Das russische Rätsel: Roman
Von Sabine Huttel
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Buchvorschau
Das russische Rätsel - Sabine Huttel
In der Nacht vor der Reise hatte Liane nicht geschlafen. Am Morgen ging ihr Atem flach, ihr linkes Augenlid zuckte und sie schluckte Luft. Das kam vor, wenn sie sehr nervös war. Es war ihr ein wenig übel davon. Der Rollenkoffer stand schon im Flur, gepackt hatte sie am vergangenen Abend. In der Nacht waren ihr immer wieder Dinge eingefallen, die sie vergessen hatte und die ihr plötzlich so lebenswichtig vorkamen, dass sie mehrmals aufgestanden war, um sie noch in den Koffer zu stecken: ein fiebersenkendes Medikament, ein Brillenputztuch, eine Schirmmütze gegen die Sonne. Jetzt war es fünf Uhr, draußen lärmten die Vögel. Wie schön wäre es, hierbleiben zu können, ein wenig im Garten zu arbeiten, solange die Luft noch kühl und angenehm war …! Noch einmal prüfte sie ihre Papiere auf Vollständigkeit. So sorgfältig sie auch packte, immer blieb das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Kontrollzwang, dachte sie beim Zähneputzen, ich werde alt. Im LED-Licht am Spiegel fand sie sich besonders grau und zerknittert.
Das Taxi, zehn Minuten zu früh, wartete schon vor ihrer Tür, sie sah es durchs Küchenfenster. Rasch zog sie ein paar Scheiben Knäckebrot aus der Packung, wickelte sie in Alufolie und steckte sie ein.
Sie war zeitig am Flughafen, die Sicherheitskontrolle lief reibungslos. Am Gate war sie die erste. Ringsum verlassene Schalter, schwarze Anzeigetafeln. Sie setzte sich zum Warten. Noch wäre Zeit zum Umkehren, dachte sie.
Liane liebte das Reisen nicht. Ihr fehlte ein funktionsfähiges Filtersystem, das anderen hilft, sich gegen die Außenwelt in zweckmäßiger Weise abzuschirmen. Wenn sie mit jemandem in einem gut besuchten Café saß, hörte sie nicht nur, was ihr Gegenüber sagte. Gegen ihren Willen verfolgte sie gleichzeitig, worüber die Leute an den Tischen in der Nähe sich unterhielten, spürte, wie diese Leute zueinander standen, registrierte Untertöne, Stimmungen, Krisen und Konflikte. Immer hörte, sah, roch sie mehr als sie wollte. Das war anstrengend und lästig, und es führte früher oder später zu Kopfschmerzen, die sie zwangen, aus dem Leben zu verschwinden in einen dunklen, stillen Raum, wo niemand sie stören konnte, so lange, bis es vorüber war. Reisen waren potenzierte Reizüberflutung: ein anderes Klima, eine fremde Umgebung, ständig neue Menschen, auf die man sich einstellen musste. Sie fand das interessant und vertrug es schlecht. Je älter sie wurde, desto schwerer fiel es ihr, sich zu einer Reise zu entschließen. Sie gestand es sich ungern ein, aber die tägliche Routine in der Bibliothek bekam ihr gut. Dort war es ruhig, die Arbeitsabläufe waren immer die gleichen, die Fluktuation im Kollegenkreis gering, viele der regelmäßigen Benutzer ihr seit langem bekannt. Es machte ihr Spaß, Veranstaltungen zu organisieren, Vorträge, Lesungen, Vorlesestunden für Kinder, aber die finanziellen Mittel dafür waren knapp geworden, es kam nicht allzu häufig vor. Im Gleichmaß der Arbeitstage waren die aufregendsten Momente die Pausen, in denen sie las. In einer Ecke sitzen, in der stillen Wärme der Bibliothek, mit einer Hefeschnecke aus der Bäckerei von gegenüber, einem Becher Kaffee und einem Buch, das Einblicke in andere Welten eröffnete, das man aber jederzeit zuklappen konnte, wenn man genug davon hatte – das war ihre Art zu reisen. Am Arbeitsplatz waren es meist Neuerscheinungen, in denen sie las, zu Hause aber auch immer wieder die altbekannten Werke von Flaubert, Dostojewski, Virginia Woolf, die ihr unerschöpflich vorkamen, und immer wieder Kafka.
Nun also eine echte Reise, und ausgerechnet nach Russland.
