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KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte: Ein HALLER-Buch
KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte: Ein HALLER-Buch
KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte: Ein HALLER-Buch
eBook371 Seiten4 Stunden

KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte: Ein HALLER-Buch

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Über dieses E-Book

Die vierunddreißig Autorinnen und Autoren dieser Lost-Places-Anthologie fangen den Schrecken der "verlassenen Orte" in ihren Geschichten ein und würdigen gleichzeitig die Schönheit des Verfalls. Die titelgebende Geschichte "Kindergefängnis" des mehrfach ausgezeichneten Österreichers Peter Paul Wiplinger (www.wiplinger.eu) erzählt in beklemmenden Bildern und in Wiplingers typischer, scheinbar sachlicher Sprache aus einem inzwischen verlassenen Keller heraus von einer gefangenen Kinderseele.
Die achtzehn ästhetischen Fotos von Sebastian Schwarz zeigen Gebäude, in denen sich vergangene Lebensweisen wie untergegangene Kulturen spiegeln, die in einigen Jahren so sicher nicht mehr vorzufinden sind.

Dieser Band 2 zum Thema "verlassener Orte" setzt den Blick auf die Faszination solcher Orte aus dem ersten Band "Die Zukunft und andere verlassene Orte" (ISBN 978 3 95765 197 6) fort und erinnert an das erste Buch aus dem Jahre 2012.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum24. Okt. 2020
ISBN9783957658906
KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte: Ein HALLER-Buch

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    Buchvorschau

    KINDERGEFÄNGNIS und andere verlassene Orte - Sebastian Schwarz

    (Hrsg.)

    KINDERGEFÄNGNIS

    und andere verlassene Orte

    Ein HALLER-Buch

    Außer der Reihe 46

    Corinna Griesbach (Hrsg.)

    KINDERGEFÄNGNIS

    und andere verlassene Orte

    Ein HALLER-Buch

    Außer der Reihe 46

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: November 2020

    p.machinery Michael Haitel

    Titelbild: Sebastian Schwarz

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Lektorat: Corinna Griesbach

    Korrektorat: Michael Haitel

    Herstellung: global:epropaganda

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31, 25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 198 3

    ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 890 6

    Vorwort | Michael Haitel

    Als damals der HALLER 7 zum Thema der »verlassenen Orte« erschien, wusste keiner von uns – weder Corinna noch ich –, was sich daraus entwickeln würde. Der HALLER selbst war eine gut bestückte, aber nicht außergewöhnliche Ausgabe, was den Umfang anging. Ein HALLER eben.

    Aber die Geschichten, die sich auf Corinnas Schreibtisch angesammelt hatten, waren nicht nur zahlreich, sondern qualitativ auch zu schade, um sie zu ignorieren, sie nicht zu veröffentlichen. Ein Taschenbuch daraus zu machen, war naheliegend. Es gab keine Diskussionen über die Frage, ob oder ob nicht. Es gab nur Detailfragen.

    Klammheimlich entwickelte sich ausgerechnet dieses Buch zu einem großen Erfolg. Ganz nebenbei wurde eine Auflage verkauft, die in meinem Verlag nicht an der Tagesordnung war. Das Buch wurde nicht nur beim Schaltungsdienst Lange produziert, sondern auch über Books on Demand (BoD) in Norderstedt. Und das war das Geheimnis.

    Denn die Bücher, die über BoD liefen, tauchten nur – unter anderen Werken – auf den Abrechnungen auf, und niemand achtete da übermäßig drauf. BoD schickte Abrechnungen, überwies Geld, wunderbar. Sehr viel später stellte sich heraus, dass das Buch über BoD – und damit auch über Amazon und andere Plattformen – eine respektable dreistellige Auflage erreicht hatte. Nur die Honorarabrechnung erwies sich als enttäuschend, denn die BoD-Marge war nicht sehr hoch, und die Erlöse, geteilt durch rund fünfzig Autoren …

    Ich muss das nicht weiter ausführen.

