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ANDALUSIEN IM HERZEN ANDALUSIENS
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eBook841 Seiten11 Stunden

ANDALUSIEN IM HERZEN ANDALUSIENS

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Über dieses E-Book

Andalusien im Herzen - das hat die junge Isabel, als sie im September 2013 mit ihrer Freundin Cristina ihr andalusisches Dorf verlässt. Sie folgen einem Jobangebot in Deutschland, Illusionen und Träume im Gepäck. Die deutsche Wirklichkeit im grauen Herbst macht es ihnen nicht einfach; doch da sind zwei deutsche Studenten - Sina und Nick - die Lichtblicke bringen. Es ist Nick, der Isabels politische Sinne schärft und ihr Herz erobert.
Währenddessen beginnt in ihrer Heimat die Olivenernte, und man taucht ein, in das Herz Andalusiens, das der ausbeuterischen Strukturen, das der Landarbeiter und ihrer ganz besonderen Gewerkschaft.
Beide Welten fließen mit Sinas spontanem Entschluss zusammen, über Weihnachten Isabel und Cristina nach Andalusien zu begleiten. Sie verliebt sich, in das Land, in Cristinas Bruder. Und fliegt Anfang Februar erneut in den Süden. Intensive Wochen Gewerkschaftsarbeit im Erdbeeranbaugebiet Huelva, wo zehntausende Landarbeiter unter teils sklavenartigen Bedingungen ihr Dasein fristen, verflechten sich mit einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte, die im spanienweiten Protestmarsch auf Madrid im März 2014 kulminiert.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Apr. 2021
ISBN9783347248571
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    Buchvorschau

    ANDALUSIEN IM HERZEN ANDALUSIENS - Gundi Scholdei

    I

    Sie erwachte aus einem kurzen, dumpfen Schlaf. Tiefe Nacht stand im Zimmer, Stille und Dunkelheit woben einen dichten, schwarzen Teppich. Mit unbarmherziger Härte platzte der Gedanke an den kommenden Morgen in ihren Kopf; in ihrem Magen breitete sich ein bleiernes Gefühl aus, als hätte sich ein Backstein darauf niedergelassen. Der schwarze Schatten, der sich vor dem schwachen Schein des Balkons ausmachen ließ, manifestierte Unausweichliches. Sie hatte diverse Male umgepackt, bis der neue, rote Vierradkoffer endlich bereit gewesen war, seine Reißverschlusszähne ineinanderzufügen. Nun stand er da, als könne er es kaum erwarten, endlich auf Fahrt zu gehen. Maldita sea!

    Isabel schloss noch einmal die Augen, gab sich der unsinnigen Hoffnung hin, alles um sie herum wie einen Traum wegwischen zu können; noch einmal aufzuwachen, ohne Koffer im Zimmer und mit der Aussicht auf einen ganz normalen Tag. Doch die Gehirnströme begannen ihr Eigenleben, verdrängten die Müdigkeit; keine Traumwelten, die sie retten würden.

    Die Kirchturmglocke schlug vier – verhaltene, blecherne Schläge ohne Nachklang, geduckt im Turm, bemüht, die Ruhe der Nacht nicht zu stören. Schlaflose Stunden bis zum Morgengrauen waren fruchtbarer Boden, um Zweifel, Sorgen und Angst zu einem monströsen Etwas gedeihen zu lassen. Isabel kannte das Gefühl, wenn die Unruhe wie Gewürm in ihrem Inneren erwachte, alles in ihr zu kribbeln begann, und sie das große Bedürfnis überkam, sich – wie auch immer – davonzumachen.

    Was sie zurückhielt, aus dem Bett zu steigen, war ihre Großtante Alicia, die nebenan schlief – oder wachte, bei ihr wusste man nie. Nächtliche Geräusche pflegten ein reizvoller Köder für ihre ausgeprägte Neugierde zu sein.

    Und so stopfte sie ihr Kissen zwischen Rücken und geweißte Wand, versuchte, das Rumoren in ihrem Bauch irgendwie zu besänftigen. Im Schein der Nachttischlampe wanderten ihre Augen durch das Zimmer, mit einem etwas anderen Blick vor der großen Reise, blieben hier und da hängen, um eine Gedankenschleife zuzulassen.

    Staunen über Gegenstände, die den Stellenwert von Wegmarkierungen ihres bisherigen Lebens eingenommen hatten, so schlicht, so nichtig und so bedeutend. Der abgewetzte Stoffhund aus der Kinderzeit, die Muschelkette aus Nijar, ihre Urkunde vom Zeichenkurs der 12. Klasse, der gewebte Wandschmuck aus den Alpujarras. Fotos von Geburtstagen, ihrer Kommunion, Ausflügen und – ihre Zeichnungen, die mittlerweile die halbe Wand erklommen hatten.

    Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen? Warum hatte sie sich nicht einfach für irgendeine Ausbildung an der Fachschule entschieden und könnte bleiben, bleiben, bleiben, in ihrem Haus, ihrem Dorf, ihrer Welt, ihrem Leben? Stattdessen war sie in der Woge der anderen mitgeschwommen, hatte in diesem Seminar für arbeitssuchende Jugendliche so getan, als sei sie genauso begeistert von den Jobangeboten deutscher Unternehmen wie alle anderen. Illusionen, Träume – ihre schemenhaften Wegweiser.

    Jetzt klebte sie an der weißen Wand, Fluchtgedanken im Kopf, Fäuste im Magen. Suchte nach Schuldigen. Cristi ließ nicht lange auf sich warten. Sie war es gewesen, die Señor López' Vortrag von einmaligen Gelegenheiten und unglaublichen Zukunftschancen als den Wink des Schicksals gedeutet hatte. Ihre unerschütterlich optimistische Lebenseinstellung ließ sie überall das Glück winken sehen, und sie, Cristina Morillo Castro, winkte ungehemmt zurück. Und Isabel hatte sich mitreißen lassen, simpel, manipulierbar, profillos wie sie war. Durchschnittlich.

    Ja, sie betrachtete sich als Durchschnitt, in jeder Beziehung, abgesehen von ihren Zeichenkünsten vielleicht. Ihr Gesicht strahlte Ernsthaftigkeit aus, Ebenmäßigkeit, selbst die Pubertät hatte an der Makellosigkeit ihrer Haut nicht kratzen können. Nur selten manipulierte sie mit Schminke. Ihre Augen groß und von hellem Braun, ihr volles, nussbraunes Haar fiel dicht über die Schultern. Doch wenn sie verglich, was sie oft tat, sah sie all diese Mädchen, die die oberen Ränge besetzten, selbstbewusste Schönheiten, einige von ihnen mit einer guten Portion Arroganz. Cristi war zweifellos eine von ihnen, doch arrogant war sie nicht, sie war lebenslustig und frech. Vielleicht zählte Isabel sie zu ihren Freundinnen, weil sie immer noch hoffte, ein wenig davon könne auf sie abfärben.

    Noch nicht einmal halb fünf. Ihr Blick floss über ihre Bleistiftzeichnungen; eine ansehnliche Sammlung, die erzählte, was sie gelernt hatte. Isabels Faszination, menschliche Gesichtszüge zu studieren, gepaart mit ihrem Talent, ließen Gesichter entstehen, die man erkannte. Die gut waren.

    Ihr Bruder. Die alte Dolores. Mamá, ernst. Und noch einmal Mamá, lachend. Ihr Vater – ein schwieriges Objekt, schwer zu fassen – sie hatte tüfteln müssen. Sie selbst, mit neutralem Gesichtsausdruck. Wenigstens diese Bleistiftzeichnung schmeichelte und sie hatte die Befürchtung, ein wenig geschummelt zu haben, auch wenn Mamá das vehement bestritt. Freundinnen, Lehrer. Charakterköpfe aus dem pueblo.

    An die Proportionen menschlicher Gesichter hatte sie sich genähert, indem sie Menschen von Fotos und Zeichnungen kopierte. Erst langsam hatte sie sich an lebende Objekte gewagt, die völlig still verharren mussten. Inzwischen zeichnete sie Porträts von Menschen in Bewegung, von Menschen in Abwesenheit, wenn sie sie nur lang genug studiert hatte, um sie verinnerlicht zu haben. Versuchte sich an Karikaturen, was eine Herausforderung war. Sich von den möglichst exakten Proportionen lösen, auffällige Merkmale überzeichnen und den Menschen als solchen erkennbar zu lassen, war eine wahre Kunst, die viel Übung benötigte. Darüber hinaus einen bestimmten Grad an – ja, Frechheit. An der es ihr in ihrem übrigen Leben so mangelte.

    Sie überlegte, sich mit ihrem Deutschheft die Zeit zu vertreiben. Es steckte in ihrem Rucksack, den sie sich vom Stuhl angeln könnte, ohne aufstehen zu müssen. Können, müssen, dürfen, wichtige Modalverben. Von diesen lästigen deutschen Buchstaben mit Pünktchen war die deutsche Sprache gespickt voll; sie hatte noch jetzt die minutenlangen Übungen vom Deutschunterricht im Ohr, die vergeblichen Versuche, den richtigen Ton zu treffen. Cristi nutzte sie, um mit ihren vollen Lippen schmachtenden Blickes Küsse anzudeuten, immer schön im Rücken von Herrn Block, der sich wahrlich abmühte, ihre Aussprache so zu verbiegen, dass sie auch ein Deutscher verstehen kann. Oft schüttelte er resigniert seinen kahlen Kopf, und nach drei Monaten Intensivkurs zitierte auch der letzte der Kursteilnehmer gern den so oft gehörten Satz Das darf doch nicht wahr sein.

    Nein, zum Deutschlernen stand genügend Zukunft vor der Tür, sie wollte lieber noch ein bisschen bleiben, wo sie war. Der Sommer ging dem Ende zu, draußen wehte ein lauer Wind durch die stillen Straßen des alten Ortskerns, Haus an Haus aneinandergelehnt in tiefem Schlummer, mit geschlossenen Fenstern und heruntergelassenen Jalousien alle Augen in sich gekehrt.