Es muss ein Samstag sein, denn der Vater ist nicht im Amt. Er sitzt nebenan im Wohnzimmer. Die Mutter ist beim Friseur, die Schwester beim Tanztraining, der Bruder mit dem Fahrrad unterwegs. Lili sitzt auf dem Boden im Kinderzimmer, das zugleich das Nähzimmer der Mutter ist. Sie hat eine große Tüte voll Kastanien gesammelt. Mann, Frau, Kinder, eine ganze Familie will sie aus den Kastanien machen, auch Gespenster, Kastaniengespenster, denn die gehören dazu. Aus der Schublade im Flur holt sie eine Schachtel mit Streichhölzern. Sie wählt eine dicke Kastanie aus, die der Bauch des ersten Kastanienmanns werden soll, und will ein Streichholz hineinstecken. An der glatten Kastanienhaut rutscht das Streichholz ab. Lili legt die Kastanie auf den Boden und versucht mit beiden Händen das Streichholz hineinzubohren, aber die Kastanie ist hart. Fünf Streichhölzer rutschen ab und zerbrechen, eins nach dem anderen. Lili verliert die Geduld, sie will endlich einen dicken Kastanienmann sehen. An der Nähmaschine steht ein Nähkasten, dessen Fächer man nach beiden Seiten hin auseinanderziehen kann. Hier gibt es alles. Schnell findet sie eine Fädelnadel, an einem Ende spitz, am anderen mit einem großen Fädelöhr, das man gut anfassen kann. Lili sticht die Fädelnadel in die Kastanie, zieht sie wieder heraus, steckt ein Streichholz hinein, sucht eine kleinere Kastanie für den Kopf aus, sticht wieder ein Loch, und in den Kastanienmannbauch noch zwei Löcher für die Beine und zwei für die Arme. Da leuchtet Blut in ihrer Hand. Jetzt plötzlich tut es auch weh. Sie springt auf und läuft ins Wohnzimmer. Am Fenster sitzt der Vater, vor ihm auf dem Schreibtisch liegt eine aufgefaltete Zeitung. Lili hält die verletzte Hand hoch und hofft auf Hilfe, auf tröstende Worte, auf irgendwas – aber der Vater hört und sieht sie nicht. Seine Augen sind offen, er blickt ins Leere, als wäre sie gar nicht da. Sie will ihn anreden, ihn anfassen und wachrütteln, aber sie traut sich nicht, zu unheimlich ist er, wie er dort sitzt, reglos, erstarrt oder erfroren, erdrückt von Traurigkeit. Sie macht kehrt und geht ins Bad, um Wasser über die Wunde laufen zu lassen, drückt Klopapier auf die blutende Stelle. Zum Vater wagt sie sich nicht wieder hinein, zu sehr fürchtet sie sich vor seinem Anblick. Es ist auch gar nicht nötig. Lili ist tapfer, und die Wunde ist nur ein kleiner Ritz. Die Mutter klebt ein Pflaster drauf, als sie nach Hause kommt. Sie lächelt und riecht nach Friseur.
Der Name Djegtjarka hatte ihr sofort einen Schrecken eingejagt. Zum ersten Mal hatte sie ihn auf einem hauchdünnen Pauspapier gefunden, einem mit Schreibmaschine geschriebenen Kohledurchschlag, der zahllose kleine Löcher hatte. Djegtjarka Nr. 476 stand da, die beiden Buchstaben a herausgestanzt von der Wucht der Typenhebel. Flüsternd erforschte sie die drei Silben mit Gaumen und Zunge. Durch diesen Namen und diese Nummer schien plötzlich Konturen zu bekommen, was lange Zeit im Dunkeln gelegen hatte. Sie konnte das dünne Blatt nicht ruhig halten, ließ es los, um es nicht versehentlich zu zerreißen, nahm die Brille ab und holte sich ein Glas Wasser, mit dem sie ziellos durch die Wohnung schlich. Waren offene Fragen und verschwommene Befürchtungen nicht doch angenehmer als Gewissheiten? Einen Moment lang war sie versucht gewesen, das Blatt zu zerknüllen und wegzuwerfen, um den Namen wieder zu vergessen.