    Die neuen »verlassenen Orte« waren ein gezieltes Projekt, kein Zufall, wie damals der vierte Band der Reihe »Außer der Reihe«. Und diesmal standen die Bilder von Sebastian Schwarz von vornherein im Mittelpunkt – und so war auch die nicht ganz gewöhnliche Formatauswahl der neuen Bücher kein Zufall, sondern volle Absicht. Ebenso wie die Tatsache, dass die neuen »verlassenen Orte« in zwei Bänden erscheinen.

    Man gönnt sich doch sonst nichts.

    Michael Haitel

    Winnert, Herbst 2020

    Tiefes Glück | Svea Ninke

    Sie war nicht sicher, ob sie es diesmal rechtzeitig schaffen würde. Die morsche Holztür ging immer schwer auf. Und vor zwei Tagen hatte sie sich auch noch bei dem Versuch die Hand verletzt, den großen Fliedertopf über die Terrasse zu schieben. Seitdem trug sie einen dicken Verband.

    Darauf konnte sie jetzt aber keine Rücksicht nehmen, sie war ohnehin spät dran.

    Helen stieg vorsichtig über die niedrige Gartenmauer und rannte los. Die Garagen entlang, durch das Gebüsch runter zum Fluss, seinem mäandernden Lauf folgend, einhundert Meter, zweihundert Meter, dreihundert Meter, bis die alte Schule plötzlich hinter der nächsten Biegung auftauchte. Ein verfallenes, schlossähnliches Gebäude mit eingestürzten Giebeln und sich gefährlich in den Abgrund neigenden Balkonen. Seit Jahren war dieses verwunschene Prachtstück für die Öffentlichkeit gesperrt.

    Verstohlen warf Helen einen Blick über die Schulter, ob jemand hinter ihr denselben Weg am Fluss entlangspazierte.

    Niemand zu sehen.

    Sie schlug hinter der nächsten Hecke einen Haken und verschwand im dichten Gestrüpp, das sich bis an das verfallene Gemäuer hinzog. Unbeholfen kletterte sie über den kleinen Steinwall, der das Schulgelände an der Rückfront einsäumte. Noch zweiundfünfzig Schritte, dann stand sie vor der Holztür, die sich beherzt gegen das Vergessen stemmte und gleichzeitig alle ungebetenen Besucher ausschloss.

    Nun ja, nicht alle.

    Sie angelte den angerosteten Schlüssel aus ihrer Rocktasche, drehte ihn im Schloss zweimal herum und drückte dann mit ihrem ganzen Gewicht gegen die abgeblätterte Tür. Mist, der Arm mit der schmerzenden Hand kam ihr dabei immer in die Quere. Also das Ganze noch mal mit links. Sie drückte die Klinke nach unten, stemmte sich gegen den Widerstand – und war drin.

    Er würde sicher schon auf sie warten.

    Durch die halb blinden, bogenförmigen Fenster fiel kaum Licht. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, jeder Schritt wirbelte Staubwölkchen auf, die spiralförmig nach oben tanzten.

    Am Ende des langen Flurs stand an einer niedrigen Tür, zu der zwei Stufen nach unten führten, in hübsch gezwirbelter Schrift »Gemeinschaftsdusche«. In längst vergangenen Zeiten hatte die Schule hier unten den Badebereich beherbergt. Nach dem Gymnastikunterricht schrubbten sich die Schüler hier unter den wachsamen Augen der Aufsicht den Schweiß ab, die Tagesheimschüler – Kinder wohlhabender Eltern – durften sogar baden.

    Gedankenversunken strich Helen über den brüchigen Rand der alten Marmorwanne, die immer noch in der Ecke thronte. Aus dem Kippfenster darüber hatte man als Kind sogar einen winzigen Ausschnitt des Flusses sehen können, wenn man es wagte, sich auf dem rutschigen Wannenrand auf die Zehenspitzen zu stellen.

    In der dämmrigen Nische mit den Fußwaschbecken polterte plötzlich etwas zu Boden.

    Helen zuckte zusammen. »Bist du schon da?«, rief sie halblaut durch den wie ein L verlaufenden Saal. Aber nur das Knarzen der Fensterläden in den Scharnieren antwortete ihr. Offenbar frischte der Wind wieder auf. »Bist du im Silentium?«, rief sie noch mal mit gedämpfter Stimme.

    Stille.

