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Das Haus des Vaters
Das Haus des Vaters
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eBook410 Seiten5 Stunden

Das Haus des Vaters

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Über dieses E-Book

Ein kriminalistischer Gesellschaftsroman der besonderen Art: raffiniert und virtuos erzählt - und spannend bis zur letzten Seite. Ein wohlhabender 80-Jährige hat seine Familie zu einem Treffen in seine Villa bei Kopenhagen eingeladen. Die ihr Leben lang zu Kurs gekommenen Familienmitglieder müssen mit ansehen, wie der Alte seine Katze mit Kaviar füttert. Nanna, die Stiertochter aus dritter Ehe, kippe um, als sie an einem Glas Wein nippt. Der Wein war vergiftet, doch Nanna erholt sich wieder. Wenig später, als sich die Aufregung gelegt hat, wird der Millionär ermordert aufgefunden. Keiner ist wirklich traurig, stattdessen fängt ein Kampf ums Erbe an. Nanna, nicht erbberechtigt, macht sich auf die Suche nach dem Mörder. In einer geradezu halsbrecherischer Tour de force gerät sie in immer größere Gefahr, bis sie auf etwas stößt, was sie nie für möglich gehalten hätte… AUTORENPORTRÄT Helle Stangerup wurde 1939 in Frederiksberg geboren. Sie wuchs in Dänemark, England sowie in England auf. Sie ist Juristin, und sie stammt aus einer Schriftstellerfamilie. Sie debütierte 1967 mit einem Kriminalroman, dem sechs weitere folgten. Der Durchbruch gelang ihr 1985 mit dem historischen Roman 'Prinzessin Christine', der zum bestverkauften dänischen Roman der 80er Jahre wurde und in mehrere Sprachen vorliegt. Helle Stangerup wurde 1986 zur Dänischen Schriftstellerin des Jahres gewählt und sie wurde auch mit dem Goldenen Lorbeer ausgezeichnet.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum18. Dez. 2015
ISBN9788711454022
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    Buchvorschau

    Das Haus des Vaters - Helle Stangerup

    Saga

    Erstes Kapitel

    Stiefvater zog vor zwanzig Jahren, im Winter 1974, in Hvidager ein. Das Haus lag am Ende einer kleinen Nebenstraße zum Øresund, und er kaufte das Haus zu einer Zeit, als die Wohlhabenden vor Seenebeln, autofreien Sonntagen und überhöhten Ölpreisen flohen und den schönen Küstenstreifen zurückließen, der mit Schildern »Zu verkaufen« übersät war wie von einer ansteckenden Hautkrankheit.

    Damals hatte das Anwesen Strandly geheißen. Doch die acht schwarzen Eisenbuchstaben wurden umgehend von einem Mann auf einer Leiter und mit einer Zange aus der Mauer gerissen. Die Fenster zum Sund verdeckten Rolläden und später dreifache Vorhänge. Es war ein Haus ohne Morgensonne.

    Stiefvater verabscheute das Meer oder jede Art von Wasser, es sei denn, es kam aus Leitungen ins Badezimmer, wo es von einem Hahn unter Kontrolle gehalten wurde. Wasser in größeren Mengen führte ihn geradewegs zurück in eine demütigende Kindheit in einem Fischernest an der Westküste Jütlands.

    Der Name Hvidager wurde in aller Eile erfunden, ohne daß sich später jemand erinnern konnte von wem, und über die Eingangstür genagelt. Man verband damit etwas Ländliches, etwas wie eine weite Ebene oder ein Tal.

    Von außen war Hvidager unscheinbar. Doch im Innern lebten Stiefvaters Geist und seine Unternehmungen. Auch die von früher. Sie zogen ein, als er einzog, buchstäblich mit dem Umzugsgut, und sie knüpften sich zu einem Knoten, der sich immer fester zusammenzog, so fest, daß er zu versteinern schien.

    Das Haus war für Stiefvater, wie alle anderen Anschaffungen in seinem Leben, eine Investition. Obwohl er jede Religion mit derselben Inbrunst haßte wie das Meer, hingen unzählige russische Ikonen an der Wand über der Treppe. Die vielen bemalten Holztafeln waren durch ein diskretes Geschäftsessen mit einem Karriereanwalt hierhergekommen, der berechtigte Angst vor der Presse hatte. Stiefvater verfügte nämlich über die Boulevardpresse. Der Anwalt über eine interessante Konkursmasse. Auf diese Weise wurde Stiefvater für einen symbolischen Betrag Eigentümer einer einzigartigen Sammlung von Maria-mit-Kind-Darstellungen aus dem 15. Jahrhundert, Großfürstentum Moskau.