    Im Sommer hatten sie vor den Türen gesessen bis spät in die Nacht, ins Stimmengewirr gelacht und auf eine kühle Brise gewartet, während die aufgeheizten Pflastersteine Hitze atmeten. Jetzt, im September, war es überstanden. Doch noch lief alle Welt in luftiger Kleidung herum, und die Strümpfe steckten so tief in den Schubladen, als würde es nie wieder Winter werden.

    Isabel liebte den Sommer; das tägliche Ritual des Stöhnens und Klagens über die unglaublich schreckliche Hitze gehörte dazu. Jetzt sollte es in ein Land gehen, in dem nie richtig Sommer wurde, in dem so viel Regen fiel, dass sich kein Grashalm zu vertrocknen traute. Sie hatte Jacke und Pullover, und auf Empfehlung ihres deutschen Deutschlehrers sogar Schal und lange Strümpfe eingepackt, und das im September.

    Sie hatte sich verboten, an den Jungen aus der hinteren Bank ihrer Deutschklasse zu denken. Doch mit noch zwei totzuschlagenden Stunden vor sich und unter diesen widrigen Umständen, nahm sie es als kleine Freiheit in einem Ausnahmezustand.

    Er war unauffällig, nicht unbedingt hübsch, sonst hätten sich gewisse Mädchen ihrer Klasse gleich auf ihn gestürzt, allen voran Cristina. Doch er hatte etwas, von dem sie hoffte, dass es den anderen verborgen blieb. Seine etwas längeren dunklen Haare, die er sich tief in die noch dunkleren Augen fallen ließ, unterschieden sich beruhigend von dem Araber-Vollbart-Modeschnitt, mit dem sich unerklärlicherweise die Mehrzahl seiner Altersgenossen in letzter Zeit entstellt hatten. Aufgefallen war er Isabel durch seine Verträumheit, seinen Blick, der die Mauern des Klassenzimmers mühelos zu durchdringen schien. Die verstörte Geste, mit der er Cristi bedachte, als sie wieder einmal ihren bitteren Spott in Herrn Blocks Rücken prallen ließ und das komplizenhafte Gekicher ihrer Mitschülerinnen erntete. Und dieses eine Lächeln, mit dem er sie einmal festgehalten hatte. Viele Tage suchte sie vergebens nach weiteren Zeichen, die ihr nahegehen könnten.

    Erst am letzten Tag, als sie ihre Zertifikate entgegengenommen hatten und in dieser ambivalenten Stimmung zwischen Erleichterung und leichtem Abschiedsbedauern schwebten, ruhten seine Augen einen Moment länger auf ihr. Sein Blick schlug ihr direkt in den Magen, ohne Umwege durch sonstige Körperteile zu nehmen. Ein paar Sekunden lang setze alles um sie herum aus, um dann schlagartig wieder einzusetzen. Es war Cristi, die ihr einen Rippenstoß verpasste und sie spottend in die Wirklichkeit zurückholte: Hey, was ist los, trauerst du etwa Blocks kahler Birne nach? In gestelztem Deutsch setzte sie nach: Das darf doch nicht wahr sein!, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen.

    Der Lärm in den Fluren der Sprachschule war ohrenbetäubend. Sie waren nicht mehr zu halten, schrien und plapperten aufgekratzt durcheinander, Haarschöpfe vereinigten sich über den Zeugnissen, um kurz darauf wieder auseinanderzustoben. Enttäuschung, Protest, Trauer in den Gesichtern derjenigen, denen eine Nachprüfung ins Haus stand.

    Isabel machte einen letzten Versuch, ihm in diesem verrücktem Haufen noch einmal zu begegnen, noch einmal diesen Blick zu spüren, eine Geste in ihre Richtung einzufangen.

    Sie hatte ihn nicht wiedergesehen. Und nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihn auf Facebook aufzustöbern, entschied sie, ihn zu vergessen.

    Manchmal kam ihr sein Gesicht dazwischen, spiegelte sich schemenhaft in der Busfensterscheibe, tauchte auf inmitten einer Buchseite, im Bohneneintopf, in dem sie lustlos herumrührte. Seine Initialen wurden ins Vokabelheft gemalt, nur für sie lesbar zwischen irgendwelchen Ornamenten, die unregelmäßige Verben einrahmten. Und – natürlich – war da ganz unten in der Schublade eine Bleistiftzeichnung.

    In dieser frühen Morgenstunde ließ sie ihn nun noch einmal in ihr Zimmer – wenn schon leiden, dann richtig.

    Endlich, endlich. Sie hörte die ersten Autos durch den Ort fahren; bald darauf quietschte das Tor von Manolos großer Halle, in der Traktoren und diverse landwirtschaftliche Gerätschaften darauf warteten, die weiten Felder zu malträtieren. Der alte Pepe, El Cojo, warf ein paar Häuser weiter sein knatterndes Moped an und weckte in morgendlichem Ritual die Nachbarschaft. Der einzige Protest, der unmittelbar einsetzte, war das Gekeife des Pinschermischlings von gegenüber, der den Großteil seines Lebens auf dem Balkon im ersten Stock zubrachte. Vermutlich wäre er als Topfpflanze glücklicher geworden.

    ------------------------

    Zwei Straßen weiter, in der Eckkneipe an der Hauptstraße, traf sich die cuadrilla von Pedro El Capitán. Sein in die Jahre gekommener Lieferwagen stand rostig und vollgetankt davor. Laute Stimmen drangen durch die offene Tür, als wollten sie das Ende der Nacht vorantreiben.

    Nicolás traf als letzter ein, öffnete die knarzende Hintertür des alten Ford Transit, stellte seinen Korb zu den anderen, knallte die Tür wieder zu. Betrat die Bar, ein paar knappe Worte, sparsame Gesten und ein bis zum Rand gefülltes Glas Anisschnaps, das ihm El Bizco, der Wirt, auf den Tresen stellte.

    Mit seinen vierundsechzig Jahren war er der Älteste des Trupps, Landarbeiter mit jeder zähen Faser seines Körpers, ein kleiner, wieseliger Bursche. Die flinken Augen kugelten in seinem ledernen Gesicht wie schwarze Murmeln, stetig bestrebt, alles um sich herum aufzunehmen. Es gab keine Erntearbeit, bei der Nicolás es nicht mit den jüngeren, starken Kerlen aufnehmen konnte, doch er prahlte nie; gesellte sich ohne viele Worte zu denen, die bei der Arbeit hinterherhingen, und so war er einer der wenigen, der von allen geschätzt wurde, ausnahmslos.

    Nervosität hing in der Luft. Aufgekratzt wurden Sprüche geklopft, ein paar rüde Witze, Frotzeleien machten die Runde. Nur Miguelito, El Dormilón, der zum ersten Mal in die Olivenernte fahren sollte, stand ernst daneben und verzog nur ab und zu den flaumigen Bart. Der hat die Hosen gestrichen voll, dachte Nicolás, als er den zweiten Anis kippte.

    Eins sag ich euch, tönte Rico, ein großer, kräftiger junger Mann mit langem, im Nacken zusammengehaltenen Haar, wenn die nicht nach Tarif bezahlen, mach ich gleich auf dem Absatz kehrt, dann können die sich ihre Oliven in den Allerwertesten stecken!

    Ach ja?, hakte Pedro nach, So wie im letzten Jahr oben in Carmona? Da haste für fünf Euro unter Tarif gearbeitet und die Kiemen nicht auseinandergekriegt!

    Da war er ja auch noch mit Carmen zusammen, die ihn ausgenommen hat wie eine Weihnachtsgans!, bemerkte Antonio grinsend.

    Nur, um kurz drauf der Schwuchtel, die die Donuts ausfährt, die Eier zu massieren!, setzte Luis nach, untermalte seinen Kommentar mit einer eindeutigen Geste, erntete lautstarkes Gelächter.

    Haltet doch mal die Klappe! Ramón hob beschwichtigend die Hände. Mach doch mal lauter, Bizco! Mit nach hinten geneigtem Kopf und offener Kinnlade hing sein Blick auf dem Großbildschirm in der Ecke, wo die Polizeiknüppel der Sondereinheit auf einen Haufen Demonstranten niedersausten. Im Nu wurde es ruhig und die Kneipe gehörte der Stimme der Nachrichtensprecherin. …unverhältnismäßiger Polizeieinsatz, mit dem Resultat von vierundsechzig Verletzten, darunter siebenundzwanzig Polizisten, und vierunddreißig verhafteten Demonstranten. In der darauffolgenden Protestwelle gingen Tausende von Menschen in spanischen und anderen europäischen Städten auf die Straße.

    Wo war das denn? Hab ich irgendwas verpasst? Luis schaute wie gebannt auf die schnell abfolgenden Bilder.

    Mensch, das war doch genau vor einem Jahr! Als der Kongress in Madrid umzingelt worden ist und die Bullen die Leute niedergeknüppelt haben! Rico erinnerte sich gut. Die mobilisieren für die nächste Demo in Madrid in zwei Wochen. Ich sag's euch, Leute, wenn das so weiter geht, ist das vielleicht die letzte Olivenernte, in der wir den Großgrundbesitzern die Oliven von den Bäumen holen!

    Träum weiter, Rico, und los jetzt, sonst kommen wir gleich am ersten Tag zu spät, und deine letzte Olivenernte ist zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hat. Pedro El Capitán blies zum Aufbruch.

    Pedros ernstes Gesicht, gezeichnet von Sonne, Wind und Januarkälte, strahlte Autorität aus; seinen wachen, dunklen Augen unter den buschigen Brauen entging nichts. Er hatte in den vielen Jahren Landarbeit den Ruf eines ausgefuchsten Vorarbeiters erlangt, war bekannt für seinen Spürsinn und sein Feingefühl, wenn es um die oft nicht leichte Aufgabe ging, den Weg zwischen den elementaren Bedürfnissen einfacher Arbeiter und den Flausen arroganter Landbesitzer zu ebnen. Als sie vor die Tür traten, fragte er Rico: Ich hab gehört, deine Cristina macht sich heute auch auf nach Deutschland? Meine Nichte María José ist auch dabei.