    Sie ging den langen Flur zurück, vorbei an den schmalen Alkoven, in denen immer noch kleine Amorstatuen als Weggefährten auf ihren Einsatz warteten. »Eigentlich ganz schön deplatziert in einer Schule«, dachte sie befremdet, »noch dazu in dieser strengen Gemeinschaft. Und dann auch noch im Badetrakt …«

    Sie gelangte zum Knick am Ende des Saals, bog hinter den Fußwaschbecken nach rechts ab und stand vor dem Rundbogen, der in den Ruheraum überging. Acht Liegen aus Stein waren in gleichmäßigem Abstand in einem Halbkreis angeordnet. Über den Boden ringelten sich weiß blühende Ackerwinden, die allen Zeitstürmen zu trotzen schienen. Zwischen den zerbrochenen Fliesen eroberte sich die Natur immer mehr Terrain zurück, sogar einige Lavendelzweige hielten sich am Sockel der Steinbank ganz rechts am Fenster fest und zeigten sich schon ziemlich üppig.

    ›Erstaunlich, dass der Moderboden ihnen genug Feuchtigkeit spendet‹, dachte Helen. Ihr Blick verweilte kurz auf dem fast schon verblühten Fliederzweig, der sich durch die zersplitterte Luke des Dachfensters geschoben hatte, dann tat sie einen Schritt zur Seite – und fiel vier Meter tief.

    Der Sommer kam, der Herbst, der Winter, dann wieder der Frühling, und das Ganze zehn Mal.

    Er war keineswegs sicher, ob es eine gute Idee war, in den kleinen Ort zurückzukehren, der ihm so viel Schmerz zugefügt hatte.

    Nach außen hin hatte man ihm die Verzweiflung nicht angemerkt. Er hatte weiterhin seine Arbeit gemacht, war danach nach Hause gegangen, hatte seine Frau für das Mittagessen gelobt, das Geschirr in die Spülmaschine geräumt, mit den Kindern im Garten rumgetobt. Erst spät nachmittags hatte er sich immer eine Weile zurückgezogen – angeblich, um ein Seminar vorzubereiten. Meist schaffte er es dann gerade noch bis hinter die Tür des Arbeitszimmers, bevor der Kummer ihn wie eine Woge überflutete. Er ließ den Tränen freien Lauf, wartete still und reglos ab, bis der Schmerz zu einer dumpfen Leere geworden war, und starrte dann noch eine Weile aus dem Fenster, runter zum Fluss.

    Nach acht Monaten hatte Elias es nicht mehr ausgehalten und sich einen Vorwand gesucht, um der Familie einen Umzug in die nächstgelegene Großstadt vorzuschlagen. Zu seiner Überraschung stimmten alle, auch seine Frau, ziemlich bald zu.

    Inzwischen hatten sich alle dort gut eingelebt, sogar er selbst. Nun, vielleicht sollte man bei ihm eher sagen, er hatte sich eine Art neues Leben »eingerichtet«, gerade so, wie man sich ein neues Zimmer einrichtet. Im gelungensten Fall ganz passabel anzusehen – aber letztlich ohne jede tiefere Bedeutung.

    Weil alle anderen ihr Glück gefunden hatten und nur er seines verloren hatte, ohne dass irgendjemand die leiseste Ahnung davon haben konnte, kamen keine großen Beschwerden von seiner Familie, als Elias ankündigte, am übernächsten Wochenende einen alten Freund im ehemaligen Heimatstädtchen zu besuchen.

    Und nun saß er also in der gemütlichen Regionalbahn und hörte den Schaffner den so vertrauten Ort ankündigen. Er hob seine Tasche aus dem Gepäckfach, ging zur Zugtür und stieg schließlich als Fünfter der kleinen Warteschlange aus.

    Sofort umfingen ihn die vertrauten Klänge. Der Schulbus vor dem Bahnhofsgebäude hupte mahnend, damit die Nachzügler jetzt mal etwas Tempo zulegten, im Bauhof gegenüber schepperte eine Ladung Steine an ihren Bestimmungsort, auf dem Bauernhof daneben meldete sich ein Hahn zu Wort.