    Die Ortmann-Kommoden, das mit Möbeln vollgestopfte Eßzimmer und das Gewimmel von Staffordshire-Figuren, die er selbst abscheulich fand, waren ein Reibach aus dem Nachlaß eines Antiquitätenhändlers. Er hatte sie mit dem Einverständnis der Erben und eines korrupten Testamentsvollstreckers ergattert. Die gelben Rassehunde, Retriever, stammten aus einem Zwinger, dessen Besitzer durch eine anonyme Anzeige der Verwahrlosung bezichtigt worden war. Als sich herausstellte, daß die Anzeige jeder Grundlage entbehrte, war der Besitzer längst bankrott. Die Münzsammlung war die eines Altphilologen von der Trabrennbahn, eines reichen Erben und ewigen Verlierers. Die kostbaren Münzen reichten gerade aus, um, verpackt in eine Schachtel, zwischen zwei Rennen gegen einen mageren Scheck den Besitzer zu wechseln. Sogar die Kinder, Claus und Ulrik aus erster Ehe und Alex und Tatjana aus zweiter, beruhten auf Verlustkonten. Zwei Ehefrauen und Mütter wurden mit fingierten Nachweisen über abnormales sexuelles Verhalten in das gesellschaftliche und finanzielle Dunkel befördert.

    Die Abschiedszeremonien waren kurz und billig. Ehre und Lauterkeit, Vertrauenswürdigkeit, Anständigkeit, Untadeligkeit und Rechtschaffenheit lagen allein auf seiner Seite, dokumentiert durch das Sorgerecht für die Kinder aus beiden Ehen, die er getrennt von ihren Müttern und ohne ein lobendes Wort aufzog. Hinter allem steckte Berechnung. Außer bei der grauen Katze und bei Nanna.

    Die Katze hatte im vorigen Herbst mehrere kühle Nächte hintereinander vor der Eingangstür miaut, bis sie aus unbegreiflichen Gründen hereingeholt wurde.

    Von Läusen und Flöhen befreit und auf alle denkbaren Krankheiten untersucht, nistete sich das Tier bei Stiefvater ein, indem es das Haus ganz in Besitz nahm und seine Person systematisch ignorierte. Als man sie zum erstenmal auf seinem Schoß bemerkte und seine alte, sehnige Hand eine zärtliche Bewegung machte, erregte das ebensoviel Aufsehen wie damals vor dreißig Jahren, als Nanna sich im Alter von acht Jahren durchgesetzt hatte und ein Weihnachtsbaum in seinem Haus aufgestellt worden war. Weder für die Katze noch für den Weihnachtsbaum gab es eine vernünftige Erklärung.

    Auch Nanna war auf ihre Weise zugelaufen. »Jetzt brauchst du nicht mehr mit dem Schlüssel um den Hals in die Schule zu gehen«, hatte Nannas Mutter gesagt und ihr über das hübsche, blonde Haar gestrichen, als bestünde ein Zusammenhang zwischen beidem. Nanna und ihre Mutter hatten Kuchen mit grünen Mandeln auf einer karierten Tischdecke im Vergnügungspark Dyrehaven gegessen. Sie waren mit dem Zug dorthin gefahren. Sie würden nun in einem großen, schönen Haus wohnen. Und Nanna würde einen Vater bekommen. »Eine Art Vater«, sagte die Mutter und biß sich auf die Lippe statt in den Kuchen.

    Nanna hatte nie einen Vater gehabt. Solange sie denken konnte, hatte es nur sie und die Mutter gegeben. Nanna war jeden Tag nach der Schule in die leere Wohnung mit dem Balkon zum Hinterhof gekommen. Bei warmem Wetter saß sie in der Sonne und machte ihre Schularbeiten auf dem grünen Balkon mit Knoblauch-, Dill- und Petersilientöpfen.

    Am späten Nachmittag, noch ehe die Mutter den Schlüssel ins Schloß steckte, hörte Nanna ihr Summen im grau getupften Treppenhaus. Die Mutter summte immer, außer wenn ein böser Fremder anrief. Dann weinte sie: »Es war ein Unfall ... ein Unfall ...« Manchmal schrie sie es. Nanna wußte nicht, wer da anrief. Eines Tages ließ die Mutter das Telefon klingeln und klingeln, starrte nur auf den schwarzen Apparat.

    Die Mutter sollte einen Mann heiraten, der sie vor dem bösen Fremden beschützen würde. Das hatte sich Nanna gewünscht. Doch an jenem Tag in Dyrehaven summte die Mutter nicht. Deshalb wollte Nanna auch nicht Papa sagen, wie es die Mutter vorgeschlagen hatte, als sie vor dem großen Mann stand. Er glich einer hohen, grauen Säule, die sie einmal gesehen hatte, einer alten Säule, die längst hätte umstürzen sollen. Sie streckte eine Hand hin und sagte: »Guten Tag, Stiefvater.« Er sagte: »Guten Tag, Nanna.«

    Dann sagte sie nichts mehr zu ihm. Er sagte auch nichts mehr zu ihr. Das war in dem Haus Hvidager. Das Haus, das verkauft und später abgerissen wurde, weil es rentabler war, das große Grundstück in acht kleine Parzellen für acht gleiche Backsteinhäuser aufzuteilen.