    Ja, mal sehen, ob die Mädels einen anständigen Job finden, hört sich ja alles ganz gut an. Auf jeden Fall besser, als sich hier auf dem Land für die Señoritos zu buckeln und ihre Häuser zu putzen!

    Die schwärzliche Rauchwolke, die der abfahrende Lieferwagen auf der Hauptstraße des pueblos hinterließ, löste sich nur zögerlich auf. Am Ortsausgang wartete Marías vollbesetzter Seat Ibiza mit laufendem Motor und schloss sich nach dem quäkenden Hupzeichen, das Pedro seinem Gefährt herausquetschte, seinen funzligen roten Rücklichtern an.

    ------------------------

    Im Haus der Sánchez' erwachte das Leben. Jalousien wurden hochgezogen, Türen gingen, leises Rauschen der Wasserleitung. Erleichtert schlug Isabel das Bettlaken zurück, drückte den Alarmknopf ihres Weckers, der sie in einer halben Stunde aus dem Schlaf geholt haben sollte. Öffnete die Tür zum Balkon, zog die Jalousie hinauf und wickelte das Schnurende um die gebogene Verzierung des Geländers. Sie schaute an den dunklen Hausfassaden entlang, atmete tief die Morgenluft. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, Traurigkeit schlich sich ein. Drei lange Monate. Ihre Gedanken wanderten ein paar Straßen weiter. Cristi lag bestimmt noch im Tiefschlaf und würde es auch an so einem Tag fertigbringen, zu verschlafen.

    Isabel ging ins Bad, hoffte, nicht auf Tante Alicia zu treffen, die während der Renovierung ihres Hauses die Gastfreundschaft der Familie Sánchez strapazierte. Ihr Unwohlsein ließ etwas nach, als sie endlich ihre rührenden Därme erleichtern konnte und bei einer ausgedehnten Dusche das warme Wasser über ihren Körper rann. Heute nahm sie sich Zeit, mit der Gewissheit, nicht mit Dingen wie Wasserrechnung und Sparen belästigt zu werden. Zwei Tage Busfahrt waren Rechtfertigung genug, sich ausgiebig auf Vorrat zu duschen. Als sie sich das lange Haar vor dem beschlagenen Spiegel bürstete, klopfte es an der Tür. Isabelita, bist du's? Dauert's noch lange?

    Isabel schnaufte, riss sich aber zusammen. Bin gleich fertig! Sie wischte die Haare aus dem Waschbecken, sammelte ihre Sachen zusammen, schloss die Tür auf.

    Morgen, Tante Alicia.

    Guten Morgen, hija, bist du schon reisefertig? Oh je, was hast du denn hier für eine Sauna veranstaltet, dampft ja schlimmer als in den arabischen Bädern!

    Bevor sie überhaupt die Küche betreten hatte, ahnte Isabel, was dort vor sich ging. Der morgendliche Kaffee-Toast-Frühstücksduft wurde vom Geruch nach Frittierfett verdrängt, Geschirr klapperte.

    Das Herz des Hauses. Unlösbar verbunden mit ihrer Mamá, die da stand, im grellen Neonlicht, zwischen den blanken Kacheln, unter der surrenden Abzugshaube. Die Fritteuse brutzelte, in der schwarzen Tortillapfanne eine große Pfütze Olivenöl, Gutelaunemorgenmusik von Radio Olé.

    Isabelita! Du bist schon wach? Bist ja ganz blass, hast du schlecht geschlafen? Ihre Mutter schaute sie besorgt an, während sie mit lockerem Handgelenk die Eier schaumig schlug, ihre dunklen Locken wippend im Takt. Das sind die Nerven. Setz dich rüber ins Esszimmer zum Frühstücken, nicht dass du nach Küche riechst, frisch geduscht wie du bist!

    Der Ölgeruch gab Isabels gereiztem Magen den Rest. Hab keinen Hunger, vielleicht ess ich später was. Was brutzelst du da eigentlich um diese Uhrzeit?

    Ich mach dir ein paar Tortillas, du musst doch was mitnehmen bei der langen Fahrt, die du vor dir hast! Dann hab ich panierte Schnitzelchen vorbereitet und einen Kartoffelsalat mit Thunfisch; wenn du willst, koch ich noch ein paar Eier.

    Isabel war bedient. Mamá, wer soll denn das alles essen, das reicht ja für eine ganze Woche! In Deutschland gibt es auch Essbares, stell dir vor.

    Das sagst du! Wenn ich dran denke, was dein Onkel erzählt hat, da graut's mir jetzt noch. Irgendwelchen sauren Kohl, pechschwarzes Brot! Stell dir vor, die kennen noch nicht mal Olivenöl! Braten ihre Eier in Butter. Butter, Isabel! Verständnisloses Kopfschütteln. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie Deutschland so weit kommen konnte.

    Es ist doch Lichtjahre her, dass Onkel Álvaro in Deutschland war! Inzwischen gibt's da an jeder Ecke internationale Küche.

    Internationale Küche? Was soll denn das heißen, Hamburger und Pizza?

    Ach vergiss es. Kannst mir ja eine Lkw-Ladung mit Care-Paketen für die nächsten Monate nachschicken.

    Was für Pakete?

    Vergiss es einfach, Mamá. Isabel setzte sich resigniert ins Esszimmer.

    Den Kopf in der Durchreiche, setzte ihre Mutter hinzu: Und außerdem, wie ich Cristi kenne, hat die gerade mal ein trocknes Brötchen mit Mortadella im Gepäck. Wenn überhaupt.

    Dann vergiss nicht, dass Raquel und María José auch noch mitfahren, und pack gleich noch ein halbes Schwein dazu.

    Raquel und María José haben bestimmt selber genug dabei, da bin ich überzeugt, also übertreib mal nicht so!

    Isabels Vater erschien in der Küchentür. Einen guten Kopf größer als seine Frau, das volle, hellbraune Haar aus der Stirn gekämmt, strahlte sein breites Gesicht eine Ruhe aus, die nicht immer seinem Seelenzustand entsprach.

    Na, hier läuft ja schon alles auf Hochtouren, wie ich sehe. Planänderung meine Lieben; Paco und Mari-Lu mussten heut früh los in die Olivenernte, haben erst spät gestern Abend Bescheid bekommen. Das heißt, wir müssen ihre Tochter nach Sevilla mitnehmen.

    Isabels Mutter hielt mit dem Pfannenwender in der Hand inne. Das glaub ich jetzt nicht! Die Armen! Können nicht mal ihre Tochter zum Bus bringen!

    Tja…, entgegnete ihr Mann. Nach kurzem Zögern kam er zum heikleren Teil seiner Nachricht. Und du wohl auch nicht, das Auto ist nämlich voll.

    Aber María José kann doch bei Raquel mitfahren!

    Raquel ist doch schon seit gestern bei ihrer Tante in Sevilla. Damit verließ er schleunigst die Küche.

    Das war ihr Vater. Pragmatisch und sensibel wie ein Maulesel. Isabels Mutter wandte sich ärgerlich ihrer Tochter zu: Hast du das gehört? Das war alles, was über ihre Lippen kam, zu einem Strich zusammengepresst, um Trauer, Enttäuschung und Wut in Bann zu halten. Mit etwas mehr Schwung als angebracht wurde die Tortilla gewendet, der Deckel auf die Ablage geknallt.

    Ach Mamá, ist doch nicht so schlimm, ob wir uns nun eine Stunde früher oder später verabschieden…

    Doch Mamá Isabel hatte sich schon winkend am Busbahnhof stehen sehen, mit schwenkendem Taschentuch, bis der Bus außer Sichtweite war. Nachdem sie Busfahrer und Mitreisende begutachtet hätte. Daraus wurde nun nichts, und das nur wegen der Scheißolivenernte. Verbissen schlug sie auf die Eier für die nächste Tortilla ein.

    Isabel hatte genug dicke Luft geatmet. Ich geh mal hoch und pack den Rest zusammen.

    Weck mal deinen Bruder, es wird Zeit.

    Sie schlich sich in Manuels Zimmer, der tiefschlafend noch meilenweit von der Realität dieses Morgens entfernt schien. Küsste ihn auf die feste, makellose Backe. Sie schluckte. Als große Schwester und mit ihren neunzehn Jahren war sie aus dem Alter raus, bei jeder Gelegenheit losheulen zu können. Als er verschlafen zu sich kam, hatte sie sich gefasst, schaffte ein Lächeln. Aufstehen, mein Süßer, sonst verpasst du noch, wie deine Schwester in die große weite Welt fährt!

    Sie umarmten sich, Isabel atmete wehmütig den schläfrigwarmen Duft des kindlichen Körpers ein und wünschte sich, etwas davon mitnehmen zu können.

    Eine gute halbe Stunde später lagen sie sich noch einmal in den Armen; diesmal um Abschied zu nehmen. Isabel rührte die Traurigkeit ihres kleinen Bruders zutiefst. Als er eine kleine Plastiktüte aus seiner Tasche zog, mit roter Schleife, und sie ihr mit den Worten für die Reise reichte, lächelte sie gegen die Tränen an. Bist ein Schatz. Sie versprach, ihm ein Fußballtrikot von Manuel Neuer zu schicken, und als er seinen Schulrucksack aufzog und mit Mateo zur Schule zottelte, drehte er sich noch einmal um und rief mit einem Winken ein deutsches Auf Wiedersehen, Schwester!, Ergebnis seiner unstillbaren Neugier, mit der er während der letzten Wochen Isabels Sprachübungen verfolgt hatte.

    In der Küche war alles zur Ruhe gekommen, die Henkel der prall gefüllten Leinentasche klafften über der obersten Tupperdose. Isabels Mutter drängte zum Aufbruch. Ihr Redefluss war nicht mehr aufzuhalten, strömte ohne Rücksicht auf An- oder Abwesende aus ihr heraus.