    Kurz packte Elias die Panik. Ob er seiner Unternehmung wirklich gewachsen war? Doch wie von selbst lenkten seine Schritte ihn auf den Weg zum Fluss.

    Als er vor der alten Schule ankam, begrüßte ihn ein baumhohes Schild. »Hier entsteht das neue Schloss-Sanatorium« war darauf zu lesen, und er befürchtete schon, dass jetzt wohl alle Zugänge endgültig versperrt sein würden. Aber dann entdeckte er einen unauffälligen Papierstreifen, der in der rechten Ecke des Schildes aufgeklebt war und verkündete, dass die Bauarbeiten erst in vier Monaten beginnen würden.

    Na dann … Vielleicht hatte er ja Glück.

    Wie ein Spaziergänger, den es ganz zufällig hierher verschlagen hatte, schlenderte er um das inzwischen fast restlos verfallene Gebäude herum, bis er an dem niedrigen Steinwall ankam, der die Rückseite begrenzte. Automatisch zuckten seine Finger in der Jackentasche und stießen an den klobigen Schlüssel, den er erst heute Morgen dort verstaut hatte, damit er ihm bloß nicht abhandenkam. Er stützte sich kurz auf, setzte mit einem Sprung über die Mauer und stand eine Minute später vor der Holztür zum ehemaligen Badetrakt.

    Ohne lange zu überlegen, zog er den Schlüssel aus der Tasche, sperrte auf und verschwand im Inneren.

    Mit einem leisen Ächzen fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Elias ging langsam den langen Flur entlang. Nahezu liebevoll legte er unterwegs dem einen oder anderen kleinen Stein-Amor die Hand auf die Schulter oder strich zart über seine Wange. Vor der niedrigen Tür, die zu den Duschen führte, zögerte er kurz. Noch war Zeit, umzukehren, ehe lange verdrängte Gefühle ihn wieder ganz in ihren Bann schlugen. Wollte er wirklich den Abstand, den er in den letzten Jahren so mühevoll zwischen sich und die Vergangenheit gelegt hatte, Schritt für Schritt zusammenschmelzen lassen?

    Sachte gab er der Tür einen kleinen Schubs und zwängte sich durch den Spalt, den sie überraschenden Besuchern nur widerwillig zum Durchschlüpfen anzubieten schien.

    Links bei den Fußwaschbecken hatten sich zwei Wasserhähne in ihr Schicksal gefügt und aufgehört, sich an die zersprungene Keramik zu klammern. Halb herausgebrochen hingen sie über dem Abfluss, immer noch dienstbereit, mit hinter all den Kalkkrusten hervorschimmerndem Glanz, als könne nicht mal der Verfall ihnen die Würde ihres Daseins nehmen.

    Elias wandte sich nach rechts zum Silentium, ihrem alten Treffpunkt.

    Der ganze Raum schien bei jedem Schritt zu erzittern, wobei dieser Eindruck sich nur daraus ergab, dass jede Erschütterung eine Kaskade kleiner Steinbrösel aus dem Sockel der Ruheliegen löste.

    Wie oft hatten sie sich hier aneinandergeschmiegt, flüsternd, damit nicht mal die Wände Zeugen ihrer Liebesschwüre wären, dann wieder atemlos vor Glück und unerfüllter Sehnsucht.

    Helen war fast immer als Erste an ihrem Treffpunkt – er konnte sich ja nur von zu Hause davonstehlen, wenn alle anderen gerade in ihre jeweilige Beschäftigung vertieft waren.

    Auch bei ihrer letzten Verabredung hatte er sich erst eine halbe Stunde später als geplant auf den Weg machen können. Doch als er endlich in der verfallenen Schule eintraf, war sie schon fort. Stunden hatte er auf sie gewartet, durch das Fenster über der Badewanne immer wieder zum Fluss gespäht und gelauscht, ob er ihre eiligen Schritte hörte. Aber da war nichts, nur Stille, und ab und zu das Rauschen des Fliederbaumes. Sein schwerer, melancholischer Duft war ihr immer der liebste gewesen.

