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Verborgen: Das Vermächtnis eines Volkes
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eBook368 Seiten4 Stunden

Verborgen: Das Vermächtnis eines Volkes

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Über dieses E-Book

»... vielleicht liegt in diesen Wäldern etwas verborgen, etwas, das nicht gefunden werden will. Etwas, das schon sehr lange hier ist und das diesem Ort ... ein gewisses Potenzial verleiht ...«

Doch was will nicht gefunden werden?
Welches Geheimnis verbirgt sich in den Wäldern rund um Rothenburg ob der Tauber?

Die Schriftstellerin Lisa Stark kämpft noch immer mit dem Verlust ihrer Familie, als ihr Studienfreund Chris wieder in ihr Leben tritt und ihre Gefühle durcheinanderwirbelt. Doch warum taucht plötzlich ihr verstorbener Mann in ihren Träumen auf und warnt sie vor einer großen Gefahr? Wer oder was hat es auf ihr Leben abgesehen?
Leider bleibt Lisa nur wenig Zeit, um das Geheimnis des Waldes, von dem ihr Mann sprach, zu lüften und die Puzzleteile zusammenzusetzen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Juni 2022
ISBN9783985280117
Verborgen: Das Vermächtnis eines Volkes

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    Buchvorschau

    Verborgen - Kristin Kox

    Realität und Fiktion

    Verehrte Leser,

    dieses Buch enthält eine erfundene Geschichte, die in dem überaus realen Rothenburg ob der Tauber im Jahr 2011 spielt. Die Rothenburg-Liebhaber unter Ihnen werden zweifellos viele Details des Schauplatzes wiedererkennen, und auch der geschichtliche Hintergrund basiert zu einem großen Teil auf belegten Fakten. An einigen Stellen jedoch habe ich mir die Freiheit genommen, alternative Fakten zu verwenden, wo es der Verlauf der Geschichte erforderlich machte. Ich bitte Sie, mir dies zu verzeihen.

    Weiterhin handelt es sich bei allen im Text erwähnten Personen um reine Fantasieprodukte. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Personen sind nicht beabsichtigt.

    Ich wünsche Ihnen angenehmes Lesen,

    Kristin Kox

    Verborgen – Das Vermächtnis eines Volkes

    1

    Hätte Lisa auch nur im Entferntesten geahnt, welche Ereignisse sie an diesem schwülwarmen Sommerabend in Würzburg in Gang setzte, sie wäre auf dem Absatz umgekehrt. Doch sie hatte keine Vorahnung. Diesmal nicht.

    Sie verspürte ein leichtes Unbehagen bei dem Gedanken daran, was sie hinter dieser Tür erwartete, doch damit hatte sie gerechnet. Und sie hatte sich vorgenommen, sich diesem Gefühl zu stellen. Der heutige Abend war ein wichtiger Meilenstein in ihrem Kampf, zurück ins Leben zu finden.

    Ihr Unbehagen verstärkte sich, als sie die kühle Messingklinke herunterdrückte und das helle Klingeln eines Glöckchens ertönte. Ihr Instinkt befahl ihr, sich umzudrehen und wegzulaufen – schnell, so schnell du kannst, ehe es zu spät ist –, doch Weglaufen kam nicht infrage. Sie würde es durchstehen, das hatte sie sich vorgenommen. Daher ging sie mit weichen Knien und einem flauen Gefühl im Magen, doch erhobenen Hauptes, hinein. Sie achtete nicht auf ihren Instinkt, auf diese leise, aber hartnäckige Stimme in ihrem Inneren, die sie warnte, sie drängte umzudrehen und wegzurennen.

    Manchmal muss man eben die Zähne zusammenbeißen und sich überwinden. Sie schloss die Tür hinter sich und ließ damit die Welt, in der sie sich so lange verkrochen hatte, hinter sich zurück. Eine Welt, deren Anonymität ihr Schutz geboten hatte.

    Das Erste, was Lisa wahrnahm, war der vertraute, angenehme Geruch nach Papier und Druckerschwärze, der von den Büchern ausging. Sie blieb einen Moment stehen und sog den Duft ein, während sie versuchte, das nervöse Flattern ihres Magens zu ignorieren. Dann blickte sie sich suchend um. Sie stand in einer großen, gepflegten Buchhandlung. Die Mitte des Raumes wurde von einem halbhohen, quadratischen Tisch eingenommen, auf dem dekorativ die Neuerscheinungen der Saison aufgestellt waren. Von diesem Blickfang aus verliefen hohe Regale radial in die Ecken des Ladens und teilten den Verkaufsraum in gemütliche Nischen. Am rückwärtigen Ende befand sich eine breite Kassentheke und gleich dahinter ein schmaler Durchgang. Direkt darüber wies ein dezentes Schild darauf hin, dass dies der Weg zum Lesesaal war.