    Stiefvater konnte Feiertage nicht ausstehen, bis auf die, die er selbst festlegte, viermal im Jahr. Deshalb durften sie kein Weihnachten feiern.

    Nanna war wütend. Nicht so sehr wegen der Sache mit dem Weihnachtsbaum. Sie war wütend, weil sie das Gefühl hatte, daß ihre Mutter die hohe, alte, graue Säule nur geheiratet hatte, damit sie, Nanna, vornehm gekleidet in eine vornehme Schule gehen und in einem vornehmen Haus wohnen und weite Reisen machen konnte. So empfand sie es jedenfalls, ebenso wie es aus irgendeinem Grund ihre Schuld war, daß die Mutter nie ihre Familie sah. Nicht einmal ihre Eltern.

    Nanna sparte ihr Taschengeld, und am Heiligabend, während ihre Mutter beim Zahnarzt war, kaufte sie den größten Baum, den sie vom Markt am Hafen heimtragen konnte. Sie stellte ihn mitten in die Wohnstube mit den Glastüren zum Garten. Für Nanna gab es nichts Schöneres als Christbaumschmuck. Er wurde in einem Spankorb in einer Küchenschublade verwahrt. Der Schmuck war aus Glas. Kugeln, Vögel mit Schwänzen, die weich wie Seide waren, und kleine Trompeten, die einen Ton von sich gaben. Aber am meisten liebte sie eine Kugel, in die man hineinschauen konnte. Sie war sehr alt, stammte aus der Zeit, als Nannas Mutter klein war. Sie schimmerte in allen Farben. Manchmal holte Nanna die Kugel aus dem Korb und setzte sich damit auf den Balkon in die Sonne. Als Nanna von Aladins Höhle hörte, wußte sie sofort, wie sie aussah. Sie war schon dort gewesen.

    Nun stand der Christbaumschmuck im Keller des großen Hauses. Sie holte ihn herauf und schmückte den Baum. Mit neuen Kerzen und frischem Lametta, das sie ebenfalls gekauft hatte, weil das vom letzten Jahr nicht mehr glitzerte. Sogar die besondere Kugel hatte sie an den Baum gehängt, aber weit innen am Stamm und von vielen Zweigen verdeckt.

    Alles war fertig, als Stiefvaters Auto in der Einfahrt hielt.

    »Weg damit«, sagte eine kalte Stimme ganz oben in der grauen Säule, als sich die Flügeltüren öffneten.

    Sie antwortete nicht, umschlang nur mit ihren Armen den Baum. Die Nadeln stachen in ihre Finger. Die Glaskugeln klirrten. Zum ersten Mal schaute sie ihm ins Gesicht. Schaute in die braunen Augen oben in der Säule. In ihnen lag der gleiche Ausdruck wie bei den Rieseneidechsen, die um das Wasserbecken in Indien liefen, wo sie in den Herbstferien gewesen war. Sie blickten leer auf Nanna hinunter.

    Aber dann bewegten sich die Augen, schauten von einer Glaskugel zur anderen, und Nanna war überzeugt, daß sie um Ecken sehen konnten. Ganz langsam schob sich eine Hand hervor und griff nach der Kugel, in die man hineinschauen konnte. Wählte genau diese eine. Hielt sie an dem Band und ließ sie hin und her pendeln, hin und her. Aladins Höhle schwang zwischen zwei Fingern mit rissigen, gelblichen Nägeln hin und her. Dann ließen die Finger sie einfach zu Boden fallen. Die Kugel zersplitterte fast lautlos.

    Nanna blieb stehen. Sie rührte sich nicht. Sie weinte nicht. Sie machte gar nichts. Sie hielt sich an irgend etwas in ihrem Innern fest. In diesem Augenblick besiegte sie ihn. Sie wußte es, noch ehe er sich herumdrehte und hinausging, etwas steif, als sei ihm die Niederlage in die Beine gefahren. Von da an wurde Weihnachten gefeiert, mit Baum, Kerzen, Geschenken und dem Kuchen mit der Mandel. Sogar Weihnachtslieder wurden gesungen.

    Als Nannas Mutter erfuhr, daß die Kugel zerbrochen war, hätte sie beinahe geweint. Die Kugel mußte auch ihr etwas bedeutet haben. Nanna umarmte sie, ohne zu weinen. Und die winzigen farbigen Glassplitter verschwanden in dem verchromten Rohr des Staubsaugers und aus Nannas Leben.

    Von da an sprach Stiefvater mit ihr. Über die Schule. Über Freundinnen. Und sie antwortete höflich. Und ihre Mutter lebte auf, als würden die teuren Kleider und der Schmuck ihr wirklich etwas bedeuten. Nanna hatte plötzlich eine Position. Im Haus und bei Claus, Ulrik, Alex und Tatjana. Alle kamen sie an diesem Weihnachtsabend herbeigestürzt.