    Irgendwann war er schweren Herzens nach Hause gegangen. Nicht mal eine Nachricht hatte er zu hinterlassen gewagt. Nicht auszudenken schließlich, wenn sie durch einen dummen Zufall doch in die falschen Hände gelangt wäre…

    Auch am nächsten Tag blieb Helen verschwunden, genau wie am übernächsten Tag. Und er konnte nicht mal nach ihr fragen. Bei wem sollte er sich denn erkundigen – bei seinen Kollegen? Verdächtiger hätte er sich kaum machen können, wo er sie doch offiziell gar nicht kannte.

    Am dritten Tag war dann plötzlich Aufruhr im Ort, denn nun hatte ihre Familie sie offiziell vermisst gemeldet. Heerscharen von Polizisten und freiwilligen Helfern durchkämmten das Waldstück am Fluss und die Wiesen dahinter. Auch Elias machte mit bei der Suche, er durchforstete sogar heimlich das abgesperrte Gebiet rund um die Schlossruine – aber Helen blieb verschwunden.

    Und der Kummer in seinem Herzen wuchs, bis er es nicht mehr ertrug, in der Stadt zu bleiben, die ihm so viel Erfüllung geschenkt und ohne jede Erklärung wieder genommen hatte.

    Nun wollte er ihn aber noch einmal spüren, den Nachhall des Glücks, das sie zusammen erlebt hatten.

    Er setzte sich auf die Steinbank am Fenster, ließ den Blick durch den Raum schweifen. Wie ein verwunschener Garten wirkte er auf dieser Seite. Der Lavendel erstreckte sich stark und kräftig bis hin zur Wand, dazwischen versuchten sich ein paar wilde Kamillenblüten zu behaupten, und rechts grub sich ein mittlerweile schon recht ansehnlicher Ausläufer des Flieders in das Deckenfresko.

    Er beugte sich nach vorne, um den geliebten Duft einzufangen, um vielleicht sogar einen kleinen Zweig abzubrechen, der ihm bis zur Heimfahrt noch ein paar Stunden Trost spenden konnte.

    Ganz konnte er ihn nicht erreichen. Noch eine kleine Drehung, ein Schritt nach links …

    Kurz blieb sein Griff in der Schwebe, die Zeit schien stillzustehen. Dann brach das gesamte Kopfteil der Steinliege mit einem Ruck weg, riss mit donnerndem Getöse einen tiefen Krater in den aufgebrochenen Boden – und alles Vergängliche mit sich.

    Monate später grub sich ein Bagger von außen durch die Gemäuer des Badetrakts.

    »Vorsicht, hier ist ein riesiges Loch!«, stoppte ein Bauarbeiter die Fahrt seines Kollegen. Beide Männer stiegen über das aufgetürmte Geröll und sahen hinab.

    Hinunter zu zwei Skeletten, die friedvoll einander zugewandt dalagen. Die Hände verwoben, die Knie sanft aneinander gestützt, den erloschenen Blick ineinander versenkt. In tiefem Glück.

    Kintsugi | Hermann Moser

    Blaue Scherben. Goldener Kitt. Eine Teeschale. Der Chef betastete die einstigen Bruchstellen, die wie schmale Täler durch eine Landschaft verliefen. Die goldene Farbe machte den Defekt zur Zierde.

    »Das gefällt mir. Die Schale ist wunderschön, weil sie einmal zerbrochen war. Danke, Nyoko! Im Land deiner Mutter gibt es viele interessante Dinge.«

    Eigentlich legte der Chef keinen großen Wert darauf, gefeiert zu werden. Aber der Geburtstag brachte auch mit sich, dass seine Mitarbeiterin Nyoko Binder von der Verbrecherjagd abgelenkt war. Er bekam eine Verschnaufpause vom Arbeitseifer seiner hoch talentierten, aber stressigen Mitarbeiterin, die stets sogar ihren Vorgesetzten vor sich hertrieb und ihm dennoch wie eine Tochter ans Herz gewachsen war.