    Lisas Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie wirklich bereit dafür war. Alles in ihr sträubte sich dagegen. Sie drehte den Kopf und warf einen sehnsüchtigen Blick zur Eingangstür. Die Antwort lag auf der Hand. Nein, sie wollte definitiv nicht. Sie wollte nicht allein in diesen Saal gehen, vor ein Publikum treten und zu all diesen fremden Menschen sprechen. Und sie wollte keine Fragen beantworten müssen – vor allem das nicht. Doch Lisa wusste auch, dass es genau das war, was sie jetzt tun musste: sich ihrer Angst stellen. Sie musste, und ein kleiner, hartnäckiger Teil von ihr wollte tatsächlich, wieder in der Öffentlichkeit sprechen. Sie wollte das hier schaffen, und ihr war klar, dass es umso schwieriger werden würde, je länger sie diesen Moment aufschob. Erneut wandte sie sich dem Durchgang zu. Mach einen Schritt nach dem anderen. Als sie tief Luft holte und sich sammelte, wurde sie von einem hellen Aufschrei aus ihren Gedanken gerissen.

    »Da, Mama! Schau. Das da!«

    Reflexartig drehte sich Lisa in die Richtung, aus der die Kinderstimme an ihr Ohr gedrungen war. Paul! Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht. Doch es verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Nein, das kann nicht sein. Verstört sah sie sich um. Dann erblickte sie die Quelle des Ausrufes.

    In der Ecke links von ihr, aus deren Regalen ihr »Pu der Bär«, »Der kleine Rabe Socke« und zahlreiche weitere Kinderfiguren entgegenlachten, zupfte ein Junge mit verstrubbeltem blonden Haar und leuchtenden Augen aufgeregt an der Bluse einer großen, ebenfalls blonden Frau.

    Lisa erstarrte in ihrer Bewegung. Der Junge war etwa vier Jahre alt. Aufgeregt hüpfte er vor seiner Mutter auf und ab. Das Strahlen in seinem Blick nahm Lisa gefangen. Er war so jung, so wunderschön und so lebendig, dass es Lisa einen schmerzhaften Stich durch die Brust jagte. Es traf sie so unvermittelt, dass sie beinahe laut aufgeschrien hätte.

    Doch ihre Lippen blieben geschlossen, und ihr Aufschrei verhallte ungehört in ihrer Kehle. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie wandte sich rasch ab. Nicht jetzt, nicht hier, gebot sie sich streng. Sie flüchtete in den nächsten Gang und drängte mit aller Gewalt das Bild des Jungen zurück. Ihr Atem ging zu schnell, und die Luft, die sie in ihre Lunge sog, fühlte sich giftig an. Seit dem Unfall waren etwas mehr als sieben Monate vergangen. Eine lange Zeit, doch in diesem Moment schien Zeit keine Rolle zu spielen. In diesem Moment schien es Lisa, als sei immer noch Herbst, ein nie enden wollender, eisgrauer Novembertag. Der Tag, an dem Lisas Leben zerbrochen war.

    Die aufkeimende Erinnerung drohte sie zu überwältigen, und Lisa griff wahllos nach dem ersten Buch, das ihr ins Auge fiel. Sie lenkte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Titel: »1001 Kochrezepte aus aller Welt«. Dann schlug sie eine zufällige Seite auf und begann angestrengt, ein Rezept für Gemüsebratlinge zu lesen, die sie niemals zubereiten würde. Es half. Langsam gewann Lisa ihre Fassung zurück, und das war gut so, das war wichtig. Sie konnte sich hier und jetzt keinen Ausbruch ihrer Emotionen leisten, immerhin würde sie in knapp fünf Minuten vor ihr Publikum treten, um ihren neuen Roman vorzustellen. Das konnte sie unmöglich in diesem desolaten Zustand und erst recht nicht völlig verweint. Erneut blickte Lisa zum Eingang. Da war sie, ihre Fluchtmöglichkeit. Sie könnte gehen, jetzt sofort. Sie müsste nicht hierbleiben, müsste sich nicht ihrer Angst stellen, könnte einfach gehen. Tür auf, raus, die Straße entlang, zu ihrem Auto, nach Hause fahren und sich vor der Welt verkriechen, wie sie es die letzten etwas mehr als sieben Monate getan hatte. Niemand könnte sie daran hindern.

