Als wär das Leben so
Von Rainer Moritz
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Über dieses E-Book
Rainer Moritz hat mit seiner Lisa eine Figur geschaffen, deren stille Beharrlichkeit zu Herzen geht: eine Frau, die an Aufregungen kein Interesse hat, die viel allein ist, ohne je einsam zu sein, die froh ist über das, was sie hat. Ein selbstbestimmtes Leben. Ein gutes Leben?
Rainer Moritz
RAINER MORITZ, geboren 1958 in Heilbronn. Studium der Germanistik, Philosophie und Romanistik. Promotion 1988. Von 1989 bis 2004 im Verlagswesen tätig. Seit 2005 Leiter des Literaturhauses Hamburg. Literaturkritiker, Autor und Übersetzer.
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Buchvorschau
Als wär das Leben so - Rainer Moritz
»Wahrscheinlich ist es wahr, dass uns ein Mensch immer unbekannt bleibt und es in ihm immer etwas Unauflösbares gibt, das sich uns entzieht.«
Albert Camus
»Liebe Elisabeth, lieber Karl …«
Mehr stand da nicht. Sie sah auf das karierte Blatt, auf die schwungvoll hingeschriebenen Buchstaben und hielt inne. Ihr war kalt, an einem milden Maimorgen. Frühe Sonnenstrahlen fielen auf den schmalen Balkon, auf den dunkelgrünen Metallstuhl und das ovale Tischchen. Ein Stuhl, nur einer. Wann hatte sie angefangen, ihre Eltern mit Vornamen anzureden? Seit wann gab es »Mama« und »Papa« nicht mehr? In den letzten Jahren wäre sie gern zu dieser Anrede zurückgekehrt. Getraut hatte sie sich nicht. Sie fühlte sich klar im Kopf und zugleich so, als säße sie in einer schalldichten Kabine. Ihre Knie zitterten. »Liebe Elisabeth, lieber Karl! Wenn Ihr diesen Brief bekommt …« Ja? Sie strich den begonnenen Satz durch. Niemand anderem würde sie schreiben, nicht ihren Freundinnen, ihrer Schwester nicht und ihm, dem Verheirateten, auch nicht. Das war ihr Leben. Nur was für eines?
1
Dachten die anderen oft über sich nach? Sie stand am Gartentor, das so breit war, als würde es zu einem ansehnlichen Gut führen, als hätte sie ihre Kindheit auf einem imposanten Anwesen verbracht. Dabei war da nicht viel. Eine halbwegs gepflegte Wiese, die andere Rasen genannt hätten, ein paar Obstbäume, ein aus Holzlatten gezimmertes Fußballtor, das keinem kräftigen Schuss standgehalten hätte, ein Schuppen, in dem hinter Papa Karls Kombi die Gartengerätschaften ihren Platz hatten, sorgsam aufgeräumt, wie es sich gehörte. Und dann das weiße Haus, weder groß noch klein, mit seinem tief heruntergezogenen Dach, einer hölzernen Kassettentür und den hellblauen Kastenfenstern. Ein Haus, das einige Jahrzehnte auf dem Buckel hatte, eines, wie man es hier auf dem Land häufig fand. Ihr Elternhaus.
Da stand sie als Fünfjährige oder als Achtjährige, auf dem kaum befestigten Fahrweg neben dem Gartentor, hinter der Hecke, sodass sie vom Haus aus nicht zu entdecken war. Sie sah aufs Feld, Bauer Redecker zu, wenn er den Acker umpflügte oder den Weizen erntete, sah den aufsteigenden Krähenschwarm oder Vögel mit ausladenden Schwingen, deren Namen sie nicht kannte. Manchmal stellte sie einen Kindertisch und einen Stuhl auf den Weg, las oder zeichnete, froh, wenn ihre jüngere Schwester nicht da war, wenn niemand da war. »Lisa, wo steckst du? Abendbrot, dalli, dalli.«
Auf den ersten Ruf ihrer Mutter reagierte sie nie. Erst wenn die Stimme ungehalten klang, wenn sie hörte, wie ein Fensterflügel aufklappte, ging sie ohne jede Eile ins Haus. Lisa, ja, obwohl sie auf den Namen Lisa-Marie getauft war. Was ihren Eltern kurz darauf peinlich gewesen sein musste, denn Marie kam außer in Formularen und Dokumenten nicht mehr vor. Zwei Vornamen, das passte nicht zu ihnen. Zu ihr vielleicht schon. Lisa-Marie, Lisa-Marie … Sie selbst hatte nichts gegen ihn, versäumte es selten, auf ihre Schulhefte in großen Lettern ein Lisa-Marie zu setzen. Anders wollte sie sein, anders als Torben, Jens, Güde, Stine und Solveig. Einige ihrer Liebhaber in Berlin und Hamburg würden sie später so nennen, die, die Lisa zu banal fanden. Sie ließ es zu, hob allenfalls eine Augenbraue, wenn einer über ihr im Bett zusammensank und Zeit für ein »Oh, Lisa-Marie …« fand. Lange hielt sie es mit solchen Männern nicht aus.