    Flucht nach vorne. Also, Mamá… Viel mehr fiel Isabel nicht ein, viel mehr war nicht nötig. Ihre Mutter übernahm mit einem Schwall von Erläuterungen zum Leinentascheninhalt, Ratschlägen und Ermahnungen, die keiner Entgegnung bedurften.

    Tante Alicia, zum Anlass in ihrer hellgelben Sonntagsbluse, kam mit einem milden Lächeln auf sie zu, nahm Isabels Hand und ließ etwas hineingleiten. Ein Goldkettchen mit dem Abbild der Heiligen Jungfrau Inmaculada, Schutzpatronin des Ortes. Auf dass sie dich schützen möge, mein Kind. Komm, ich mach sie dir gleich um! Sie fummelte eine ungeduldige Weile in ihrem Nacken, bis der Verschluss einschnappte. Isabel, zwischen Rührung und genervter Ablehnung, entschied sich für Milde, bedankte sich mit einem Lächeln. Ob der Schutz der unbefleckten Jungfrau in Deutschland gefragt war – wer wusste es.

    Herr Sánchez verstaute Isabels Gepäck unter dem Blick der Nachbarinnen im Kofferraum. Isabelita machte sich auf eine weite Reise; man musste adiós sagen und alle guten Wünsche dazupacken.

    Dolores, nahe an die neunzig und seit Ewigkeiten in gebeugtem Schwarz, stand auf der Türschwelle. Auf ihrer Anrichte im salón stand neben den anderen Fotos ein Bild, auf dem sie Isabel im Taufkleid auf ihren Armen hielt. Sie hatte die leere Stelle nie gehabter Enkel eingenommen, Dolores' Liebe und Fürsorge seit jeher erfahren dürfen.

    Die Zeiten, als viele Männer aus dem pueblo nach Frankreich, Deutschland oder sonst wohin emigriert waren, lagen lange zurück. Es waren Hungerjahre gewesen, erbärmliche Not in einem geknechteten Land. Wie konnte es sein, dass die jungen Menschen nun wieder fortgingen, in fremde Länder, wo hier doch alle reichlich zu essen hatte? Sie verstand die Welt nicht mehr. Und sie wollte sie auch nicht verstehen, weil die Vorstellung schmerzte, dass die Tage nun vergehen würden, ohne dass Isabel bei ihr hereinschaute.

    Ihre Umarmung war innig. Sie reichte Isabel ein flaches, in Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen, streichelte ihre Wange. Pass gut auf dich auf, cariño, komm gesund wieder!

    Danke, Dolores. Weihnachten bin ich ja wieder da!

    Und – , die alte Frau senkte die Stimme, wenn du Heimweh hast, iss ein paar Oliven, die schmecken nach Heimat!

    Als die Isabels schließlich in einer nicht enden wollenden Umarmung hin- und herschaukelten, tippte Herr Sánchez in ihrem Rücken stumm auf seine Armbanduhr. Die Nachbarinnen ließen Taschentücher winken, drückten mitfühlend den Arm der weinenden Mutter.

    Sie fuhren in den oberen Ortsteil. María José stand reisefertig vor ihrem Haus; allein und ohne Abschiedskomitee neben einem wuchtigen Koffer, der sie noch zierlicher wirken ließ. Alles an ihr sah ausgesprochen artig aus; ihr schulterlanges, dunkles Haar formte eine akkurate Linie über ihrem Poloshirt, die etwas groß geratenen Brillengläser bedeckten fast die Hälfte ihres zarten Gesichts.

    Isabel spürte ihre Anspannung, als María José ihren Blick suchte und mit einem gezwungenen Lächeln ihren Vater begrüßte.

    Na, das kam deiner Mutter bestimmt nicht gelegen, heute früh in die Olivenernte zu müssen, was?

    Überhaupt nicht. Sie hat noch eine Nachtschicht in der Küche eingelegt, um für heute alles vorzubereiten.

    Tja, so ist das heutzutage, von jetzt auf gleich, immer schön auf Abruf, als hätte man sonst nichts zu tun.

    Man? Isabel stieg ein.

    Hast du denn alles dabei? Ausweis, Fahrkarte, Geld, Handy?, versicherte sich ihr Vater. Perfekt! Dann kann's ja losgehen.

    Isabel hätte sich nur allzu gern in die sichere Decke der Souveränität eingekuschelt, die ihr Vater da ausbreitete, aber Kindsein war vorbei und damit der unerschütterliche Glauben an die Unfehlbarkeit dieser Vaterfigur.

    Obwohl sie eine Viertelstunde zu spät waren, kündigte Isabel Cristi ihr Kommen mit einem kurzen Anruf an, für alle Fälle.

    Ja, ja, ich bin fertig!

    Isabel war erleichtert. Als sie vor dem Haus der Morillos hielten und von Cristi nichts zu sehen war, drückte ihr Vater mehrmals auf die Hupe. Wo steckt sie denn nun, es ist gleich neun, und der Bus wartet nicht. Auch nicht auf Miss Discoqueen des Ortes!

    Er hatte noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Isabels Freundschaft mit Cristi missbilligte. In Gesellschaft vier älterer Brüder, aber ohne Vater aufgewachsen, fehlte es Cristina seiner Meinung nach an einer ordentlichen Erziehung und moralischen Grundpfeilern. Ihre Mutter arbeitete hart in einer Reinigungsfirma in der Stadt und schien die meiste Zeit abwesend zu sein.

    Cristi erschien wild winkend auf dem Balkon. Ich komme! Ritchi, der jüngste der Morillo-Brüder, kam mit Koffer und Schlagseite aus dem Haus, Cristi mit Rucksack und wehender blonder Mähne hinterher.

    Hey Leute, wow! Es geht los! Ich werd verrückt! Lachend schmiss sie erst ihren Rucksack, dann sich selbst auf die Rückbank, während die Männer mit den Koffern herumhantierten, um schließlich festzustellen, dass die kleineren Gepäckstücke alle mit auf die Rückbank mussten. Cristis Bruder steckte zum Abschied den Kopf durchs Fenster und drückte seiner Schwester zwei schmatzende Küsse auf. Tschau Mädels! Und nicht vergessen: nie ohne Gummi!

    Er konnte gerade noch rechtzeitig seinen Kopf zurückziehen. Vater Sánchez hatte einen Kavaliersstart hingelegt, der sich gewaschen hatte. Lachend winkte Ritchi dem davonbrausenden Auto hinterher.

    Isabel versuchte, der peinlichen Situation zu entkommen, indem sie stur aus dem rechten Seitenfenster blickte. María José, die hinter ihr saß, tat es ihr gleich. Sogar Cristis Euphorie schien erst einmal gebremst.

    Isabel ertappte sich dabei, wie sie den Anhänger ihrer neuen Goldkette zwischen den Fingern zwirbelte. Verrückt, dass ausgerechnet Tante Alicia und Cristis flegelhafter Bruder mit Deutschland Ähnliches zu assoziieren schienen. Und Dolores? Isabel hatte beschlossen, ihr Abschiedsgeschenk erst nach ihrer Ankunft zu öffnen; es steckte tief in ihrem Koffer.

    Sie fuhren aus dem Dorf hinaus. Die Sonne hatte die unbestellten Felder bereits mit hellem Licht getränkt; ein weiterer Tag, an dem sie auf die ausgedörrte, ungeschützte Erde niederbrennen würde, als wolle sie sie nie wieder ergrünen lassen. Das Gestrüpp in den Straßengräben flog wie ein wirres, ausgefärbtes Band vorbei, vertrocknet, verblichen und spröde wie Zunder.

    Isabel, darauf bedacht, ihre Nervosität zu bezwingen, ließ ihren Blick den sanften Schwingungen der Hügel folgen. Sie verlor sich in Schattierungen und bewunderte das beachtliche Farbenspektrum der unwirtlichen Landschaft. Helles Grau ging in Ocker, Sepia in Zinnober über; hier und da eine rostbraune Zunge, die einen Hang hinunterleckte.

    Ihr Vater hatte das Radio angemacht und hörte mit zusammengezogenen Augenbrauen die Nachrichten, so war jedenfalls anzunehmen. Er fuhr schneller als gewohnt und Isabel fragte sich, ob es an seinem Ärger oder an der schlechten Zeitplanung lag. Er hatte sie gestern souverän übernommen und mehrmals versichert, sie hätten Puffer genug, um den Euro-Bus in Sevilla um zehn bequem zu erreichen.

    Als der Nachbarort in Sichtweite kam, entschied Cristi, dass die Karenzzeit der Peinlichkeit verstrichen sei. Hier riecht's aber verdächtig nach Tortilla, ist die ganze Tasche damit voll? Will hier irgendwer in Deutschland einen Tortillastand eröffnen oder was?

    Das wär doch der ideale Job für dich, meinst du nicht? Herr Sánchez hatte also doch noch nicht verdaut.

    Cristi manövrierte sich umgehend ins nächste Fettnäpfchen. Keine schlechte Idee, im Eieraufschlagen war ich schon immer spitze!

    Isabel schloss für einen Moment die Augen. Lieber Gott, mach, dass sie einfach mal ihr Schlappmaul hält. Ihr Vater murmelte: Daran hab ich nicht den geringsten Zweifel. Leichtes Kopfschütteln.

    Während der Rest der Fahrt hing ein ungutes Schweigen im Innenraum des silbergrauen Opel. Isabel hatte das Fenster geöffnet; unschuldig verflüchtigte sich der konzentrierte Tortilladuft über den Feldern der Campiña.

    -----------------------

    Nach einer guten Stunde Fahrt näherte sich der Ford Transit noch vor dem Morgengrauen seinem Ziel. Zwei Kilometer auf einem staubigen Feldweg lagen hinter ihnen, als sich die Konturen des cortijos auf einer Anhöhe schwarz gegen den Himmel abzeichneten; ein kräftigen Strahler beleuchtete das riesige Eingangstor. Sie fuhren in den weitläufigen Hof, von mehreren freistehenden Gebäuden gesäumt. Kurz darauf traf María ein, parkte neben ihnen; nach und nach folgten die Autos weiterer Arbeiter.