    Ich dachte, du wolltest heute einen Schritt nach vorn machen, Mädchen, meldete sich eine harte, leicht spöttisch klingende Stimme in ihr zu Wort, und Lisa zuckte zusammen. Es war die Stimme ihrer Sportlehrerin der fünften Klasse, Frau Kersch. Im letzten Herbst, kurze Zeit nach dem Unfall, hatte sie angefangen, sich immer wieder in ihre Gedanken zu stehlen. Eine fremde Stimme in ihrem Kopf sprechen zu hören war beunruhigend, doch Lisa wusste auch, dass sie ihr in den letzten Monaten geholfen hatte. Inzwischen war Lisa zwar erwachsen, doch der straffe Befehlston dieser Frau hatte immer noch dieselbe Wirkung auf sie wie zu ihrer Schulzeit.

    Ein Schritt nach vorn, ja, das war der Plan. Sie wollte nach vorn, nicht zurück, nicht so, denn es würde bedeuten, dass sie erneut in diesem dumpfen Nebel der Trauer versinken würde, der sie die letzten Monate in seiner unbarmherzigen Umklammerung gefangen gehalten hatte. Heute war sie auch hier, um aus diesem Nebel herauszukommen. Sie wollte es schaffen.

    Lisa wandte ihren Blick zu dem schmalen Durchgang. Die golden eingefassten Lettern des Schriftzugs schienen sie zu verhöhnen. Du wirst es nicht schaffen, geh nach Hause, überlass das Leben anderen.

    Widerstand keimte in ihr auf. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag, sah ihr Publikum, ihre Leser, Fans. Sie sah sich selbst, wie sie ihr Buch aufschlug und anfing zu lesen. Der lähmende Schmerz, der beim Klang der Stimme des Jungen in sie gefahren war, ließ langsam nach. Ihr Atem, der stoßweise und viel zu flach aus ihrer Brust gekommen war, verlangsamte sich und wurde wieder gleichmäßiger.

    Das war besser. Nicht wirklich gut – von gut war Lisa noch meilenweit entfernt –, aber es würde ausreichen, um diesen Abend zu überstehen. Die Erinnerung, die immer noch knapp unter der Oberfläche lauerte, wich zurück. Lisa drängte sie in den entlegensten Winkel ihrer Seele. Später, wenn ich zu Hause bin, nicht jetzt. Sie atmete tief ein, hob den Kopf und straffte die Schultern. Entschlossen stellte sie das Kochbuch zurück in das Regal und blickte zum Durchgang.

    »Und ob ich das schaffe!«, presste sie leise hervor, dann ging sie den Gang entlang in den hinteren Teil des Ladens.

    »Frau Stark, wie schön! Es freut mich sehr, dass Sie es einrichten konnten. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise. Mein Name ist Siebentritt, wir hatten telefoniert.«

    Eine große, elegant gekleidete Dame kam aus dem Leseraum und ging strahlend auf Lisa zu. Ihre Stimme klang warm und freundlich. Sie trat zu Lisa und streckte ihr die Hand entgegen. An ihrem Handgelenk klirrten mehrere schillernde Armreife aneinander. Das Lächeln, das sie Lisa schenkte, wirkte echt und ungekünstelt. Lisa mochte sie sofort.

    »Guten Tag«, erwiderte sie und brachte zu ihrer Verblüffung ebenfalls ein Lächeln zustande. Frau Siebentritt drückte ihre Hand kurz und kräftig. Ein gutes Zeichen, also, worauf wartest du noch?

    Lisa folgte Frau Siebentritt in den Raum. Er war größer, als sie erwartet hatte, eher wie ein kleiner Saal. Alle Stühle waren besetzt. Schätzungsweise hundert Personen hatten darin Platz gefunden, hauptsächlich Mädchen im Teenageralter, doch auch etliche Erwachsene waren gekommen. Und obwohl der Gedanke, zu all diesen fremden Menschen zu sprechen, Lisa immer noch Angst machte – wie seit Beginn ihrer Schriftstellerlaufbahn –, so drängte diese Angst zumindest den Schmerz der Trauer, der sich in ihrer Seele festgesetzt und sie ausgehöhlt hatte, für diesen Moment in den Hintergrund.