    »Donnerwetter«, murmelten die zwei ältesten Söhne von Stiefvater, als sie den Baum mit den brennenden Kerzen sahen.

    Claus und Ulrik ähnelten sich ein wenig. Sie waren untersetzt und rundlich, mit Westen über dem Bauch, und von Stund an bekundeten sie ein stilles Interesse an Nanna, als sei sie im Besitz geheimnisvoller Kräfte. Claus und Ulrik hatten blonde Frauen. Sie hießen Camilla und Lisa und ähnelten sich ebenfalls.

    Stiefvaters Tochter Tatjana war anders. Lang und dünn, mit strähnigem Haar und immer etwas verwirrt. Der jüngste Sohn, Alex, redete nur über das Soldatendasein. Sie sagten ebenfalls, wenn auch leiser: »Donnerwetter.«

    Ulrik und Lisa hatten eine vierjährige Tochter, Stine. Sie betastete vorsichtig die Kugeln und das Lametta, sagte aber nichts und der sechsjährige Michael, der blasse, dicke Junge von Claus und Camilla, zog sie in eine Ecke und fragte: »Wie hast du das gemacht?«

    Nanna antwortete selbstbewußt: »Alles hat seinen Preis.«

    Das sagte sie, weil es erwachsen und schick klang und weil ihr nichts Besseres einfiel.

    So viele Familienangehörige verwirrten Nanna, daran war sie nicht gewöhnt. Aber Claus konnte zaubern. Mit dem Cognacglas in der Hand ließ er Münzen durch Tischplatten wandern. Alex brachte ihr bei, im Garten mit dem Luftgewehr zu schießen, entweder auf eine Scheibe am Baum oder auf Papierrollen, die sie auf die Mauer steckten. Camilla und Lisa hatten zu ihrem Geburtstag lustige Einfälle. Tatjana versuchte, sie mit Schokolade zu bestechen, damit sie zu »dem Alten« »Idiot« sagte. Nur Ulrik war ernst und abwesend.

    An dem Regentag, als der siebzehnjährigen Nanna die weiße Studentenmütze aufgesetzt wurde, bekam ihre Mutter plötzlich Rückenschmerzen. Ein Arzt schob es auf einen Sturz vom Pferd. Ein anderer Arzt sagte etwas anderes.

    Innerhalb eines halben Jahres war Nannas Mutter vom Krebs zerfressen. Stiefvater stand am Fußende des Bettes, als sie ihren letzten Atemzug tat. Eine Dosis Morphium nahm ihr die letzten Kräfte und die Schmerzen. Nur das Haar leuchtete unverändert jung auf dem Kopfkissen. Stiefvater berührte nicht einmal das hölzerne Bettgestell, er wandte sich nur an Nanna und sagte wie nebenbei:

    »Von mir erbst du nichts. Aber ich werde für dich sorgen, solange ich lebe.«

    Dann verließ er das Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, als sei der Tod eine persönliche Kränkung.

    Das war ein Ereignis, über das er keine Kontrolle hatte.

    Am nächsten Tag bot er das Haus zum Verkauf an und beauftragte einen Makler, ein anderes an der Küste zu suchen. Dort könne man gerade günstig kaufen, war seine Begründung. Das geschah telefonisch und mit lauter Stimme, als wollte er, daß Nanna es hörte. Als wollte er etwas verbergen. Vielleicht war es seine Form der Trauer.

    Eine Woche nach dem Begräbnis kaufte er Strandby und nannte es Hvidager. Einen Monat später unternahm Stiefvater eine weite Reise, so weit wie möglich, und traf seine vierte Frau. Sie war deutscher Abstammung, aus einer Familie im Osten. Ziemlich farblos. Alter unbestimmbar. Und sie hatte etwas bedrohlich Unterwürfiges.

    Sie hieß eigentlich Emma. Wegen der vielen Ehefrauen wurde sie umgehend und hoffnungsvoll in »Pt« umgetauft.

    Das war natürlich die Idee von Claus. Sein Einfallsreichtum war unerschöpflich. Im gleichen Sommer raste er mit seinem Maserati auf die Verladerampe des Bahnhofs. Er flog durch die Luft und gegen einen Signalmast. Es war fünf Uhr morgens. Er wurde in vier Teilen begraben. Der Alkoholtest zeigte null Promille.


    Nanna parkte das Auto vor Hvidager. Es regnete in Strömen, genauso wie an jenem Junitag vor zwanzig Jahren. Sie war nach Hause gekommen zu dem anderen Haus mit dem weißen Dach, und das Auto des Arztes hatte vor der Tür geparkt. Jenes Arztes, der sich geirrt hatte. Ihr war, als sei die Mutter hier in Hvidager gestorben, mit ihrem unverändert blonden Haar.