    Nyoko küsste ihn auf beide Wangen. »Alles Gute! Diese Kunst aus Japan heißt Kintsugi und ist ein Ausdruck von Wabi-Sabi, der Wahrnehmung der Schönheit.«

    »Hat dich der Wandkalender in meinem Büro zu diesem Geschenk inspiriert?«

    Sie freute sich, dass er den Gedanken erkannt hatte. »Ja, die Bilder von den verlassenen Gebäuden sind sehr schön. Ich hole ihn …«

    Der Chef wollte sie noch aufhalten. Er befürchtete, dass der Kalender Prozesse in Gang setzen würde, die seine Ruhe an diesem Tag gefährdeten, doch sie war zu schnell.

    Als Nyoko zurückkam, betrat Klaus Zimmermann, der Leiter der Spurensicherung, das Büro. »Meine herzlichsten Glückwünsche, alter Mann!« Er bemerkte den Kalender in Nyokos Hand. »Wollt ihr den alten Selbstmordfall wieder aufrollen?« Der Chef versuchte noch, ihn mit einem dezenten Fußtritt zu bremsen, doch es war zu spät. Nyokos Augen blitzten auf. Ein ungelöstes Rätsel. Ihr Blick fokussierte sich und zeigte jene Entschlossenheit, die keine Ruhe geben würde, bis der Fall geklärt war.

    »Was hat dieser Kalender mit einem Selbstmord zu tun? Wollt ihr mir eine Geschichte erzählen?«

    Der Chef stöhnte. »Nyoko, das war vor langer Zeit.«

    »Dennoch gibt es anscheinend etwas, das man wieder aufrollen kann. Ich will den Fall lösen.«

    Das war es dann wohl mit dem ruhigen Geburtstag. Der Gefeierte schöpfte noch einmal kurz Hoffnung, als sein Mitarbeiter Johann Sturmaier das Büro betrat. Der war nicht nur Kriminalpolizist, sondern auch Leiter der Polizeiblasmusik und trug an diesem Tag die Kapellmeisteruniform. »Alles Gute, lieber Chef! Ich schenke dir heute etwas, das sonst nur hohe Offiziere und der Minister bekommen. Wir spielen ein Ständchen für dich.«

    Nicht einmal die Musikkapelle konnte Nyoko bremsen: »Wann soll der Auftritt stattfinden?«

    Johann sah auf seine Uhr.

    »In zwei Stunden.«

    »Dann haben wir noch etwas Zeit für den Selbstmord. Was war damals los?«

    Klaus schaute zum Chef und bekam einen resignierten Blick als Antwort. »Den Selbstmord hat vor etwa acht Jahren ein Mann namens Franz Röhrling begangen. Er hatte einige Jahre davor den Bauernhof seiner Eltern in Pfaffingen im nördlichen Waldviertel geerbt. Den Betrieb hat er aufgegeben, um in einer Fabrik in Wien zu arbeiten. Die ist später auch geschlossen worden. Er ist danach zum Hof gefahren und hat sich im Stall erhängt. Das Landeskriminalamt Niederösterreich hat uns um Assistenz gebeten, da der Tote zuletzt hier in Wien gelebt hatte. Wir haben seine Wohnung durchsucht und Menschen in seinem Umfeld befragt. Dabei haben sich keine Beweise ergeben, die gegen einen Suizid gesprochen hätten. Der Fall ist daher von den Niederösterreichern als solcher abgeschlossen worden.«

    »Beweise habt ihr keine gefunden, aber ich höre zwischen den Zeilen, dass doch einige Indizien dagegen gesprochen haben. Ihr glaubt nicht der offiziellen Version?«

    »Na ja, es war eine klassische Situation. Röhrling hat sich auf einen Stuhl gestellt, den Hals in die Schlinge gelegt und dann den Stuhl weggestoßen. Ich habe mir die Tatortfotos angeschaut, und so wie der Stuhl dort zu sehen war, ist es physikalisch schwer vorstellbar. Den könnte aber auch jemand am Tatort verrückt haben, was natürlich niemand zugeben würde.«

    »Warum haben die Niederösterreicher eure Assistenz angefordert? Wenn es für sie ein eindeutiger Suizid war, hätten sie das vermerkt und den Fall abgeschlossen, ohne groß in der Wohnung und bei Bekannten zu ermitteln.«