    In einer der hinteren Reihen erblickte sie etwas abseits der Menge einen Mann, der etwas auf einen Notizblock kritzelte. Um seinen Hals hing eine teure Kamera. Presse, dachte Lisa nervös, doch gleichzeitig freute es sie auch. Es bedeutete, sie war noch im Geschäft. Es bedeutete, das, was sie schrieb, war immer noch interessant. Und auch wenn sie viel verloren hatte, das hier war ihr geblieben. Sie hatte immer noch Fans. Besser gesagt: Nina, die Hauptfigur ihrer Romane, hatte immer noch Fans.

    Es hatte lange gedauert bis hierhin. Bereits während der Schulzeit hatte Lisa Ideen und Geschichten aufgeschrieben. Schon vor dem Studium hatte sie ihre ersten Kurzgeschichten und einen Roman veröffentlicht, der sich jedoch nur schleppend verkaufte. Der Durchbruch war erst nach ihrem Abschluss gekommen, etwa ein Jahr, nachdem sie in das kleine Haus in einem Waldgebiet nahe Rothenburg ob der Tauber eingezogen war. Dort, in dieser mittelalterlichen Kleinstadt, deren romantisches Flair Lisa von Anfang an verzaubert hatte, war ihr die Idee der zwölfjährigen Nina gekommen, die in einem verzauberten Burginternat gemeinsam mit Elfen, Einhörnern und anderen magischen Wesen ein Abenteuer nach dem anderen erlebt. In nur sechs Monaten hatte sie das Manuskript geschrieben, und es war ihr gut, richtig gut gelungen. Besser als alles, was sie je zuvor geschrieben hatte. Auch ihr Agent war ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie es ihm geschickt hatte. Ihr Verlag hatte es ihm schier aus den Händen gerissen. Es schien, als sei endlich der Knoten geplatzt. Und tatsächlich, das Publikum liebte Nina. Es verlangte nach einer Fortsetzung – und noch einer und noch einer. Und seit nunmehr sechs Jahren lieferte Lisa ihnen regelmäßig neue Bücher. Seit ihrem Einzug in das Haus sprudelten die Ideen nur so aus ihr heraus, als hätte sich in ihrem Geist eine Quelle der Kreativität geöffnet, aus der sie nach Belieben schöpfen konnte.

    Einige Köpfe drehten sich zu Lisa um, und das aufgeregte Flüstern, das sie bei ihrem Eintreten vernommen hatte, verstummte. Sie ging an den Stuhlreihen vorbei nach vorn, gefolgt von den neugierigen Blicken der Anwesenden.

    Am Kopfende des Saals befand sich ihre Bühne. Ein schlichter, schwarzer Barhocker und ein ebenfalls schwarzes Lesepult, vor dem ein dünner, dunkler Mikrofonständer platziert war, waren dort aufgestellt. Frau Siebentritt hatte alles nach Lisas Wünschen arrangiert.

    Alles war so, wie es sein sollte. Doch anstatt sich erleichtert zu fühlen, breitete sich erneut ein mulmiges Gefühl in ihrem Magen aus. Irgendetwas stimmte dennoch nicht.

    Lisa presste die Lippen fest zusammen. Das ist nur die Aufregung. Es wird vorbeigehen, ich hatte nur zu lange keinen Auftritt mehr. Ihren Magen beeindruckte das nicht. Das mulmige Gefühl verstärkte sich noch, je näher sie der Bühne kam.

    Jetzt trat Frau Siebentritt ans Mikrofon und richtete ein paar einleitende Worte an das Publikum. Lisa hörte nicht richtig hin. Ihr Blick wanderte über die Menge. Sie sah in freundliche Gesichter, die Wohlwollen und Neugier ausdrückten. Doch das Gefühl, dass etwas in dem Raum nicht richtig war, verstärkte sich. Etwas passte nicht.

    Lisa atmete tief ein. Verdammt, jetzt dreh nur nicht durch. Es ist alles okay, alles in Ordnung. Deine Nerven spielen dir einen Streich, das ist alles.