    Der alte Hofhund zerrte mit aufgestelltem Nackenhaar unruhig an seiner Laufkette, während ein paar kleinere Vierbeiner neugierig die Neuankömmlinge beschnupperten; angesichts der Vielzahl von Düften aufgeregt um sie herumschwänzelten. Durch das große Scheunentor war der Verwalter auszumachen, der im Schein einer kleinen Lampe hinter einem alten, monumentalen Schreibtisch thronte und die anwesenden Arbeiter eintrug. Pedro El Capitán legte ihm den Zettel mit den Namen seiner cuadrilla vor, kontrollierte mit scharfem Blick, dass alle registriert wurden.

    Auf dem Hof begrüßten sich die Arbeiter. Männer schüttelten Hände, klopften Schultern; Gerüchte über Arbeitsbedingungen und Erntemengen gingen hin und her. Die Frauen, in bequemen Baumwollhosen, ausgewaschenen, sorgsam gebügelten T-Shirts, das Haar mit Tüchern oder Kappen gebändigt, empfingen mit Küsschen links, Küsschen rechts, mit Umarmungen. Sie hatten genug Erfahrung in der Olivenernte, um ihr gelassen entgegenzusehen. Wussten, wie man mit flinken Händen die Früchte von den Zweigen kämmte, die Körbe füllte, die Leitern stellte. Sie hatten das Frühstück für sich und ihre Männer eingepackt, das Pausenbrot ihrer Kinder und das Essen für den heutigen Tag vorbereitet, schnell noch die Wäsche aufgehangen. Wenn sie später nach Hause kamen, wartete eine weitere Schicht auf sie. Und sie schafften es, wie jedes Mal, wenn es auf's Land ging. Und wenn sie an die Grenzen kamen, den Tränen nahe, dann sangen sie, um nicht weinen zu müssen. Sollte ihnen nur ein Vorarbeiter quer kommen, den würden sie schon sonst wohin schicken.

    Traktoren sprangen an, cuadrillas wurden verteilt, die offenen Anhänger mit Leitern, Kisten und Tüchern beladen. Frühstückstüten und mit Isolierschaum umhüllte Wasserflaschen in den Pflückkörben, kletterten die jornaleros hinterher.

    In Andalusien hat es die Sonne eilig, Tag werden zu lassen. Kaum dass Pedros cuadrilla sich auf den Weg gemacht hatte, fielen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen auf Lolas Arm, verfingen sich in Ricos lockigen Strähnen.

    Der erste Tag, wenn es in die Olivenhaine hinausging, war immer wieder etwas Besonderes. Die Hände auf den vibrierenden Rand des Anhängers gestützt, die Schlaglöcher in den Knochen, den Duft der Erde tief in den Lungen, holte sie wieder das Gefühl ein, das ihnen im grellen Licht des nüchternen Alltags so oft zu entgleiten drohte. Auch wenn sie wussten, dass es nicht zu halten war, hielt ein jeder einen Moment daran fest. Es machte sie stark, stolz, dazuzugehören, zu dieser Generation der Landarbeiter, längst auf die Rote Liste gesetzt.

    Pedros cuadrilla begann ihre Arbeit am südlichen Ende der Finca. Er wusste, wo er zu halten hatte zwischen den endlosen Reihen der Olivenbäume. Die Stimmung veränderte sich in dem Moment, in dem mit dem Abladen begonnen wurde. Die Erfahrung langer, harter Ernteeinsätze verwandelte den bunten Haufen in eine aufeinander abgestimmte Maschinerie geübter Handgriffe, eingespielter Bewegungen. Leitern wurden gestellt, die großen Tücher ausgelegt, Kisten verteilt. Die Füße auf den Holzsprossen, verschwanden Köpfe, Oberkörper, Arme im ausgebleichten Mattgrün der Bäume, ließen die Zweige zittern und schwanken. Oliven fielen hart und grün in die Körbe, ihr Gewicht straffte die Nackengurte.

    Pedro atmete auf. Seine Gedanken waren seit einigen Tagen um die Zusammenstellung der Paare gekreist; wie Figuren auf einem Spielbrett hatte er Frauen und Männer hin- und hergeschoben. Heute morgen hatte er sich mit mehrmaligem Kopfnicken selbst bestätigt: so und nicht anders.

    Er besaß keinen Schulabschluss, der Kugelschreiber brachte nie das auf das Papier, was er sich im Kopf ausgemalt hatte, doch eine cuadrilla zusammenstellen, das konnte er. Und er wusste, dass eine geschickte Kombination die halbe Miete war. Wenn der Trottel von Agraringenieur in seinen Safariklamotten aus dem Corte Inglés meinte, es reiche, die guten mit den schlechteren Pflückern zusammenzustellen, fühlte sich Pedro nur wieder bestätigt, dass diese studierten Korinthenkacker aus der Stadt sowieso keine Ahnung hatten.

    Nun gut. Dass der alte Nicolás Miguelito El Dormilón unter seine Fittiche nahm, stand fest. Aber was half es, die flinken Hände von María mit dem kräftigen, aber etwas behäbigen Luis in einen Baum zu schicken, wenn er sie mit seinen doppeldeutigen Bemerkungen so lange piesakte, bis sie ihm ihren vollen Pflückkorb über den Schädel zog? Wie sollte er Ramón mit Antonio arbeiten lassen, wurde doch in den Kneipen erzählt, dass er seinem Schwager eine defekte Motorsäge untergejubelt habe und sie sich fast geprügelt hätten! Na, und Elena und Rico – nicht dran zu denken. Da war mal was gelaufen, was nicht gut geendet hatte.

    Als der erste Schweiß dunkle Flecken in die Hemden färbte, die ersten Kisten gefüllt waren und die Wasserflaschen herumgereicht wurden, löste sich die Spannung. Pedro hatte seine Augen überall, spürte, wie die cuadrilla funktionierte. Es lief erst einmal, wie es zu laufen hatte. Miguelito, ja, der wünschte sich schon jetzt auf einen anderen Stern, sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Es musste sich noch herausstellen, ob er was taugte.

    Das Brummen des Jeeps kam langsam näher, Pedros Pfiff durchschnitt die Luft. Nicolás wies Miguelito an, kurz zu verschnaufen, um beim Eintreffen des Aufsehers mit gesammelten Kräften loszulegen.

    Eine Schar aufgescheuchter Rebhühner jagte langhalsig über die trockenen Erdklumpen davon, der klotzige Geländewagen hielt in einer Staubwolke. Der Aufseher verströmte das Flair eines paramilitärischen Generals, als er mit verkniffenem Gesicht, die khakifarbene Arbeitshose in die schwarzen Stiefel gestopft, näher kam. Über dem breiten Gürtel spannte sich ein gut genährter Wanst.

    Er nickte Pedro mürrisch zu und steuerte direkt die randvollen Kisten an. Was ist das denn hier? Die Schlafkolonne aus Roconda? Ist das alles, was ihr bislang runtergeholt habt? Er stiefelte mit großen Schritten an den Olivenbäumen entlang und trieb die auf Hochtouren pflückende cuadrilla an: Los, los, los, los! Meint ihr, ihr werdet hier für's Rumgammeln bezahlt? Was ein lahmer Haufen, verdammt, für die paar Kisten lohnt es sich ja nicht mal, den Traktor zu bewegen! Ein bisschen mehr Dampf, sonst könnt ihr gleich wieder in euer Kuhkaff zurückfahren, es warten genug andere auf einen anständigen Arbeitsplatz!

    Als er an Miguelito vorbeikam, der in blindem Aktivismus wie ein Wilder an den Zweigen herumriss und mehr Blätter als Oliven in seinen Korb beförderte, blieb er stehen, stützte die Hände in die Hüften und sagte mit spöttischem Lächeln: Ja, was haben wir denn da für einen! Spielst du Agent Orange oder was? Pass mal auf, dass dich die Yankees nicht in ihren nächsten Vietnamkrieg mitnehmen!

    Er war der Einzige, der über seinen Witz lachte, während Miguelito noch ein bisschen höher in den Baum kroch. Kopfschüttelnd ging der Aufseher weiter, um sich dann vor Elena aufzupflanzen, die am Boden kniend mit der Nachlese beschäftigt war. So hab ich's gerne, immer schön auf die Knie, wenn der Boss euch einen Besuch abstattet!

    Sein überhebliches Lachen ließ Elena mit zusammengebissenen Zähnen und ohne den Blick zu heben an sich abperlen. Nur nicht provozieren lassen, nicht am ersten Tag; sie brauchte diese Arbeit, genau wie die anderen compañeros aus ihrer cuadrilla. Dieser Hurensohn würde es schon irgendwann heimgezahlt bekommen.

    Pedro war zur Stelle. Er kannte die Spielchen, denen man sich auf neuem Terrain aussetzen musste, wusste, wie die Hofhunde der Señoritos bellten. Sie hatten in der ersten Stunde sechzehn Kisten gepflückt und damit lagen sie gut, daran zweifelte er auch nach dem Gestichel von diesem arroganten Großkotz nicht. Sollen wir die Reihe bis zum Ende da oben ernten oder vor dem Weg kehrt machen?, lenkte er das Gespräch auf neutralen Boden.

    Ihr macht vor dem Weg kehrt, da oben arbeitet die cuadrilla aus Villamartín, die übrigens schon das Doppelte gepflückt hat wie ihr.

    Pedro überging die Provokation, nickte nur und hob, im Versuch, das Gespräch zu beenden, die Hand zum Gruß an seine Kappe.

    Der Aufseher drehte nun auch wirklich ab. So, und jetzt ein bisschen mehr Tempo, sonst war das euer erster und letzter Tag hier, faule Bande! Damit stiefelte er zu seinem Jeep Cherokee zurück, klemmte sich hinter das Lenkrad. Das Gaspedal wurde ordentlich durchgedrückt, damit diese Hungerlöhner mal mitkriegten, wer hier die PS unterm Arsch hatte.

