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Tumult der Seele: Lichtenberg und Maria Dorothea Stechard
Tumult der Seele: Lichtenberg und Maria Dorothea Stechard
Tumult der Seele: Lichtenberg und Maria Dorothea Stechard
eBook218 Seiten3 Stunden

Tumult der Seele: Lichtenberg und Maria Dorothea Stechard

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Über dieses E-Book

Eine berührende Romanbiografie um das Göttinger Blumenmädchen Maria D. Stechard. Eigentlich hatte sie nicht viel vom Leben zu erwarten. Doch die Begegnung mit dem Wissenschaftler und Aphoristiker Georg Ch. Lichtenberg im Jahr 1777 sollte ihr Leben von Grund auf verändern: Sie wurde seine Schülerin und später seine Geliebte. - Mit viel Einfühlungsvermögen wird aus der Perspektive der jungen Maria ihre Beziehung zu dem kleinen, verwachsenen Professor erzählt, dessen klarer, großer Geist bereits seine Zeitgenossen beeindruckte.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Juni 2013
ISBN9783847642794
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    Buchvorschau

    Tumult der Seele - Beate Klepper

    Motto

    Ein Mädchen, die sich ihrem Freund nach Leib und Seele entdeckt, entdeckt die Heimlichkeiten des ganzen weiblichen Geschlechts; ein jedes Mädchen ist die Verwalterin der weiblichen Mysterien.

    G. Ch. Lichtenberg, Sudelbuch G, 80

    I. VON BLUMENKINDERN UND TRAUMGESTALTEN

    Maria Dorothea Stechard hieß sie, und dieser Name mochte nicht viel mehr wert sein als das Papier, auf dem ihre Geburt und siebzehn Jahre später ihr Tod vermerkt wurden.

    17 Jahr und 39 Tage wurde sie alt, um es so wiederzugeben, wie Lichtenberg es aufschrieb, so genau in seiner Art als Mathematiker und Astronom. Viel hatte er dann nicht mehr über sie geschrieben. Es gab dazu keine Notwendigkeit. Wäre sie seine Frau geworden, hätte er sicher noch weniger von ihr mitgeteilt. Nicht in dieser Art, in der Trauer, die alles nur im Guten zu sehen vermag. So weiß im Grunde niemand etwas über die Stechardin. Eine Unbekannte, die man hie und da erwähnt, wenn man von Georg Christoph Lichtenberg spricht; oder über die man besser schweigt?

    Geboren wurde sie am 26. Juni 1765, als einziges Kind ihrer Eltern, und sie mussten Maria zum Friedhof bringen. Im August war das gewesen, im Jahr 1782.

    Wie der Leichenzug wohl aussah? Sicher spärlich. Wer sollte schon mitgehen? Die Handvoll Leute, die die Stechards kannten, und die wenigen Freunde Georgs, die dieser Liebe mit Respekt begegneten. Und das waren wenige.

    An den Fenstern werden dafür umso mehr Leute gestanden haben. Lauernd, glotzend, um Lichtenbergs Leid zu begaffen. »Professorenhure« hießen sie das Mädchen, und sie war bei weitem nicht die Einzige, die sie in Göttingen so riefen. Dann nannten sie Maria auch »Lichtenbergs Schöne«, und diese Wendung fanden sie so treffend, da Lichtenberg klein, verwachsen und bucklig war. Somit war dies für Maria kein Kompliment, lediglich eine Gemeinheit neidischer, kleinmütiger Geister.

    Und durch die Straßen wanderte ein Gerücht von Ohr zu Ohr: »Habt Ihr gehört? Jetzt nach dem Tode gleicht sie sich völlig wieder und die Schönheit ist in ihr Gesicht zurückgekehrt. So blütenfrisch und gesund, wie sie immer war, soll sie als Leiche ausgesehen haben.«

    Sie meinten die Rose am Kopf, den Rotlauf, der über das Gesicht gewachsen war und die Schöne entstellte. Und tatsächlich, wie zum Hohn und zum Spott trat die Rose zurück, sobald der Tod da war. Eine mögliche Laune der Natur.

    Lichtenberg kam am letzten Tag nicht zu ihr ans Bett, weil er es nicht mehr mit ansehen konnte. Aber Maria zweifelte ja nicht, dass bald alles überstanden zu haben, dass sie bald wieder gesund vor ihm stünde. Die besten Ärzte der Universität hatte er kommen lassen, und diese schworen ihm, bei einer Königin hätte nicht mehr getan werden können. Er glaubte ihnen nicht.