Da saß sie am Abendbrottisch, als Fünfjährige oder als Achtjährige. Mit blitzsauberen Händen und zerzausten Haaren. Punkt sieben standen die Wurst- und Käseplatten auf dem Tisch, das Graubrot, das seinen Namen zu Recht trug, die Margarine, die Senfgurken, die Radieschen, die Eiviertel, der Tee, der Johannisbeersaft und die Flasche Bier für Papa Karl. Wenn er den Bügelverschluss aufploppen ließ, strahlte sie. Jetzt war er da, würde von seinem Tag erzählen, von seinen merkwürdigen Kunden, die ihn mit defekten Stehlampen, verschmorten Kabeln oder lockeren Steckdosen behelligten. Er deutete an, wusste, dass er sich vor seinen Kindern nicht über Kunden lustig machen durfte. Sie bezahlten ihn, den selbstständigen Elektromeister, hielten seine Werkstatt über Wasser und hatten es möglich gemacht, dass er dieses einfache Häuschen an der Schlei kaufen konnte. Zu einem günstigen Preis, den er einem besonders aufdringlichen, mit Küchengeräten auf Kriegsfuß stehenden Kunden verdankte.
Sie war stolz auf ihn und hätte nicht sagen können, warum. Beobachtete ihn, wie er das mit Senf bestrichene Jagdwurststück bedächtig kaute, den Kopf geneigt, um nichts von dem zu verpassen, was Mama Elisabeth erzählte. Von den Dorfneuigkeiten, von der beigen Strickjacke, die sie bei einem Modeversand bestellt hatte, und natürlich von dem Trompeter, der am Ende des Weges das halb verfallene Gartenhäuschen angemietet hatte, für ’nen Appel und ’n Ei. In einem Orchester spiele der, vielleicht sogar in Hamburg. Sein Getröte und Geschmettere mache alle Vögel kirre.
Lisa hörte zu, kerzengerade sitzend, mit einem leicht ironischen Lächeln um den Mund. Auf sie war Verlass. Auch wenn es darum ging, die aufgekratzte Schwester zu zähmen, die den Abendbrottisch mit ihren Kindergartengeschichten in Beschlag nahm, jede Redepause nutzte, die Papa Karl machte. Schon gut, Anika. Sie legte die Hand auf den Arm ihrer Schwester, erntete dankbare Blicke der Eltern. Die Schwester beruhigte sich, mümmelte weiter an ihrer Graubrotscheibe, von der Käsekrümel auf den Fliesenboden fielen. Sie würden zwei Leben lang zusammenhalten. Fast. Erst als alles zusammenbrach, ging Anika auf Distanz, konnte nicht anders. Schwesterlein, warum lässt du mich allein?
Sie half beim Abwasch, fuhr mit dem feuchten Lappen über die Wachstuchtischdecke und warf einen Blick auf das Fernsehgerät, das den Reiz des Neuen noch nicht verloren hatte. Tagesschau. Papa Karl legte die Füße hoch. Sie gab ihm einen Kuss auf die stopplige Wange. Er tat überrascht. Sie vergewisserte sich, dass ihre Schwester mit dem Baukasten beschäftigt war, und witschte mit einem »Ich geh noch mal runter« aus der Tür. Mama Elisabeths »Pass auf, Kind« bekam sie gerade noch mit. Aber das bedeutete nichts. Nie sagte sie einen anderen Satz, wenn sich Lisa davonmachte.
2
Da schlug sie als Fünfjährige oder als Achtjährige das Gartentor so kräftig zu, dass die beiden Flügel nachbebten. Sie pfiff auf zwei Fingern, drei Mal, das Zeichen für Rolf-Dieter, auf schnellstem Weg nachzukommen. Sie sprang voraus, bei Krögers dauerte es meistens länger, weil es Nachtisch gab, Kompott. Abends. Am Ende des Zufahrtsweges bog sie rechts ab. Sie grüßte die wenigen Nachbarn, die sich um diese Uhrzeit draußen zu schaffen machten. Am Kiosk an der Straßenbiegung blieb sie stehen, wartete auf Rolf-Dieter, Steinchen in die Wiese kickend, auf der eine Mähre von Bauer Redecker verloren den Kopf senkte.
Die Holzläden waren verschlossen. Nur am Wochenende öffnete der Schleckikönig seinen Laden, verkaufte Kaffee und Bockwurst an Spaziergänger und Sportler. Ein Geschäft, sagte Papa Karl, sei damit nicht zu machen, mit den paar Städtern, die Bootsausflüge unternahmen und neuerdings die Natur suchten.