    »So klar war es nicht. Die Kollegen haben sich wegen der fehlenden Schlüssel in zwei Fraktionen gespalten und sehr emotionale Diskussionen geführt. Inoffiziell sind wir sozusagen als Schiedsrichter zugezogen worden, aber es gab einfach keine Beweise für einen vorgetäuschten Selbstmord.«

    »Klaus, ich kenne dein Gespür, mit dem du aus winzigen Spurendetails die Abläufe am Tatort rekonstruierst. Wenn für dich etwas unschlüssig ist, glaube ich es ohne wissenschaftlichen Beweis. Was war mit den Schlüsseln?«

    »Er hatte keine bei sich, obwohl er mit seinem Touareg hingefahren ist.«

    »Das ist aber ein teures Auto für einen arbeitslosen Fabrikarbeiter. Sind seine Vermögensverhältnisse geprüft worden?«

    »Es hat keine Auffälligkeiten gegeben, ist aber nicht sehr intensiv angeschaut worden. Die Anhänger der Selbstmordthese haben sich dann doch durchgesetzt.«

    Nyoko blickte zu ihrem Chef. »Das tut mir leid! Ich habe mir fest vorgenommen, dir an deinem Geburtstag keinen Stress zu machen, aber die Geschichte stinkt zum Himmel. Ich habe keine ruhige Minute, bis das geklärt ist. Du kannst dich zurücklehnen, ich kümmere mich darum.« Sie nahm den Kalender in die Hand. »Was hat eigentlich dieses schöne Stück mit dem Fall zu tun?«

    »Der Fotokünstler Dominik Frandl veröffentlicht Kalender mit Bildern von verlassenen Gebäuden. Er hat damals wohl aus den Medien von dem Selbstmord im Stall des Bauernhofes erfahren und dabei gesehen, dass es sich um ein lohnendes Motiv handeln könnte. Seither kaufe ich jedes Jahr ein Exemplar.«

    »Hast du noch den von damals mit dem Stall?«

    Während Johann sich verabschiedete, um zur Musikkapelle zu gehen, holte der Chef den alten Kalender. Nyoko nahm ihn und betrachtete das Bild des Stalles. Durch die trüben Fenster fiel nur mattes Licht. Der Fotograf hatte ohne große Scheinwerfer die schön schaurige Stimmung eingefangen. Der Kalk bröckelte von den Wänden. Die aus dunklen Brettern gezimmerte Tür hing etwas schief in den rostigen Angeln. Nyoko glaubte beinahe, das Quietschen der Gelenke zu hören. Auf dem Boden lag noch lose verteiltes Stroh. Die Decke bestand aus langen Latten, die auf schweren Querbalken lagen. Etwas Licht drang durch die Ritzen zwischen den unregelmäßig geschnittenen Brettern. So ein Spalt musste auch Platz geboten haben, um einen Strick um den Balken zu binden.

    Nyoko ging zu ihrem Computer und suchte die elektronische Akte. Sie betrachtete Fotos desselben Raumes. Keine Poesie des Verfalls, sondern ein wissenschaftlich aufbereiteter Suizid. Hell erleuchtet. Einige Stellen waren mit Nummernschildern versehen. Am Deckenbalken hing Franz Röhrling. Das chemisch-giftgrüne Seil war offenbar eine neu gekaufte Kunstfaser. Auf jedem Bild befand sich rechts oben eine Aktennummer.

    Nyoko zoomte in das Foto. Röhrling war sportlich gekleidet. Auf dem Poloshirt sah sie das Logo einer Designermarke. Er trug eine teure Uhr. Nyoko erinnerte sich, dass Klaus seinen SUV erwähnt hatte. Sie klickte durch die Akten. Auch die Wohnung in Wien war sehr groß und schön. Er hatte dennoch keine Schulden gehabt. Wie war er zu dem Geld gekommen?