    Die Staubwolke war noch nicht am Absinken, als sich die Ersten bereits Luft machten. Aufgeblasener Saftarsch, dem sollte man jede Olive einzeln hinten reinstecken, bis er an Verstopfung verreckt! Rico spuckte aus.

    Elena knallte ihren ausgeleerten Pflückkorb auf den Boden und kramte eine Zigarette aus ihrer kleinen Hüfttasche. Dem geilen Bock würd ich am liebsten die Eier abschneiden und dem Hofhund zum Fraß vorwerfen!

    Die stinken wahrscheinlich so, dass sie nicht mal der Hofhund frisst, zischte María. Lass die Eier lieber dran und schmeiß den ganzen Kerl den Schweinen vor!

    Und wenn er dann verwurstet ist, lad ich euch zum Grillen ein!, tönte Antonio.

    Sie entluden Ärger, Wut, Ohnmacht. Miguelito, von dem alle Spannung abfiel, als vom Jeep nur noch ein Staubwölkchen in der Ferne zu sehen war, lachte Tränen und konnte sich kaum auf der Leiter halten. Pedro rief zur Ordnung. Genug jetzt, an die Arbeit! Wollen wir denen aus Villamartín mal zeigen, was eine cuadrilla aus Roconda ist!

    Schnell waren sie wieder in ihre Arbeit vertieft. Die Sonne brannte auf die Baumreihen, Stille legte sich über das Land. Ramón stimmte einen cante jondo an. Seine kräftige, kehlige Stimme drang weit in den endlosen Olivenhain, und tief, einem erotischen Streicheln gleich, durch die schweißnasse Haut.

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    Es war nun schon die dritte Ampel auf der sechsspurigen Hauptverkehrsachse La Palmera, die auf Rot umsprang. Isabels Vater fluchte vor sich ihn, während sich die Digitaluhr gefährlich der Abfahrtszeit des Europabusses näherte. Isabel spürte seine Nervosität, was ihren Adrenalinspiegel noch zusätzlich beflügelte. Oh Mann, Papá, wir sollten eigentlich eine Viertelstunde vor der Abfahrt da sein! Ich seh schon kommen, dass die ohne uns starten.

    Ach Quatsch!, redete er gegen seine eigene Überzeugung an. Die werden doch wohl auf drei Fahrgäste warten, und Raquel weiß ja auch, dass wir kommen. Ruf sie doch kurz an, dass wir ein paar Minuten später da sind!

    Isabel wählte ihre Nummer. Geht nur die Sprachbox dran.

    Was soll das heißen?

    Soll heißen, dass Raquel entweder ihr Handy ausgeschaltet hat oder keinen Empfang hat.

    Schöner Mist! Ich möchte wirklich mal wissen, wofür ihr die Dinger braucht, wenn sie im Notfall doch nicht funktionieren!

    Die letzte Ampel nahm er bei Dunkelgelb, um dann im Halteverbot gegenüber dem langgestreckten, modernen Betongebäude des Busbahnhofs zu parken. Los, chicas, nehmt die Beine in die Hand und vergesst jetzt bloß nichts im Auto, ich such schnell einen Parkplatz und komm dann nach.

    Die drei rannten, so gut es eben ging, mit Rollenkoffern und sonstigen Gepäckstücken über die Straße, rumpelten über Pflaster- und Bordsteine die Rampe zur Eingangshalle hinauf. Cristi nutzte ihren Vorsprung, um auf der Anzeigetafel den Bussteig herauszusuchen. Die Rolltreppe war außer Betrieb und mit einem fluoreszierenden Absperrband versehen, so wuchteten sie ihre schweren Koffer Stufe für Stufe die breite Steintreppe hinunter.

    Busse standen mit laufendem Motor abfahrbereit, unter dem Dach fingen sich Lärm und Abgase. Wartende belagerten Bänke, bildeten Schlangen vor Bustüren. Parkbucht 24 war leer.

    Verdammt noch mal, er ist schon weg, ich glaub's einfach nicht! Isabel fühlte sich in einer unguten Art mitschuldig.

    Du glaubst es nicht? María José stand hinter ihr. Wir sind eine Viertelstunde zu spät, was denkst du denn? Dass ein Europabus auf die letzten Dorfdeppen aus Roconda wartet?

    Plötzlich entdeckten sie Raquel zwischen den Wartenden, sie war aufgesprungen und fuchtelte wild mit den Armen herum. Auch zu diesem Anlass war sie ihren schwarzen Grufti-Klamotten treu geblieben, wie Isabel mit einer Mischung aus Groll und Neid registrierte. Sie verwischten die Konturen ihres fülligen Körpers zu einer dunklen, amöbenartigen Gestalt, die sich jeder Klassifizierung entzog. Die schwarze Umrandung ihrer Augen war etwas stärker ausgefallen als gewohnt, und es schien auch noch ein Piercing an der rechten Augenbraue hinzugekommen zu sein. Ihre pechschwarzen Haare waren auf einer Kopfseite dem Rasierer zum Opfer gefallen, was dem Rest, der lang über ihrem flatterigen Hemd hing, nichts an Fülle nahm.

    Da seid ihr ja endlich! Mann, hatte ich einen Schiss, dass ihr nicht mehr kommt! Ich sitz hier schon eine geschlagene Stunde rum, gerade haben sie durchgesagt, dass der Bus Verspätung hat, kommt aber wohl bald.

    Erleichtert fielen sie sich in die Arme, schnatterten aufgeregt durcheinander.

    Herr Sánchez hechtete die Treppen herunter und kam heftig atmend bei ihnen an, in einer Hand die Leinentasche.

    Er hat Verspätung, Pa, da haben wir noch mal Glück gehabt!

    Hab ich mir doch gleich gedacht, glaub bloß nicht, dass in Europa die Uhren anders gehen als bei uns! Schnaufend gewann er von einem Moment auf den anderen wieder Oberwasser. Reichte Isabel die Tasche. Das Fresspaket deiner Mutter hast du im Auto liegen lassen; wenn das wieder in Roconda gelandet wäre, deine Mutter hätte die Scheidung eingereicht, das sag ich dir. Missmutig nahm er das Outfit Raquels wahr, begrüßte sie gewohnt bissig. Da werden sich die deutschen Vampire aber freuen, dass im Zuge der Globalisierung ein bisschen frisches Blut ins Land kommt!

    Raquel quittierte die Bemerkung mit einem gleichgültigen, blassen Gesichtsausdruck.

    Herr Sánchez schaute sich um. Direkt neben ihm belagerte ein Gitanoclan mit seiner Schar Familienmitgliedern gleich zwei Sitzbänke zwischen einem unübersehbaren Haufen an Taschen und Einkaufstüten. Die älteste der Frauen thronte breit, die Ruhe selbst, in der Mitte des Ensembles.

    Es mochte ihr Sohn sein, der ohne Zweifel die Autoritätsperson der Sippe gegenüber dem Rest der Welt verkörperte. Eine dicke Goldkette ruhte in einer seiner Halsfalten, ließ einen schweren Anhänger in schwarze Brustbehaarung baumeln. Sein abweisender Gesichtsausdruck, gebettet auf einem imposanten Stiernacken, warnte Herrn Sánchez, den Blick nicht allzu lange auf einem der Clanangehörigen ruhen zu lassen. Zwei kleine, kaffeebraune Mädchen, die auf die rückwärtige Bank geklettert waren, spielten mit dem dicken, von feinen Silberfäden durchzogenen, schwarzen Zopf der alten Frau, was sie mit einem gefälligen Lächeln geschehen ließ. Die dreckverkrusteten Füße der Kinder, in billigen Gummilatschen, trampelten zwischen den Taschen herum, suchten Halt. Daneben saß die Lässigkeit einer jungen gitana, ihre Schönheit so auffordernd zur Schau stellend, dass Sánchez es vorzog, sich in sein biederes Schneckenhaus zurückzuziehen.

    Auf der anderen Seite stand eine Gruppe junger Marokkaner gelangweilt herum; die mageren Körper hingen kraftlos in billigen Jeans, in schlaffen T-Shirts, als hätten sie jegliche Hoffnung verloren, sie jemals füllen zu können. Bis weit über die Ohren kurzgeschorene Haare, ausdruckslose Mienen. Schwarze Umhängetaschen aus Kunstleder und billige Sporttaschen vor ihnen auf dem fleckigen Boden.

    Herr Sánchez hätte in jeglicher Debatte abgestritten, fremdenfeindlich zu sein. Und gegen gitanos hatte er auch nichts. Schließlich war er ein gestandener Sozialdemokrat; ein Kind der Ära Felipe González'. Und, was vielleicht noch größeren Einfluss auf ihn ausübte, er war der Ehemann einer weichherzigen Frau mit unerschütterlichen Grundfesten in Sachen Hilfsbereitschaft und Menschenwürde.

    Die verhungerten Gestalten, die beim Abendessen tagtäglich halb ertrunken an die Strände Andalusiens gespült wurden, zwei Meter von ihrem Esstisch entfernt, hatten es jedes Mal geschafft, ihnen den Appetit zu verderben. Dass so jemand nun eine Nacht und zwei ganze Tage die Nähe seiner Tochter teilen könnte, rief allerdings Unbehagen in ihm hervor. Seinetwegen konnten die dürren Kerle gern Mama Isabels gesammelten Werke an Tortillas in sich hineinmampfen, wenn sie hungrig waren, aber bitte in gebührendem Abstand.

    Noch mitten in seine Betrachtungen vertieft, wandten sich zwei ältere, zurechtgemachte Damen an ihn, Sevillaner Akzent: Entschuldigen Sie, wollen Sie auch mit dem Europabus Richtung Deutschland fahren? Wissen Sie vielleicht, was da los ist, er sollte doch schon vor einer halben Stunde abgefahren sein?