    Vielleicht hatte Stiefvater das letzte Haus absichtlich an eine Firma verkauft, die auf Parzellen spezialisiert war. Eine Bleikugel hatte es niedergerissen, hatte alles dem Erdboden gleich gemacht, und so zogen die Ereignisse und sogar Nannas verstorbene Mutter mit um.

    Stiefvater zelebrierte eines seiner vierteljährlich stattfindenden Familientreffen. Dezember. März. Juni. September. Jedesmal am 21. Heute, am 21. Juni 1994. Früher hatte sie sie ernst genommen. Alle hatten geglaubt, die Sache habe eine tiefere Bedeutung, sei von fast heidnischer Dämonie.

    In Wirklichkeit war das alles dummes Zeug. Eine Volkszählung, schlicht und ergreifend. Sie nannten es schließlich die Quartalsabende. Claus wäre vermutlich etwas Besseres eingefallen, hätte er länger gelebt.

    Aber die anderen erschienen nach wie vor. Jedesmal. Vollzählig. Soweit Nanna sich erinnern konnte, waren weder Krankheiten noch Geburten, noch Reisen dazwischengekommen. Nur Eheschließungen, heranwachsende Enkel, Scheidungen oder Todesfälle führten zu Änderungen. Niemand stellte das je in Frage. Vielleicht aus Angst, sich bloßzustellen, oder wegen der Magie der Macht.

    Als Nanna sich das Regencape über den Kopf zog, redete sie sich ein, daß sie nur deshalb noch käme, weil Mutter es so gewollt hätte. Schließlich hatte sie ihn ihretwegen geheiratet. Diese Abende, diese vier Kreuze im Jahreskalender, vermittelten aber auch ein Gefühl von Verläßlichkeit und Kontinuität. Ulrik sagte oft, Nanna sei der einzige Mensch gewesen, den sein Vater anständig behandelt habe.

    Der Geruch von nassem, frisch gemähten Gras schlug ihr entgegen, als sie die Autotür öffnete. Sie hörte das Bellen der gelben Hunde im Zwinger, und in einem Pferch standen die Esel und ein Fohlen. Seit dem Tod der Mutter konnte Stiefvater keine Pferde mehr in seiner Nähe ertragen, obwohl sie gar keine Schuld traf.

    Zum erstenmal kam Nanna zu spät; die Zeit war ihr beim Korrigieren eines Manuskripts davongelaufen. Pt stand in der offenen Tür, vorwurfsvolles Schweigen unter den sanften Gesichtern der Madonnen. Ihr Haar war wie immer fächerförmig nach oben gekämmt. Ihre Haut war glatt und straff wie gegerbtes Fell mit roten Äderchen, typisch für Frauen, die nie Zigaretten, Alkohol oder Make-up angerührt haben. Nur die Wangenknochen traten deutlicher hervor als vor zwanzig Jahren.

    »Pt ist verdammt zäh«, sagte Ulrik finster, als ihm klar wurde, daß man sie ohne Plastiktüte und Arsen niemals loswerden würde. Vor zweieinhalb Jahren wurde ihr das an einem Quartalsabend im Dezember unverblümt an den Kopf geworfen, prallte jedoch an ihrem germanischen Panzer wirkungslos ab. »Wir sind im Schlafzimmer«, sagte Pt und warf dabei einen Blick auf die englische Standuhr.

    Es war zehn Minuten nach acht. Bei Pt herrschte Pünktlichkeit. Wenn sie einmal etwas sagte, sprach sie vom Schicksal ihrer Familie in Ostpreußen oder von praktischen Dingen. Diesmal aber sagte sie noch etwas anderes: Stiefvater war bettlägerig.

    Stiefvater müßte stehend sterben. Für Nanna war und blieb er eine Säule. Hätte damals jemand gesagt, daß er noch dreißig Jahre leben würde, hätte sie es nicht geglaubt. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß er je jung gewesen war.

    Als Pts rote Hausfrauenhand die Schlafzimmertür öffnete, schlug Nanna stickige Dunkelheit entgegen. Sie zögerte einen Augenblick. Es war das einzige Zimmer im Haus, das sie niemals von innen gesehen hatte. Die Sonne malte kleine, graue Kreise auf die Vorhänge. An den Wänden hingen von der Decke bis zum Boden Goldrahmen. Die Bilder in den Rahmen konnte sie nicht erkennen. Nicht eine Lampe brannte. »Zu spät«, brüllte die Stimme mit überraschender Kraft. »Hat sich dein Grünschnabel das Auto gemopst? Ohne Führerschein?«

    »Ja«, sagte Nanna, weil es am einfachsten war. Stiefvater führte alles in ihrem Leben darauf zurück, daß sie in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten war und das Kind behalten hatte. Daß sie Nikolai bekommen hatte. Nikolai und Stiefvater waren sich nie begegnet. Darauf hatten sie verzichtet.

    Nanna folgte der Stimme zum Bett. Sie senkte den Kopf und streckte die Hand aus. So nah waren sie sich noch nie gewesen. Knochige Finger berührten ihre Hand.