Lisa liebte den Kioskmann. In gut verschraubten Glasbehältern, zwei Dutzend mindestens, verwahrte er Süßigkeiten, die er als gemischte Tüte für fünfzig Pfennig anbot. Jedes Kind durfte seine Auswahl selbst zusammenstellen, abwägen, ordern, sich umentscheiden und neu ordern. Brausetabletten, Lollis, Weingummis, Colafläschchen, Lakritzschnecken. Das dauerte, sodass sich an freundlichen Sonntagen Schlangen unschlüssiger Kinder bildeten. Lisa sparte jedes Zehn-Pfennig-Stück auf, bis es für eine Tüte reichte. Die Frau des Kioskmanns war selten zu sehen.
Wenn sie als Dreißigjährige oder als Vierzigjährige zu Besuch bei ihren Eltern war, suchte sie vergeblich nach dem Schleckikönig. Seinen Kiosk gab es nicht mehr, abgerissen hatte man ihn, um Parkplätze zu schaffen. Irgendwas, hieß es, habe er sich zuschulden kommen lassen. Was, sagte niemand. Papa Karl wich Nachfragen aus, Mutter Elisabeth wischte sie mit einem »Das geht uns nichts an« beiseite. Die Frau des Schleckikönigs, die keiner Schleckikönigin nannte, arbeite inzwischen als Aushilfe in einem Friseurgeschäft in Schleswig, sagte man.
Endlich kam Rolf-Dieter, unerträglich langsam, wie Lisa fand. Sie boxte ihn in die Rippen, schimpfte, er suchte mit der Zunge nach Kompottresten zwischen seinen Zähnen, Pflaumenschalen vielleicht, lachte sie an.
Sie redeten nicht viel, nahmen den sanft absteigenden, seit Kurzem asphaltierten Weg zur Schlei. Die Wolken standen hoch, bildeten, vom Wind getrieben, wunderliche Gebilde. Siehst du die Kuh da oben? Sogar mit Euter. Sie streckte den Zeigefinger himmelwärts. Rolf-Dieter nickte. Er war anderthalb Jahre älter als sie, beugte sich ihr aber klaglos. Jungen in ihrem Alter fand sie bescheuert. Gib dir also Mühe, hatte sie zu Rolf-Dieter gesagt. Nur weil du unser Nachbar bist, muss ich dich nicht für was Besonderes halten.
Sie setzten sich auf einen Stein am Ufer, ihren Familienstein, um den herum sie im Sommer oft saßen. Ein Paar, das spazieren ging, ein Fischer, der ein Boot an Land zog. Mehr nicht. Im Sommer wagten sich Fremde aufs Wasser, alles Hamburger, sagte Papa Karl. In funkelnagelneuen Kanus wie aus den Lederstrumpf-Filmen. Eine Familie war im letzten Sommer gekentert, hatte um ihr Leben geschrien, bis zwei Fischer zupackten und das Kanu drehten. So schnell säuft man in der Schlei nicht ab.
Rolf-Dieter erzählte von einem Schulaufsatz, den er nächste Woche schreiben musste. Wie die Wikinger lebten. Woher er das wissen solle. Sie hörte ihm zu, aufmerksam und abwesend. Eine Mischung, die Mama Elisabeth in Rage brachte. Nie weiß man, ob du einen verstanden hast. Meinst du, wegen dir sage ich alles zweimal? Sie schüttelte ihr schwarzes Haar, sah an Rolf-Dieter vorbei zum gegenüberliegenden Ufer. Bis dahin schwimmen war leicht. Und von den Eltern verboten. Rolf-Dieter klagte über seine Lehrerin, eine Brillenschlange, die sich über die Schmutzränder unter seinen Fingernägeln lustig machte. Trauerränder. Wie ein Bergmann aus dem Ruhrgebiet.
Komm, lass uns weitergehen, ich brauche einen großen Stock.
Sie liebte die Schlei, die weder Fluss noch Meer war. Als Fünfjährige, als Achtjährige, als Zwölfjährige, als Fünfzehnjährige. Wenn sie wütend war oder traurig, wenn sie das Alleinsein brauchte, ging sie ans Wasser, suchte nach Treibgut, lief den schmalen Strandstreifen entlang bis zum Wald. Wenn sie dann immer noch wütend war oder traurig, rannte sie weiter bis nach Missunde. Im Frühjahr, Sommer, bis in den Herbst hinein badete sie in der Schlei, prüfte den Salzgehalt mit der Zunge und tauchte den Kopf unter. Sie krähte vor Freude, patschte mit den Händen aufs Wasser.
Sie blieben, bis die Sonne unterging. Länger war nicht erlaubt. Sie gab Rolf-Dieter vor dem Gartentor die Hand. Viel Spaß mit den Wikingern. Sie trödelte, setzte sich auf die Schaukel, die an den hohen Ästen einer Buche festgezurrt war. Sie schwang hoch hinaus, noch ein Stück weiter und noch eins. Sie mochte den Kitzel. Was, wenn die Verankerung nicht hielt, wenn ein Ast brach?
3
Der Holztisch mit der wurmstichigen Bank war ihr Reich, hinter dem Haus, vom