos gepflegten Zustand und glänzte wie ein nagelneuer Kupferpenny. Die anderen Kinder waren nicht sonderlich nett zu mir gewesen. Viele waren um einiges sadistischer als die Erzieher selbst und schikanierten die Schwächeren auf eine Art und Weise, die ich am liebsten vergessen hätte. Vor 4 Jahren, in der Nacht zum 4. Juli, hatten sie Tommy Wilson ans Bett gefesselt. Er war gerade mal acht Jahre alt und gleich nach mir das schwächste Glied in der Kette. Wobei die Schwäche eines Einzelnen nicht unmittelbar am Alter gemessen wurde. Die interne Hackordnung ging nämlich streng nach dem Aggressionspotenzial und der jeweiligen Gewaltbereitschaft des körperlich Überlegeneren. Tommy war ein netter Junge. Er war hilfsbereit und steckte nie in Schwierigkeiten. Genau wie ich versuchte er, einfach so wenig wie möglich aufzufallen, um die Jahre unbeschadet zu überstehen oder besser noch, eine Familie zu finden, die ihn adoptieren würde. Mit seinen frechen Augen und den rosigen Wangen hätte er wirklich gute Chancen gehabt. Aber war man einmal im Kreislauf des Systems gefangen, gab es nur für die Wenigsten ein Zurück in ein normales Leben inmitten einer fürsorglichen Familie. Im Heim sollte man sich besser beeilen mit dem Erwachsenwerden. Wie eine junge Antilope musste man schnell auf die Beine kommen und in rasender Geschwindigkeit wachsen, wenn man den hungrigen Löwen entkommen wollte. Doch Tommy sollte es diesmal nicht gelingen. Er weinte bitterlich und strampelte heftig mit den Füßen, was seine Fesseln nur noch fester zusammenzog, bis die Sehnen an seinen Fäusten ganz weiß hervortraten. Zweifelsohne, er hatte Todesangst. Immer wieder schlugen sie ihn mit einem Gürtel und amüsierten sich dabei prächtig. Das laute Klatschen des harten Leders hallte in dem spärlich eingerichteten Zimmer wie der Peitschenknall eines Dompteurs im Zirkus. Umso lauter er brüllte und bettelte, desto mehr Freude bereitete ihnen dieses makabre Spiel. Sein Blut drang scharlachrot durch den Schlafanzug, an den Stellen, wo die Haut unter den Gürtelschlägen aufplatzte wie eine heruntergefallene Melone. Nacheinander warfen sich diese kleinen Monster über ihn und sprangen auf Tommy herum. Seine Augen drehten sich nach innen, bis man nur noch das Weiße sah. Er schnappte rasselnd nach Luft, würgte. Sie machten weiter. Ein Knacken. Noch einmal. Etliche Male knackte es in Tommys kindlichem Körper. Die Geräusche, die er ausstieß, während er vergebens um Sauerstoff kämpfte, wurden dann von einem röchelnden Gurgeln abgelöst. Dunkler Schaum quoll aus seinem weit geöffneten Mund. Er versuchte zu sprechen, konnte es aber nicht. Anstatt von ihm abzulassen, lachten sie und droschen abermals auf ihn ein. Ich rief um Hilfe, schrie sie an, sie sollen aufhören, doch das stachelte diese schrecklichen Kinder nur noch mehr an. Kevin Tall, dessen Name sein bulliges Erscheinungsbild unterstrich, war der Schlimmste. Immer schon. Seine abscheuliche äußerliche Erscheinung war nichts im Vergleich zur Hässlichkeit in seinem Inneren. Seine Seele war so schwarz und klebrig wie Teer. Pausenlos prügelte Kevin auf den fast bewusstlosen Jungen ein. Er nahm den Kippenstummel aus seinem Mund und brandmarkte damit Tommys winzige Stirn mit seinem persönlichen Sklavenmal. Wenngleich dieser schon viel zu weit weg war, um es noch zu registrieren. Mir wurde schlecht. Kaum bemerkte ich, wie ich auf den Boden erbrach und mich in einer Ecke des Zimmers zusammenrollte. Die Hände hatte ich fest auf meine Ohren gedrückt, um Tommys Keuchen zu entfliehen. Die Zeit stand still – eingefroren. Ich sah nur noch Blut, überall um mich herum. Es war die Farbe aus meinen Albträumen. Ein Rot, das mir seit jeher Angst machte – welches mich, seit ich denken konnte, verfolgte. Kevin und seine Jungs lachten immer lauter, während Tommys Hecheln allmählich leiser wurde. Dann war es ruhig. Es war die unheimliche Stille im Auge eines Tornados. Leicht und schwerelos betäubte sie meine Qualen. Da wusste ich, dass Tommy keine Schmerzen mehr hatte. Ich wusste, er war gegangen und ich war froh darüber. Dankbar, dass dieser grauenhafte Todeskampf endlich ein Ende gefunden hatte. Und ich hasste mich dafür. Die Jungs rannten aus dem Zimmer und ließen mich mit Tommy allein. Auf wackligen Beinen stolperte ich zu seinem Bett. Die festen Knoten der Wäscheleine ließen sich nicht öffnen. Bei jedem meiner Versuche, sie zu lösen, schnitt sie noch tiefer in sein Fleisch. Ich schüttelte ihn, flehte ihn an: „Aufwachen Tommy, wach bitte auf! Natürlich rührte er sich nicht. Ein lauter Knall. Fast wäre die Tür aus den Angeln geflogen, als einer der

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