Stattdessen hatte sie gegoogelt. Djegtjarsk, früher Djegtjarka, bedeutete Teerstadt. Es war eine Stadt im Ural, rund tausend Kilometer östlich von Moskau, in der Nähe von Jekaterinburg, an der Grenzlinie zwischen Europa und Asien. Und sie hatte ihrem Freund G. davon erzählt, der vorübergehend in Moskau lebte. Ohne G. hätte Liane sich zu dieser Reise nicht entschlossen. Sie kannte sonst niemanden, der fließend Russisch sprach und bereit gewesen wäre, mit ihr in den Ural zu fahren. Sie wäre auch nicht auf den Gedanken gekommen, so jemanden zu suchen. Im Grunde war es von Anfang an G.s Idee gewesen. Am Telefon hatte sie den perforierten Kohledurchschlag erwähnt, und sofort hatte er ihr angeboten, sie nach Djegtjarsk zu begleiten. Ich kann alles für dich organisieren und dir alles übersetzen, so eine Gelegenheit wirst du vielleicht nie wieder haben, hatte er gesagt. Sie hatte den Vorschlag absurd gefunden und spontan darüber gelacht, bis sie merkte, dass es ihm ernst war. Dann hatte sie gezögert. Die Reise kam ihr zu weit, zu teuer, zu strapaziös vor und – ja, auch zu riskant. Man las in den Zeitungen nichts Beruhigendes über Russland, Liane war nicht mehr jung, und sie sprach kein Wort Russisch. Aber je länger sie sich sträubte, desto mehr schien G. sich für die Idee zu begeistern, und G.s Begeisterung war schon immer ansteckend gewesen, ganz gleich, ob sie sich auf Tschechows Erzählungen, auf schottischen Regen oder auf Kartoffelklöße bezog. Auch dieses Mal war es so. Sie schob ihre Bedenken beiseite und beschloss, ihren Sommerurlaub für diese Reise zu verwenden, sprach mit G. Termine ab, buchte Flüge, beantragte ein Visum. Ihre plötzliche Abenteuerlust machte Eindruck auf ihre Freunde. Auch ihr Hausarzt nannte sie mutig, so ganz allein, ohne Reisegruppe!, und die jungen Kolleginnen in der Bibliothek hatten sie überrascht angesehen, beinahe ein wenig neidisch.
Ihr Magen grummelte, sie holte das Knäckebrot heraus. Von wegen Abenteuerlust, dachte sie, in Wahrheit werde ich von Jahr zu Jahr ängstlicher. Bis zum Schluss hatte sie insgeheim gehofft, irgendetwas würde diesen Aufbruch ins Ungewisse, ins nicht Geheure, ins Bedrohliche doch noch verhindern. Djegtjarsk. Wer fährt denn da hin?!
Das Knäckebrot klebte am Gaumen. Sie dachte an einen Kaffee und blickte sich um. Nach wie vor kein Mensch in Sicht, die Anzeigetafel am Schalter A32 leer. Dabei waren es nur noch zwanzig Minuten bis zum Abflug! Etwas stimmte hier nicht. Ihre Bordkarte steckte in der Jackentasche. Dort stand „B32"! Sie fluchte, griff nach ihrem Rollenkoffer, rannte den langen Weg zurück bis zur Sicherheitskontrolle und von dort aus einen noch viel längeren in den entlegenen B-Trakt. Das kann ja heiter werden, dachte sie, wenn ich noch nicht mal mit einem deutschen Flughafen zurechtkomme!, erreichte abgehetzt das Gate 32 und war bei den letzten, die durch den Blech-Schlauch zur Gangway eilten und das Flugzeug bestiegen. Wenige Minuten später der Abflug.
Sie atmete auf. Nachdem sie sich so hatte anstrengen müssen, um den Flug noch zu erwischen, freute sie sich nun doch, unterwegs zu sein. Die Sonne schien. Die Stewardess lächelte. Mit einem Mal war Liane hellwach und beinahe reiselustig.
Neben ihr saß eine junge Frau, die ein dickes Notenheft auf den Knien liegen hatte, einen Klavierauszug offenbar. Es musste etwas Barockes sein, dem Notenbild nach zu urteilen, und es weckte Lianes Neugier, die ein wenig Geige spielen konnte und seit vielen Jahren in einem Chor sang. Aber sie hatte sich vorgenommen, während des Fluges Russisch zu lernen, was dringend nötig war, also fing sie kein Gespräch an, sondern holte ihr Russisch-Wörterbuch und ihr Vokabelheft heraus.