    Sie hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt. Seine Augen bewegten sich ruckhaft, wie bei Insekten, tief auf dem Grund zweier Schalen. Die Nase ragte hervor wie der einzige Haken, an dem das Leben noch hing. Nanna trat einen Schritt zurück. Dann drehte sie sich um.

    Die Enkelkinder fehlten. Stine, die sich zu einer Schönheit entwickelte, Tatjanas Hippie-Kim und deren drei Mädchen sowie die beiden Jungen von Alex. Sie waren nicht gekommen. Nur die ältere Generation saß im Halbkreis hinter dem Bett, wie arrangierte Figuren in einem Garten.

    Am Fußende stand der holländische Tisch mit den Blumenintarsien und den vergoldeten Bronzebeschlägen. Normalerweise war er im Eßzimmer, zwischen den Ortmann-Möbeln. Der Tisch war gedeckt wie immer. Die ein Kilo schwere, blaue Dose mit grauschwarzem Kaviar auf zerstoßenem Eis in einer Glasschale mit Löchern auf einer größeren Glasschale, das Ganze auf einem silbernen Ständer mit sechs Beinen. Ringsherum flache Schüsseln mit kleinen, runden Blinis, zu einer Schaumkrone gerührte Crème fraîche und gehackter Knoblauch in Pyramidenform. Toast Melba war auf einer runden Schale angeordnet, daneben rot-blaue Royal-Crown-Derby-Teller. Messer und Gabeln waren aufgereiht, ebenso die Kristallgläser und die gefalteten Damastservietten. Zwei Weinkühler mit grünlichen Flaschen und feuchten Etiketten und der Aufschrift Montrachet, 1969, vollendeten die Tafel. Abgesehen davon, daß Mitte der siebziger Jahre der Jahrgang des Weines einmal ein anderer gewesen war, war seit dreißig Jahren alles gleich geblieben. Hundertzwanzigmal. Die Messer hatten dasselbe Gewicht. Die Gabeln. Die Gläser. Die Teller. Der Geschmack war der gleiche. Derselbe Tisch, im dunklen Winter wie im hellen Sommer, von Nannas achtem Lebensjahr an, als Stiefvaters drei unverheiratete Schwestern noch dabei waren und in schweren Kleidern und breiten Schuhen schweigend Kaviar kauten. Als Mutters Summen zum erstenmal aus der hintersten Ecke des Eßzimmers erklungen war.

    Und die neun Male, als Nikolais Vater dabei war. Neun-Quartals-Ehe hatte Lisa einmal gesagt, als hätte Stiefvater auch dafür einen Kalender eingeführt. Nanna fühlte sich plötzlich beengt. Sie fühlte sich unterdrückt und ängstlich. Sie begrüßte die anderen. Ulrik ganz links in etwas, das aussah wie ein Blazer. Rotgesichtig, kahl, knapp sechzig, Pressechef einer Handelsgesellschaft. Er wischte sich ständig die Hände an der Weste ab, als sei das Gefühl, Untergebener zu sein, ein Kleidungsstück, das man gerne abstreifen möchte. Das volle Gesicht hellte sich auf, als er sagte: »Hallo, Nanna-Mädchen.« Dieselben Worte wie immer, aber ohne die Herzlichkeit der vergangenen dreißig Jahre.

    Lisa im blauen Lederkostüm und mit blondem Haar. Einrichtung und Design waren ihr einziges Talent. Erwähnte jemand den Untergang des Römischen Reiches, würde sie glauben, es handle sich um eine italienische Designerfirma. Ihr Sinn für Formen und Farben war entsprechend.

    Lisa konnte nur etwas durch Anfassen schaffen, mit gespreizten Fingern und festem Griff. Wände, Böden, Möbel und Stoffe, und ohne abgebrochene Fingernägel zu scheuen. Mit dem Zauberstab der optischen Täuschung schuf sie phantastische Wohnungen und vervollkommnete sogar ihre eigene Erscheinung durch millimetergenaue Entwürfe und Schnitte. Sie verdeckten, wie sich der Rock um die Hüften spannte und daß der linke Fuß fast senkrecht gestreckt war, damit er in den hohen Absätzen den Boden erreichte. Die Ehe hatte gehalten. Ihr Triumph. Stine, die hübsche, intelligente Tochter. Ihr Stolz. Lisa lächelte kühl: »Nett, dich wiederzusehen.«

    Die hingestreckte Hand hing schlaff in der Luft. Sie war nicht in ihrer kreativen Phase. Claus hatte sie »Frau Konsulin« genannt, doch Lisas Wahrnehmung war nicht auf Sprache sensibilisiert. Sie hielt den Spitznamen für ein Kompliment.

    »Tag«, sagte Alex nur. Schon Ende Vierzig, haftete ihm immer noch etwas Militärisches an. Gerade wieder eine Scheidung spielend hinter sich gebracht. Ehen waren für ihn wie die Ballspiele aus seiner Kindheit, einfach den Ball der nächsten Frau zuwerfen, die bereit war, ihn zu fangen.