    Nein, nein, ich fahre nirgends hin, ich hab nur meine Tochter und ihre Freundinnen hergebracht, die auch den Bus nehmen werden. Er hat wohl Verspätung, soll aber gleich kommen.

    Na, das fängt ja gut an! Ihre Fächer wedelten aufgeregt Luft, Wimpern klapperten.

    Endlich rollte ein spärlich besetzter Bus in die Parkbucht. Die ersten Reisenden drängelten ungeduldig zur Tür, wo der Fahrer und sein Begleiter sie mit missmutigen Gesichtern und erhobenen Händen zurückwiesen und sich Platz verschafften. Vor den geöffneten Ladeluken hielten sie die Eiligen zurück, die schon dabei waren, ihr Gepäck hineinzuschieben. Heh, heh, heh, Ticket-Control, Ticket-Control! Tranquilo, eh!?

    Herr Sánchez' Lippen waren fest aufeinandergepresst, als er seine Tochter zum Abschied umarmte. Mit ein paar Ermahnungen verdrängte er die peinlichen Gefühle, die ungebeten in ihm hochkamen. Pass auf dich auf, hörst du? Er konnte nicht dagegen an, noch eine Geste in Richtung der Marokkaner hinterherzuschicken. Und nimm dich bloß in acht vor diesen Typen, die gefallen mir gar nicht! Dann verschwanden Isabel, María José, Cristi und die schwarze Raquel hinter getönten Busscheiben.

    Das Lager der gitanos befand sich inzwischen in Auflösung. Sánchez beobachtete mit Erleichterung, dass sich nur eine der Frauen zum Einsteigen bereit machte, eine etwas verwelktere Ausgabe der jungen Schönheit, die auf der Bank posiert hatte. Der Stiernacken legte das Reiseticket vor und schob mehrere große, karierte Plastiktaschen in den Gepäckraum, während sich die gitana von ihrer Sippe verabschiedete und, ihre langen Röcke raffend, mit unglaublicher Eleganz die Bustreppen erklomm.

    Das sind ja richtige Luxussitze aus Leder und total bequem! Damit fläzte sich Cristi neben Raquel und begab sich erst einmal in die extremste Liegeposition, die der Sitz herzugeben bereit war.

    Isabel versuchte noch, ihrem Vater zuzuwinken, als der Bus aus der Parkbucht rollte. Da stand er und hob seine Hand, ein bisschen verloren und irgendwie kleiner als gewohnt, was an ihrer erhöhten Position liegen mochte, oder an etwas ganz anderem.

    Sie bogen auf den Autobahnzubringer, als Isabel ins Innere des Busses zurückfand. Da saßen sie nun, im Europabus. Sie wusste nicht so genau, was sie eigentlich erwartet hatte; eine kleine Begrüßungsrede vielleicht. Herzlich Willkommen an Bord! Wir fahren sie sicher über 2000 Kilometer durch Spanien, Frankreich, Deutschland… – irgendwas, was das Flair von Fernreisen verströmt hätte. Doch die beiden portugiesischen Busfahrer saßen so uneuphorisch da, als würden sie ihre Fracht mal eben in den nächsten Vorort von Sevilla kutschieren.

    Isabel begutachtete die Mitreisenden. Zwei ältere Sevillanerinnen in der ersten Sitzreihe, in den letzten Reihen der afrikanische Kontinent. Die gitana und vier andalusische chicas auf dem Weg nach Deutschland irgendwo dazwischen. Keine Spur von den vielen jungen Leuten, die laut der Medien scharenweise in die nordeuropäischen Länder strömten, um Arbeit und Ausbildung zu finden.

    Sie wählte die Nummer ihrer Mutter, sie wartete bestimmt auf eine Nachricht von ihr. Erzählte nichts von dem eigenartigen Gefühl, in dem sie schwebte, hielt sich an beruhigende Tatsachen.

    Als sie das Handy in der kleinen Seitentasche ihres Rucksacks verstaute, stieß sie auf das Tütchen ihres Bruders, band die rote Schleife auf. Ein Päckchen Kaugummi, ein paar von den gefüllten Lakritzen, die sie so mochte, ein buntes Band mit ein paar Sicherheitsnadeln und ein Schlüsselanhänger mit einem kleinen Foto von ihm, mit breitem Grinsen und Zahnlücke. Sie würde ihn vermissen, den kleinen Kerl.

    María José lächelte. Na, da hat aber einer an dich gedacht, was?

    Isabels Blick fiel aus dem Fenster. Die Vororte, die sich um Sevilla scharten, schienen all das Hässliche aufzunehmen, dem die stolze Stadt keinen Platz gewährte. Ausgedehnte Industriegebiete, Lagerhallen, Einkaufszentren mit riesigen Parkflächen, ein paar Mietskasernen. Dazwischen aufgegebenes Niemandsland, Bauschutt, staubige Flächen, verdorrtes Gestrüpp. Durch all das bahnte sich der alltägliche Strom Tausender Autos seinen Weg über die Schnellstraßen; Menschen in Blech auf dem Weg nach irgendwo. Ein einzig deprimierender Anblick.

    Ein großes Schild am Rande der Autobahn kündigte den Beginn der 'Ruta de la Plata' an, der Silberstraße, die Andalusien mit dem Norden Spaniens verband, und die nicht nur über Jahrhunderte vom Gold,- Silber- und Erzhandel ausgetreten worden war, sondern auf der auch von Geschichtslehrern gern und ausführlich herumgelaufen wurde. Durch Isabels Kopf geisterten flüchtige Erinnerungen an einen bärtigen Junglehrer in einem überhitzten Klassenzimmer.

    Linkerhand tauchte das Kloster von Santiponce auf. Auch dort hatte sich ihr Geschichtslehrer in Schwärmereien verloren, als sie bei einem Schulausflug die imposanten Reste der römischen Stadt Itálica besuchten. Lange hatten sie alle auf das Ende der Schulzeit hingelebt, ohne auf das Loch gefasst zu sein, das sich im letzten Jahr vor ihnen aufgetan hatte.

    Die unbeschwerte Lache Cristis riss Isabel aus ihrem historischen Abtaucher. Sie blickte zu María José hinüber. Meinte, bei ihr auf Verständnis stoßen zu können. Fühlst du dich auch so…?

    María José nickte langsam. Ich fühl mich total zerrissen. Am liebsten würde ich umkehrn. Und wenn ich mir vorstelle umzukehren, fühlt es sich auch nicht richtig an.

    Isabel wagte sich, ihre Hand zu drücken, womit sie ihr ein schüchternes Lächeln entlockte, bevor sie ihr Deutschheft herausholte, ihre Kopfhörer einstöpselte und sich hinter ihrer großen Brille in die Labyrinthe der deutschen Sprache vertiefte.

    Bald verließen sie die flachen, kargen Agrarflächen, tauchten in die ausgedehnten, hügeligen Weideflächen der Sierra Norte. Die veränderte Landschaft mit seinem lockeren Steineichenbestand in dunklem Grün verstärkte Isabels Gefühl, etwas hinter sich zu lassen. Es war nicht mehr weit bis zur Grenze nach Extremadura.

    Adiós, mi Andalucía. Ein Flüstern.

    Nach zwei Stunden Fahrtzeit hielten sie auf einem Rasthof bei Mérida für eine halbstündige Pause. Als sie eintraten, schlug ihnen ein abenteuerliches Gemisch von Gerüchen entgegen. Reste von Frühstücksdüften wurden von den ersten warmen Tapas verdrängt, dazwischen das kräftige Aroma der an der Decke hängenden Schinken. Hunderte von Busreisenden belagerten Theke, Tische und Toiletten; ihre durcheinanderschwirrenden Stimmen mischten sich mit dem Zischen der Kaffeemaschine, dem Geklapper von Tellern und einem überlauten Fernsehapparat.

    Sie hatten Mühe, die Aufmerksamkeit eines Kellners auf sich zu ziehen, bis Cristi endlich den Blick eines Mannes mittleren Alters einfangen konnte, bis zum letzten Knopfloch seiner gestreiften Weste Profikellner. In unglaublicher Geschwindigkeit flogen seine Hände zwischen Kaffeemaschine, Tassen, Zapfhahn, Besteck, Brotkörben und gefüllten Tellern hin und her, während er Bestellungen aufnahm, durch die Luke an die Küche weiterorderte, Eiswürfel in Gläser schmiss, Bezahlungen entgegennahm, und bei all dem die herumhastenden Kollegen elegant umkurvte. Seine gegelten Haare waren pechschwarz wie sein Schnurrbart. Was darf's sein meine Schönen?

    Zwei Serranitos und vier Dosen Cola bitte!

    Schon unterwegs! Er knallte mit einer Hand die eiskalten Dosen auf die Theke, während er mit der anderen Besteck und Brotkorb hinstellte.

    Isabel und María José kamen von der Toilette zurück, schnappten sich ihre Coladosen. Wenn ihr auf's Klo wollt, macht hin, da ist 'ne ziemliche Warteschlange. Papier gibt’s keins und die Hälfte ist zugeschissen.

    Esst ihr denn nichts?, fragte Raquel.

    Nee, ich brauch erst mal frische Luft. Außerdem hat meine Mutter mir ein Riesenfresspaket mitgegeben, das reicht bis Deutschland und zurück, da könnt ihr auch noch was von abhaben.

    Sie warteten auf den Stufen im Schatten des großen Vordachs. Isabels Blick wanderte. Auf einem Terrassenstuhl saß die gitana, kaute Sonnenblumenkerne, deren Schalen sich um ihre nackten, braunen Füße sammelten. Ihr Gesicht gleichgültige Traurigkeit. Die Marokkaner hockten abseits auf einem Mäuerchen, von einem ausladenden Johannisbrotbaum beschattet. Die Gesichter ernst, stumm, verloren sich ihre Blicke im Rauch der Zigaretten, warfen ihre Gedanken wer weiß wohin, spiegelten Unnahbarkeit.