Viel Zeit war ihr nicht geblieben, um die Reise vorzubereiten. Mit CD und Sprachführer hatte sie sich auf die Schnelle ein Minimum an Vokabeln beizubringen versucht, bitte, danke, die Zahlen. Sie hatte zwei Flugtickets gekauft, Düsseldorf – St. Petersburg, Moskau – Düsseldorf. Außerdem hatte sie mit Hilfe eines Osteuropa-Reisebüros zwei Übernachtungen für G. und sich in Jekaterinburg gebucht. Von dort aus gab es angeblich einen Bus nach Djegtjarsk. Ihr Visum war gerade noch rechtzeitig angekommen. Um alles andere hatte G. sich gekümmert. Im Netz hatte sie außer einem kurzen Wikipedia-Artikel nur einen einzigen Text über die Teerstadt gefunden, leider in russischer Sprache. Eine Übersetzungsmaschine hatte Folgendes ausgeworfen:
Wenn am Ende dieser Reise werden Sie wollen, um zu baden, wickeln Sie den See Izhbulat. Seine Schlamm-Sapropel nicht schlechter. Und der Strand ist gut. Lake of the Küstenstreifen ist durch Privatpersonen vermietet. Diese laufen in den verwilderten und sterbenden See Karpfen und Graskarpfen, Teich und gegen die Änderung – sie suchen nach dem Strand. Am Ufer ist eine leistungsfähige Brechanlage, und die Klarheit des Wassers ist schlecht. Aber Barsche und Krebse gefallen sind, sie zu reproduzieren …
Dieser Unsinn faszinierte sie. G., dem sie den vollständigen Text auf Russisch geschickt hatte, schrieb ihr jedoch, für ihre Zwecke biete er nichts. Auch er, der auf russischen Seiten gesucht hatte, fand kaum etwas über Djegtjarsk. Eine Luftaufnahme der Stadt bekam sie von ihm, auf der ein paar Holzhäuser zu sehen waren, verstreut in einer Wiesenlandschaft, ähnlich den Sennhütten auf einer Schweizer Alm. Keine Spur von Schlamm-Sapropeln und Brechanlagen.
Sie blätterte in ihrem Sprachführer, um die „nützlichen Redewendungen" zu wiederholen. Bitte geben Sie mir einen Kaffee! Wo finde ich Toilettenpapier? Meine Familie lebt in Wuppertal. Ich wurde überfallen. Ich wurde ausgeraubt. Du gefällst mir. Hast du ein Kondom? Möchtest du mit mir schlafen? Nein, heute nicht. Hau ab, lass mich in Ruhe! usw. Man hatte ihr diesen Sprachführer als besonders praktisch empfohlen. Inzwischen ärgerte sie sich darüber, dass die Dialoge und die meisten Vokabeln nur in Lautschrift abgedruckt waren, nicht in kyrillischer Schrift. Ich muss doch Schilder lesen können, Straßenschilder beispielsweise, dachte sie, übte das russische Alphabet und begann, in ihrem Wörterbuch die Vokabeln nachzuschlagen und sie in kyrillischer Schrift neben der Lautschrift einzutragen.
Da sprach ihre Nachbarin sie an. Sie lerne Russisch? Ob sie in St. Petersburg Urlaub machen wolle? Liane erzählte ihr, eigentlich wolle sie nach Moskau. Dort lebe ein Freund, ein Brite, der an der Moskauer Universität arbeite. Da er jedoch gerade in St. Petersburg sei, um eine Gruppe ausländischer Konferenzteilnehmer zu betreuen, werde sie ihn dort treffen, mit der Gruppe eine kurze Schiffsreise zu den Walaam-Inseln unternehmen und dann mit dem Zug von St. Petersburg nach Moskau fahren.
Also machen Sie dann Urlaub in Moskau?
Nein, auch nicht, sagte Liane, von Moskau aus will ich weiterfahren in den Ural, um die Stadt Djegtjarsk zu besuchen.
Von Djegtjarsk hatte ihre Nachbarin noch nie gehört.
Das ist die Stadt, erklärte Liane, in der mein Vater in Kriegsgefangenschaft war, vier Jahre lang.
Die junge Frau schlug ihr Notenbuch zu. Hat Ihr Vater Ihnen etwas erzählt über seine Zeit in diesem Lager?
Liane schüttelte den Kopf. Als ihr Vater noch lebte, habe sie ihn danach gefragt, aber er