    Sie schaute zu ihrem Chef und Klaus auf. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Warum hat er seinen Hof nicht verkauft? Einen besonders sentimentalen Zug zur Landwirtschaft kann man ihm nicht nachsagen. Den Betrieb hat er aufgegeben und ist in eine Fabrik arbeiten gegangen. Er hat das Anwesen auch nicht gepflegt, um es zum Beispiel als Wochenendhaus zu nutzen. Dabei hatte er offenbar gar nicht so wenig Geld. Trotzdem ist er zu dem Ort, der ihm nicht sehr viel bedeutet hat, zurückgekehrt, um sich umzubringen. Warum? Ich sehe in den Unterlagen viele Scherben: ein verlassener Hof, Arbeitslosigkeit, Selbstmord. Wir müssen sie wieder zusammenkleben. Kintsugi ist nicht nur die Schönheit des Vergänglichen, es ist das Leben mit all seinen Sprüngen, eine ganze Schale und dennoch viele Scherben. Wenn wir alle Aspekte des Lebens von Franz Röhrling zusammenfügen, wissen wir vielleicht, was damals passiert ist. Chef, ich will dort hinfahren und mir den Bauernhof anschauen.«

    Der Chef nahm einen tiefen Zug aus seiner kalten Pfeife. »Wir sind unterbesetzt, seit Christian bei der internationalen Polizeimission in Georgien ist. Die Akten stapeln sich auf den Schreibtischen und du willst einen acht Jahre alten Selbstmord wieder aufrollen, der nicht einmal in unsere Zuständigkeit fällt.«

    »Christian kommt in zwei Wochen zurück und ich zähle die Tage, weil ich meinen Ex-Freund so vermisse. Wir können die Stapel auf seinen Schreibtisch stellen. Ich würde sagen, dass es neue Hinweise auf Straftaten von Franz Röhrling gibt. Die inoffiziellen Einkommen sind ungeklärt. Wir prüfen, ob er damals mit Komplizen gearbeitet hat, die heute noch aktiv sind.«

    »Nyoko, sei mir nicht böse, aber du verrennst dich. Es gibt keinen Anhaltspunkt für ein konkretes Verbrechen, daher auch nicht für Mittäter. Das war ein niederösterreichischer Fall, dort gibt es auch ein Landeskriminalamt. Wir wollen die Kollegen nicht vor den Kopf stoßen.«

    »Dann will ich mir zumindest Bilder anschauen. Der Fotokünstler hat sicher viele Aufnahmen gemacht. Ich werde ihn anrufen.«

    Während der Chef Luft holte und gedanklich einen Einwand formulierte, hatte Nyoko bereits den Telefonhörer in der Hand. Sie erreichte den Fotografen sofort unter der Nummer, die hinten auf dem Kalender vermerkt war.

    Nach kurzer Diskussion gewährte der Künstler Nyoko Zugriff auf die Bilder seines digitalen Archivs.

    Sie schaute sich die Fotos an, wechselte immer wieder zwischen den Aufnahmen, zoomte hinein und wieder hinaus, machte Notizen und Skizzen. Sie legte den Kopf nachdenklich zurück. »Er hätte mit den Fotos dieses Hofes alleine einen ganzen Kalender gestalten können. Du hast recht, Chef. Diese Verwitterung von alten Gebäuden ist wirklich schön. Das Gras rund um das Gebäude ist beinahe meterhoch und der Künstler hat das Licht beeindruckend eingefangen. Er ist auf die Bäume geklettert, um trotz des hohen Grases auch Außenaufnahmen machen zu können. Hier sieht man sogar einen Ast in das Bild ragen, wie bei einer japanischen Tuschmalerei. Hm. Trotz der Verwahrlosung ist die Zufahrt anscheinend regelmäßig benutzt worden.«

    »Das Befahren einer Straße im nördlichen Waldviertel ist keine Straftat in Wien.«

    »Irgendetwas fehlt. Ich spüre diese Unruhe, wenn etwas nicht vollständig ist. Was ist es nur?« Sie klickte durch die Fotos, blätterte in den Unterlagen. »Moment! Das ist doch ein …« Noch schnelleres Klicken. »Natürlich! Klaus, warst du damals bei der Spurensicherung im alten Wohnhaus dabei?«

    »Nein. Auch in Niederösterreich gibt es Forensiker. Die haben keine Veranlassung gesehen, wegen eines Selbstmordes ein verlassenes Haus zu durchsuchen.«

    »Es ist benutzt worden. In allen Räumen bedeckt eine dicke Staubschicht die Böden. Nur der Gang hinter der Haustür ist gewischt worden.«

    Klaus ging

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