    Frau Siebentritt, die ihre Ansprache beendet hatte, verließ das Podium. Unter Applaus betrat Lisa die kleine Erhöhung und nahm auf dem Barhocker Platz. Mit zittrigen Fingern griff sie in ihre Handtasche und nestelte ein Exemplar des neuesten Nina-Romans heraus. Ihre Handflächen waren feucht. Bei jeder anderen Lesung war dies der Moment, in dem die Anspannung nachließ. Der Moment, wenn sie ihr Buch in den Händen hielt, ihr Werk, das Ergebnis harter Arbeit. Jedes Mal war es ein magischer Moment, der ihr Kraft und Sicherheit gab, zumindest war das bisher so gewesen. Doch heute blieb dieses Gefühl aus.

    Erneut ließ Lisa ihren Blick über die Menge gleiten. Er blieb an einem jungen Mann hängen, der in der ersten Reihe saß. Er war sportlich gekleidet – Turnschuhe, ein Nike T-Shirt – und sah sie an. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, als würden Spinnen über ihren Nacken krabbeln. Lisa fröstelte. Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre im Saal. Etwas Dunkles, Bedrohliches senkte sich herab wie ein Schleier, und einen entsetzlichen Moment lang tauchte die Vision einer absoluten Schwärze vor ihr auf, in der ein Paar rote Augen aufgeschlagen wurden, die wie glühende Kohlen leuchteten und nach ihr Ausschau hielten. Einen Moment lang sah sie es ganz deutlich und erstarrte wie ein Reh, das in dem grellen Lichtkegel eines heranbrausenden Autos gefangen ist. Ihre Finger umklammerten krampfhaft das Buch. Dann war der Moment vorbei, und Lisa sog entsetzt Luft in ihre Lunge.

    Die Menge schaute sie erwartungsvoll an. Einige Mädchen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander.

    Lisa merkte, dass ihr die Situation zu entgleiten drohte. Ihr Herz pochte laut und viel zu schnell in ihrer Brust. Es kam ihr vor, als würde ihr Stuhl anfangen zu schwanken. Der junge Mann in der ersten Reihe blickte sie fragend an. Hilfe suchend sah Lisa sich um. Der Drang, wegzulaufen, wurde erneut stärker. Nur ihr Wille hielt sie an Ort und Stelle. Sie klammerte sich daran fest. Ich schaffe das, ich will es schaffen, dachte sie, unbedingt. Sie musste nur etwas finden, woran sie sich festhalten konnte, etwas, das ihr half sich zu fangen, etwas wie ein Anker.

    Da erblickte sie ein bekanntes Gesicht in einer der hinteren Reihen. Chris, dachte sie, er ist tatsächlich gekommen. Eine warme Welle der Erleichterung durchfuhr sie. In dem Moment, als sie ihn ansah, hob er eine Hand und grinste sie jungenhaft an. Der dunkle Schleier, der sich über Lisa gesenkt hatte, fiel von ihr ab, und mit einem Mal schien der Saal viel heller und freundlicher als noch vor einer Sekunde. Lisa lächelte zurück. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Ja, jetzt geht es. Sie rückte etwas näher an das Mikrofon und begann zu sprechen.

    2

    Es war verblüffend, wie gut die Lesung verlief. Bereits nach den ersten Worten stellte Lisa mit Erstaunen fest, dass sie so entspannt war, als säße sie in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa anstatt hier vor einer Gruppe wildfremder Leute. Sie las aus dem sechsten Band der Nina-Reihe, der in diesem Monat erschienen war. Ihr Publikum war gefesselt von der Story, und als nach einer Stunde die Fragerunde stattfand, vor der sie sich so sehr gefürchtet hatte, drehten sich die Fragen zumeist nur um die Heldin ihres Buches und darum, was im nächsten Roman passieren würde. Nur eine junge Frau in der zweiten Reihe konnte ihre Neugier nicht zügeln.

    »Ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Beileid zu Ihrem tragischen Verlust aussprechen«, sagte sie betont höflich.

    Lisa horchte auf. »Danke«, erwiderte sie leise und wartete angespannt, was nun kommen würde.

    »Ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwer für Sie ist.«

    Die junge Frau, in der Lisa eine Literaturstudentin vermutete, sah sie mitfühlend an, doch Lisa wünschte sich nur, sie würde nicht weitersprechen.