    Alex nahm Nanna bei den Schultern. Umarmte sie kurz. Sie wachte auf. Schüttelte sich und kam zu sich. Er lachte, glich dem Vater. Wie eine Säule. Alex war Abteilungsleiter, untergebracht in einem Nebenbüro, aber immerhin, nur eine Tür entfernt von Stiefvaters großen, blankpolierten Direktionsräumen.

    Nanna blickte in ein breites Lächeln und dunkle, fremde Augen. Der Vater war nur die äußere Hülle. Das übrige kam von anderswo. Nanna hatte sich bisher nie Gedanken darüber gemacht. Über Wurzeln und Ursprünge oder wie die ersten beiden Frauen Stiefvaters eigentlich gewesen waren. Hatte sich auch nie vor etwas anderem gefürchtet als den tagtäglichen Gefahren – einer plötzlichen Krankheit oder davor, einen Radfahrer beim Rechtsabbiegen zu überfahren.

    Tatjanas schmale, graue Augen waren Lachschlitze, und sie war noch immer schmal und schlaksig. Das Haar war nach wie vor strähnig und ihr Leben ein ewiges Dahintreiben, wie ein Baumstamm auf einem Fluß. Egal was passierte, nie war es ihre Schuld. Die Natur hatte sie weder mit Ruder noch Segel, noch einem Steuermann ausgestattet.

    Deshalb war alles auch nicht so schlimm. Zwei Scheidungen, fünf Abtreibungen, vier schreckliche Kinder, ebensoviele versiebte Examina und Kündigungen, ein Dutzend Liebhaber auf wilder Flucht über Gartenzäune und Berggipfel. Eine Aneinanderreihung von Banalitäten, so nannte sie sich selbst. Tatjana war unter dem Sternzeichen Chaos geboren.

    Doch es lag eine Dissonanz in der Stimme. Was man nicht hörte, wenn der Tisch mit den Blumenintarsien im Eßzimmer stand. Oder war es erst seit heute?

    Nach dem Tod von Claus hatte Stiefvater seine Schwiegertochter nicht fallenlassen. Camilla gehörte dazu und wurde finanziell unterstützt. Ihr einziges Kind, der dicke Michael, verduftete mit sechzehn nach Afrika, wo er zwei Jahre später in den sodahaltigen, von Krokodilen bevölkerten Gewässern des Lake Rudolf ertrank. Nur sein Boot wurde kieloben treibend gefunden.

    Aber Camilla gehörte nach wie vor dazu. Die Zeit zwischen den beiden Todesfällen bewältigte sie mit phantastischen Geschichten über die Stellung des Sohnes als Chef eines Luxushotels. Unglückseligerweise gab es jemanden, der jemanden kannte, der bis zu dem gottverlassenen See an der Grenze zwischen Kenia und Äthiopien vorgedrungen war und von dem Leben und Treiben des Barkeepers gehört hatte.

    Danach wurden Claus, Michael und Lake Rudolf unter der Sammelbezeichnung »Namen, die keiner mehr kennt« zusammengefaßt. Camilla, die keine Ahnung hatte von ostpreußischen Existenzen, konnte nicht wissen, daß diese Namensgebung von Pt und ihrer nostalgischen Marotte für ein Familienschicksal in der Gegend um Königsberg herrührte. Und die Worte wirkten und breiteten einen sowohl bedauernden wie abwehrenden Schleier über die Tragödie, während Camilla ihr Leben mit Hilfe dreier Eckpfeiler, den Quartalsabenden, ihren Bridgeabenden und leidenschaftlichen Essen im Gleichgewicht hielt.

    Camilla trug etwas Geblümtes, das sich über ihren gewaltigen Körper ergoß. Ihre blutroten Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, und sie flüsterte Nanna zu, »Weißt du etwas?« »Nein, nichts«, erwiderte Nanna leise. Sie kannte die Frage. Camilla befürchtete, daß die finanziellen Zuwendungen beim Tod des Stiefvaters versiegen würden.

    »Du bist ja in der gleichen Situation«, sagte Camilla und strich zärtlich über Nannas Arm. »Wir sind alle Opfer, nicht wahr?«

    Auch das war eine Standardbemerkung.

    Nanna setzte sich auf den letzten freien Stuhl. Pt stand lieber. Der Unterwürfigkeit wegen. Oder des Überblicks wegen. Immer in der Nähe der Tür.

    »Na, begeben wir uns jetzt zu Tisch und zum Kaviar?« Ulrik hatte sich erhoben und seine Weste glattgestrichen. Die Stimme klang vergnügt und munter. Er hatte bereits einen Teller genommen.

    »Nein«, ertönte es vom Bett.

    Ulrik stand mit dem Teller in der Hand da. Er wippte ein wenig. Dann setzte er sich und warf den anderen einen ratlosen Blick zu. Lisa trat nach Frauenmanier ans Bett.