    Isabel sah die Busfahrer herauskommen. Der ältere von ihnen noch damit beschäftigt, den Rest der Mahlzeit aus den Zähnen zu stochern, während der jüngere mit konzentrierter Miene telefonierte. Isabel hatte ihn vom ersten Moment an als dankbares Karikaturobjekt erkannt. Sein schmaler Kopf, die leicht gebogene, zu groß geratene Nase mit den ausladenden Nasenflügeln, die aufgeworfenen Lippen, die von Zeit zu Zeit seine schlechten Zähne freilegten, hatten etwas kamelartiges. Wie er nun auf dünnen Beinen, mit leicht nach innen gestellten Knien auf flachen, langen Slippern zum Bus ging, spitzte Isabel innerlich den Bleistift.

    Die Fahrgäste tröpfelten heran; letzte hastige Züge an halbgerauchten Zigaretten, Gliederstrecken, Dosenleertrinken. Cristi und Raquel fehlten.

    Die sind bestimmt noch mit ihren Serranitos beschäftigt. María José wählte schnell Cristis Handynummer.

    Alle da? Der Busbegleiter ging zählend durch die Sitzreihen. Wo sind die zwei Señoritas?

    Ich hab ihnen schon Bescheid gesagt, sie sind auf dem Weg.

    Verärgert machte er kehrt, ging nach vorn und drückte mehrmals hintereinander auf die Hupe. Fast gleichzeitig kamen Cristi und Raquel durch die Glastür gestürmt, eilten herumalbernd über den Parkplatz. Der Busbegleiter empfing sie schroff. Hier pünktlich, verstanden? Nächste Mal warten no.

    So pünktlich wie wir heute Morgen in Sevilla losgefahren sind?, konterte Cristi.

    Mit sichtlichem Ärger entlud er einen Wortschwall Portugiesisch, was Raquel mit ihrem sagenhaft überheblichen Gesichtsausdruck quittierte, während sie, gefolgt von Cristi, an ihm vorbeidrängelte.

    Isabel fühlte wie immer, wenn sie Zeugin von Cristis losem Mundwerk, ihrer Selbstsicherheit, ihrem mangelndem Respekt anderen gegenüber wurde. Ein ambivalentes Gemisch aus heimlicher Bewunderung angesichts ihres Mutes und ängstlichem Atemanhalten in Erwartung möglicher Folgen. Neid, nie fähig zu sein, es ihr gleichzutun, und satte Befriedigung, wenn jemand vor den Kopf gestoßen wurde, der es verdient hatte. Wie dieses Kamelgesicht.

    Cristi und Raquel kamen grinsend vorbei und setzten sich hinter sie. Cristi ahmte mit gedämpfter Stimme nach: Nächste Mal warten no!, dann prusteten die beiden los.

    Irgendwann auf der Weiterfahrt wurde es Zeit für die Leinentasche. Isabel manövrierte sie mit Mühe aus dem oberen Gepäckfach, stellte sie auf ihren Sitz und öffnete die erste Tupperdose. Eine dicke, goldglänzende Kartoffeltortilla mit frittierten Paprikastücken breitete ihren Geruch rücksichtslos über mehrere Sitzreihen aus. Sie war bereits in tortenartige Stücke geschnitten, die Isabel nun mit Papierserviette und einem Stück Weißbrot verteilte. Die leichte Kopfdrehung der gitana ließ Isabel vermuten, dass der Duft auch bei ihr angekommen war. Sie reichte ihr ein besonders dickes Stück mit zwei Scheiben Brot, was sie ohne Zögern entgegennahm. Doch ihre Traurigkeit schien ihr nicht einmal jetzt ein Lächeln zu erlauben. Ein kurzes Aufleuchten ihrer großen Augen und ein gehauchtes gracias waren alles, was sie Isabel entgegenbringen konnte.

    Es ging an den Kartoffelsalat. Mamá Isabel hatte vorsorglich mehrere Plastikgabeln eingepackt und so kreiste die Tupperdose nun, bis nur noch ein paar ölige Kleckse zurückblieben. Das war gut, es lebe deine Mamá! Und jetzt bin ich reif für eine Siesta. Damit wischte sich Raquel den Mund ab, stellte die Rückenlehne nach hinten und schloss die schwarz umrandeten Augen.

    Als Isabel die Tasche verstaut hatte, holte sie die Mappe mit Papieren aus ihrem Rucksack. Cristi, die zusammen mit ihr bei einem Catering-Unternehmen irgendwo in Deutschland einen Arbeitsplatz angeboten bekommen hatte, bat María José, den Platz zu tauschen. Bislang wusste sie nicht viel mehr von ihrem Arbeitsplatz als die Höhe ihres Stundenlohns.

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    Manuel Sánchez hatte mit viel Mühe sein Auto aus der engen Parklücke bugsiert und fuhr nach einem unerlaubten Wendemanöver auf der Avenida La Palmera stadtauswärts. Seine Gedanken hingen dem Bus hinterher, der in entgegengesetzter Richtung Sevilla verließ. Er sah das Bild Isabels vor sich, wie sie hinter der getönten Scheibe die Hand hob; er ging ihm nahe, dieser Abschied.

    Als Deutschland zum ersten Mal Thema wurde – es war ein milder Abend und es gab die erste dieser wunderbaren Spargeltortillas des Frühlings – war er mühelos in die Rolle des freimütigen, toleranten Vatertyps geschlüpft, um den Isabels Freundinnen sie bestimmt beneideten. Deutschland? Warum nicht! Da kannst du nur dazulernen, deinen Horizont erweitern, deine Zukunft aufbauen! Deutschland ist doch führend in Europa, das kann nie verkehrt sein! Und wenn du erst mal Deutsch kannst…

    Seine Frau hatte ihn stumm gemustert. Vielleicht wusste sie damals schon mehr als ihr weltoffener Ehemann – im Moment jedenfalls plagten ihn einige Zweifel, ob das alles so richtig war. Ihm, der sich so gern als Fels in der Brandung sah, war ziemlich mulmig zumute.

    Er konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, als er die rote Ampel und das gefährlich nahe Fahrzeugheck vor sich realisierte. Um Haaresbreite. Me cago en la mar! Verdammt, gerade noch mal gut gegangen! Sein Herz galoppierte, er wechselte die Fahrspur. Der Anzugtyp in seinem SUV neben ihm bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und leichtem Kopfschütteln. Sánchez rächte sich mit einem Blitzstart, als die Ampel umsprang.

    Erst gegen zwölf kam er an seinem Arbeitsplatz in der Aluminiumwerkstatt González & Söhne an. Sein T-Shirt hatte im Verlauf des Vormittags einige Schweißausbrüche überstehen müssen; er war froh, im Spind noch ein frisch gewaschenes Hemd mit Firmenaufdruck vorzufinden.

    Die ausgefallenen Stunden würde er bei Gelegenheit mit Überstunden kompensieren. Allerdings kam es nur noch selten vor, dass in ihrem Betrieb länger gearbeitet werden musste; im Gegenteil, die Auftragslage hatte sich nach der Flaute der letzten Jahre immer noch nicht erholt, und die auf den festen Stamm zusammengeschrumpfte Mitarbeiterzahl konnte nur mit Mühe gehalten werden.

    Auch in den drei Stunden bis Feierabend war er mit seinen Gedanken nicht unbedingt bei den Fensterrahmen, die er bearbeitete. Er hatte genügend Routine, um die Arbeit seinen Händen zu überlassen, während sein Kopf eher abwesend war. Als er schließlich in sein aufgeheiztes Auto stieg, meinte er, dass ihm immer noch eine Spur Tortillageruch um die Nase wehte.

    Zuhause wartete Neugier. Sein Mittagessensbericht fiel durchweg positiv aus; toller Bus, nette Leute die Mitreisenden, zwei kompetente Busfahrer, alles bestens. Ein bisschen Verspätung, aber nicht weiter tragisch. Warum sollte er seine Frau unnötig mit Kleinkram beunruhigen? Und auch er fühlte sich gleich um einiges besser.

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    Der erste Arbeitstag ging seinem Ende entgegen. Der Frontlader manövrierte die gefüllten Container auf den Lkw, der auf einem der Hauptwege parkte.

    Pedro war zufrieden. 2300 Kilo hatten sie von den Bäumen geholt. Der erste Tag war wichtig, war wie eine Messlatte, um den Verlauf der diesjährigen Olivenernte einschätzen zu können. Morgen würden sie weniger pflücken; am zweiten Tag bremsten die Schmerzen. Miguelito würde nur schwer aus dem Bett kommen; er brauchte auf dem Heimweg ein paar aufmunternde Worte, damit er morgen überhaupt auftauchte.

    Pedro war sparsam mit lobenden Worten. Keiner aus der cuadrilla erwartete sie. Wenn er seine Arbeiter nicht antrieb, fluchte und herumpolterte, lief alles bestens. Ein Kopfnicken, ein Schulterklopfen, sein Lachen, wenn Luis einen seiner dreckigen Witze erzählte, war genug für die, die seit Jahren mit ihm in die Oliven fuhren.

    Der gröbste Staub wurde von den Hosen geklopft, Kappen ausgeschlagen, Olivenblätter aus den Hemdtaschen geklaubt, bevor sie erschöpft ihre Sachen zusammensammelten. Rico entging nicht, dass Luis' Blick an Elenas Rundungen hängen blieb, als sie vor ihm auf den Anhänger kletterte. Ihm ging es ja selbst nicht anders. Mit etwas Wehmut dachte er an die Zeit, als sie ein Paar waren und sich verliebt die Nächte um die Ohren geschlagen hatten. Luis saß zufällig auch noch direkt neben ihr, als sie Richtung cortijo losfuhren. Die kriegst du sowieso nicht.

    Den ersten Tag hast du überlebt, Miguelito, aber für morgen seh ich schwarz! Rico ließ seine große Pranke auf Miguelitos Schulter krachen, der vor Schmerzen aufschrie. Bist du wahnsinnig! Mir reicht's so schon. Mir tun Körperteile weh, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie hab!

    Wem sagst du das!, stöhnte Luis, der alle

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