    »Vielleicht gestatten Sie mir die Frage: Wie verarbeiten Sie den Verlust Ihrer Familie? Werden Sie darüber schreiben?«

    Lisa erstarrte zu Eis. Plötzlich empfand sie einen Widerwillen vor dieser Frau, der an Ekel grenzte. Einige der Mädchen im Publikum sogen schockiert die Luft ein. Manche sahen verlegen zu Boden. Doch viele blickten auch erwartungsvoll zu ihr auf. In diesem Moment hasste sie ihren Job. Hier saß sie nun im Rampenlicht, der Menge vor ihr schutzlos ausgeliefert. Sie fühlte sich klein und hilflos, und mit Entsetzen stellte sie fest, dass die Tränen, die in diesen Tagen nie sehr weit entfernt zu sein schienen, erneut in ihren Augen brannten.

    Sie umklammerte das Buch in ihrer Hand fester, während sie versuchte sich die Sätze in Erinnerung zu rufen, die sie sich zu Hause für eine derartige Frage zurechtgelegt hatte. Mit einem hörbaren Zittern in der Stimme sagte sie: »Das Schreiben ist ein sehr wichtiger Bestandteil meines Lebens, und es hat mir schon oft geholfen, schwierige Situationen zu überstehen. Es hat etwas Magisches.« Sie sah, wie einige ihrer Zuhörerinnen verträumt nickten. Ihre Stimme wurde fester, als sie weitersprach. »Und dieser … Unfall ist das Schlimmste …« Lisa machte eine Pause. Ihr Mund war mit einem Schlag so trocken, dass sie unmöglich weitersprechen konnte. Sie ergriff das Glas, das auf dem Lesepult stand, und trank einen Schluck Wasser. Im Publikum war kein Laut zu hören. Alle Anwesenden schienen gleichzeitig die Luft anzuhalten. Sie sahen Lisa mit einer Mischung aus Betroffenheit und Mitgefühl an. In den Augen mancher Mädchen erblickte sie ein verräterisches Glitzern. Rasch sah Lisa zu Boden, als sich auch in ihren Augen wieder Tränen bildeten. Oh, wie sie es leid war, zu weinen! Wut flackerte hinter ihren Schläfen auf. Es war so entwürdigend, wenn man ständig und überall zu tropfen anfing, ohne etwas dagegen tun zu können. Zornig blinzelte sie die Tränen weg und richtete ihren Blick wieder auf das Publikum. Sie schaute die Fragerin fest an, als sie fortfuhr: »Geliebte Menschen zu verlieren ist das Schlimmste, was einem widerfahren kann. Und so schwer es mir momentan auch fällt, das Erlebte aufzuschreiben, so habe ich doch das dringende Gefühl, dass ich es tun muss. Doch wann und ob das in einem Nina-Roman auftaucht, kann ich momentan nicht sagen, dafür ist es noch zu früh. Ich …« Lisa schluckte, suchte nach den passenden Worten, bevor sie sagte: »… bin noch nicht so weit. Es fällt mir noch sehr schwer, darüber zu reden, daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie von weiteren Fragen dazu absehen könnten.«

    »Sicher.« Die Fragerin lächelte, um Freundlichkeit bemüht, doch ihre Augen funkelten sie verkniffen an.

    In den Gesichtern der anderen Anwesenden sah Lisa jedoch etwas anderes. Es war weit mehr als nur das Mitleid, mit dem sie gerechnet hatte. Was in den Gesichtern der Menschen vor ihr stand, war aufrichtige, echte Anteilnahme. Einige der Mädchen wischten sich vorsichtig über die Augen.

    Zum ersten Mal hatte Lisa bei einer Lesung das Gefühl, dass sich ein Band zwischen ihr und diesen Menschen gebildet hatte, die ihr noch bis vor einer Stunde vollkommen unbekannt gewesen waren, eine Art unsichtbare Verbindung. Etwas Außergewöhnliches war heute hier geschehen, das spürten alle im Saal.

    Lisa beendete die Lesung mit einem Auszug aus ihrem nächsten Roman, der im kommenden Frühjahr erscheinen sollte. Als sie sich erhob, erntete sie langen Applaus. Lisa fühlte, wie eine große Last von ihrem Herzen genommen wurde. Sie hatte es geschafft! Tatsächlich geschafft! Es war grandios.

    Wie vereinbart nahm sie sich noch die Zeit, allen, die es wünschten, ihr Exemplar des neuesten Nina-Romans zu signieren. Doch nach weiteren dreißig Minuten war auch dieser Punkt abgehakt, und sie erblickte Chris, der geduldig auf einem Stuhl in der Nähe gewartet hatte.