    »Ein bißchen Kaviar kann doch nicht schaden. Nicht wahr, Schwiegervater? Es ...«

    »Mir ist übel.«

    »Sollen wir schon mal anfangen?« versuchte es Lisa erneut.

    »Was hast du gesagt? Sprich lauter, ich kann dich nicht hören. Du hast schon immer geflüstert.«

    »Sollen wir schon anfangen?« rief Lisa und spreizte vor Anstrengung ein wenig die Arme.

    »Nein.«

    »Ja, willst du ... daß wir gehen?« Lisas Stimme senkte sich, so als sei sie gekränkt, wie immer, wenn sie anderer Meinung war.

    »Nein.«

    Von der oberen Glasschale fielen vier Tropfen in die untere. Lisa schwankte ein wenig und warf Ulrik einen hilflosen Blick zu.

    »Jetzt hör doch mal, Vater, das hier ...«

    »Wo ist meine Katze?« ertönte es vom Bett.

    Pt schlüpfte lautlos zur Tür hinaus, und ein Hauch kühler Luft streifte Nanna.

    Ulrik versuchte es erneut.

    »Jetzt hör mal, Vater, das hier ...«

    Pt kam mit der grauen Katze herein. Sie hing schlaff auf ihrem Arm und glich einer Pelzstola. Ein Lächeln spielte um ihre geschlossenen Lippen, und sie setzte die Katze aufs Bett. Die knochigen Hände hoben sich und liebkosten das graugestreifte Fell.

    Die Katze schnurrte und machte einen Buckel vor Wohlbehagen. Der Schwanz ragte senkrecht nach oben. Aus der oberen Glasschale tropfte das Eis wie ein stiller, sanfter Frühlingsregen. Ein Anblick, den Nanna schon hundertmal erlebt hatte, aber bisher immer erst, wenn der Kaviar schon fast verspeist war.

    Manchmal waren diese Abende wie Erinnerungen. Als blättere man in einem Album. Bilder, Laute, auch von anderswo, erschienen wie Werbespots. Ganze Sätze. »Man hätte sie doch zur Adoption freigeben sollen. Ihre armen, freundlichen Eltern, und dann eine so tragische Geschichte. Daß sie das haben erleben müssen!« Nanna hörte die Bemerkung einer der anderen Mütter auf dem Schulhof. Sie betrachteten Nannas Mutter immer mit Bewunderung. Oder Mitleid. Oder Neid. Nanna schauten sie nie an.

    »Sollen wir nicht einfach verduften?« sagte Alex. »Warum ist es hier auch so höllisch warm?«

    »Rechtsanwalt Green kommt morgen«, wisperte Tatjana.

    »Um zehn Uhr.«

    Tatjanas Mund stand einen Augenblick lang offen.

    »Es wird ihm doch nicht einfallen, jetzt das Testament zu schreiben?« Alex klang verwirrt.

    Alle wußten genau, wie laut man reden konnte, ohne daß Stiefvater sie verstand. Tatjana vergrub sich nur noch mehr in ihrem Stuhl, wie zur Belagerung bereit, und das Eis schmolz schneller und hinterließ nasse Streifen auf dem Glas.

    »November in einem Jahr werde ich sechzig.«

    Ulrik redete ernst und feierlich. »Zwanzig Jahre bin ich Pressechef gewesen, ausgestattet mit Schere und Leim. Kein einziges Mal durfte man mit einer Bemerkung kommen, nie durfte man eine Presseerklärung verfassen, ohne ... ohne daß Vater sie umformuliert hätte. Nur Demütigungen. All diese Demütigungen, nur Schere und Leim.«

    »Deshalb hat Claus es gemacht«, sagte Camilla. »Deshalb.«

    »Dann tu jetzt etwas«, sagte Alex kalt zu seinem Halbbruder.

    »Er kann dich ja nicht zwingen hierzubleiben?«

    »Emma«, ertönte es vom Bett.

    Pt beugte sich vor, hörte ihn an und nickte kurz. Dann ging sie zur Tafel, nahm einen Teller und einen Löffel. Sie schöpfte Kaviar auf den rot und blau verzierten Teller.

    »Katzen lieben Fisch«, sagte Tatjana leise.

    »Miez, Miez«, sagte die alte Stimme vom Bett, als Pt den Kaviar reichte. Die Katze fraß im Stehen. Sie leckte die grauschwarzen Kügelchen lautlos und genüßlich auf. Ulrik verbarg den Kopf in den Händen. Lisa schaute mit zusammengepreßten Lippen starr vor sich hin. Tatjana kicherte, und Camilla sah hungrig aus.

    Es traf wahrscheinlich zu, was Ulrik sagte, daß sie, Nanna, die einzige war, die Stiefvater anständig behandelt hatte.

    »Deine Ehe ein Scherbenhaufen. Dein Examen ein Scherbenhaufen.«

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