    Ein Lächeln erhellte Lisas Gesicht. Sie und Chris kannten sich seit ihrer Studienzeit. Damals hatte er mit ihrem Mann Anton und ihr zusammen in einer WG gewohnt, doch nach dem Studium hatten sie sich aus den Augen verloren. Erst bei der Beerdigung im vergangenen Herbst hatten sie sich wiedergesehen. Seither hatten sie ein paar E-Mails ausgetauscht, und Chris hatte sie darin bestärkt, den Termin heute anzunehmen.

    »Hallo, Lisa«, sagte Chris und umarmte sie kurz, aber herzlich.

    Lisa war überrascht, wie vertraut sich der sanfte Druck seiner Arme auf ihrem Rücken anfühlte, und für einen Augenblick überkam sie eine große Sehnsucht. Dann löste er sich von ihr, und der Moment war vorbei.

    »Du warst großartig.«

    »Danke«, erwiderte Lisa. »Schön, dass du gekommen bist. Ich war froh, wenigstens ein vertrautes Gesicht zu sehen.«

    Er sah Lisa prüfend an. »Wie geht es dir?«

    »Besser jetzt«, antwortete Lisa. »Zu Beginn war es furchtbar«, gestand sie, »aber dann lief es ganz gut. Dennoch bin ich froh, dass ich es hinter mir habe.«

    »Weißt du, was? Das solltest du feiern.«

    Lisa sah ihn verblüfft an. Feiern! Das Wort klang so fremdartig in ihren Ohren, dass sie nachdenklich wurde. Wann hatte sie zuletzt etwas gefeiert? Sie konnte sich nicht erinnern. »Eigentlich hast du recht«, murmelte sie. »Sag, gibt es noch diese kleine Bar unten am Fluss?«

    »Keine Ahnung, ich war seit Jahren nicht mehr dort. Ach komm, wir gehen mal hin, vielleicht haben wir Glück.«

    Feiern, dachte Lisa und schüttelte lächelnd den Kopf. War dies vielleicht der Startschuss für ein neues Leben? Sie wusste es nicht, doch etwas in ihr hatte sich bewegt.

    Sie verließen den Buchladen und machten sich zu Fuß auf den Weg durch Würzburg in Richtung Mainufer.

    Kurz nach ihnen ging auch der junge Mann mit den Turnschuhen und dem Nike T-Shirt aus dem Laden und folgte ihnen in einiger Entfernung.

    3

    Wenige Minuten später erreichten Lisa und Chris die kleine Bar, die direkt am Ufer des Mains lag. Von ihrem Tisch aus konnten sie den Fluss sehen, der ruhig den Kanal hinunterfloss. Die funkelnden Strahlen der untergehenden Sonne glitten so elegant über die Wasseroberfläche wie Tänzer in einem Ballsaal.

    Die Bedienung kam, um ihre Bestellung aufzunehmen.

    »Rotwein? Oder lieber Champagner?« Chris blickte Lisa fragend an.

    »Rotwein«, sagte Lisa spontan, bevor sie wie automatisch ergänzte: »Aber den billigsten, den Sie haben.«

    Die Bedienung nickte und eilte davon.

    Chris schmunzelte. »Wie früher«, sagte er nur.

    Lisa sah in Chris’ Augen, und an dem wehmütigen Glanz darin erkannte sie, dass die Erinnerung an die gemeinsamen Abende zu dritt auch in seinen Gedanken kreiste.

    Chris und Anton waren schon beste Freunde gewesen, als Lisa Anton auf einer Studentenparty der Germanisten kennengelernt hatte. Er war auch Antons Trauzeuge gewesen. Dann hatte Chris eine Stelle im Ausland angenommen, und die Arbeit an seiner Promotion hatte ihn so sehr eingespannt, dass sich ihr Kontakt auf Karten zu Weihnachten und Glückwünsche zur Geburt ihres Sohnes begrenzt hatte.

    »Erzähl mir von Zürich«, forderte Lisa diesem Gedanken folgend, nachdem der Wein serviert war.

    »Es war toll«, sagte Chris. »Teuer, aber fantastische Berge. Und wandern kostet auch dort nix. Ansonsten hab ich nicht viel von der Stadt gesehen, meine Doktorarbeit hat mich

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