    Es dauerte nur acht Tage, dann ging es schnell zu Ende. Im Fieberwahn, der ihr den Geist benebelte und irre machte, schlich sich der Tod gnädig und unbemerkt ein. In der letzten Nacht um halb vier des Morgens rief sie Lichtenberg in einem Moment der Klarheit »Gute Nacht« zu. Hinüber in sein Studierzimmer rief sie, wo er wachte und nicht schlafen konnte.

    Es gab auch einen Anfang, fünf Jahre zuvor, in dem Sommer, in dem Marias zwölfter Geburtstag anstand und sie die Schülerin des Professors Lichtenberg wurde. Beide ahnten nicht, wie schnell diese Begegnung sie in diesen Tumult führen würde, den süßen Tumult der Seele, der sie nicht mehr losließ.

    Die Stechards waren Leinweber, deren Leben karg war, aber hungern - nein, hungern musste Maria nie. Arm waren viele in der Albani-Gemeinde und die Kinder verkauften Blumen. Von jeher boten sie auf dem Wall die Blumen feil, denn Betteln war verboten. Bereits als Kleine gingen sie mit, bekamen von den Älteren gezeigt, wie man die zarten Stängel der Veilchen und Primeln mit einem Grashalm zusammenband, wie man sie in ein Körbchen auf etwas Gras legte und vor der Sonne schützte. Frisch sollten sie bleiben, bis sie die Spaziergänger trafen, die reich genug waren, ein paar Pfennige zu geben. Das Pflücken der Blumen hinterließ grüne Flecken an den Fingern, die grasig rochen, und der Grasgeruch mischte sich mit dem süßlichen Duft aus dem Korb. Sie gingen mit schnellen Schritten, beflissener Freundlichkeit und wenig Sinn für das Vogelgezwitscher über ihnen in den Linden. Ihre Hände gaben die Blumen und nahmen die Münzen, um die sich die Finger fest schlossen, da dieses Geld heilig war. Jahraus, jahrein zogen sie los, von der Blüte der ersten Schneeglöckchen bis zum letzten Heidekraut, das am Weg zwischen den alten Mauern auf dem Wall stand. Wenn Maria zurückkam in das Haus, das doch fremde Haus, in dem sie nur als Mieter geduldet waren, legte sie das Verdiente auf Heller und Pfennig auf den Tisch. Sie glaubte fest, die Hand müsste ihr abfallen, wenn sie auch nur eine Münze unterschlagen hätte.

    In diesem Frühjahr bemerkte man deutlich, sie hatte die Größe ihrer Mutter erreicht. Ihre Kleider passten nicht mehr, und das Schnürleibchen spannte über den Brüsten. Die Mutter gab ihr von ihren Kleidern, was sie abgeben konnte, und sah ihre Tochter dabei an, mit Blicken, als wollte sie sagen:

    »Ach, mein armes Kind. Wie soll nur dein Leben werden?" Doch die Mutter sagte nichts dergleichen, und Maria tat, als verstünde ich sie nicht.

    Dabei verstand sie vieles, auch die Warnung: »Pass auf dich auf«, wenn sie auf den Wall ging, dann wusste sie, sie meinten die Männer, die die armen Mädchen für käuflich hielten und für billig, denn die Körper der Armen waren wenig wert. Die Kinder wussten dies alles schon immer, und es wurden keine Geheimnisse daraus gemacht. Man erzählte diese Geschichten über geschändete, geprügelte und gar verschwundene Kinder von jeher, und die Stimmen der Leute klangen dabei so gleichmütig, als unterhielten sie sich übers Brotbacken oder über ihre Legehennen. Und ihr Vater in seiner stoischen Ruhe sagte einmal:

    »Die Not trägt viele Gewänder, und wo sie ist, hat man keine Zeit, darüber nachzudenken.« Nun stellte Maria sich die Not als eine üble Person vor, die vielleicht schon vor der Tür stand und jederzeit anklopfen konnte.

    1. Kapitel

    Der Rhythmus des Webstuhls war der Herzschlag der Weber. Das Klappen der Rechen drang aus den Häusern, durchzog sie bis unters Dach. Abends musste es für Maria als Wiegenlied herhalten, und kaum dämmerte der Morgen, setzten die Webstühle wieder ein. Man arbeitete mit dem lichten Tag. So wäre es immer gewesen, sagte der Vater. So hatte man zu arbeiten. Durch das Fenster fiel Licht auf den Webstuhl. Fasern tanzten in der Luft. Wenn Maria die Kettfäden aufspannte, schlug sie das offene Haar zurück, und man sah ihren langen, feinlinigen Hals. Es war der Hals ihrer Mutter. Beugte Greta Stechard sich am Webstuhl über ihre Arbeit, bemerkte man genau die gleiche Nackenlinie unter den Flauschhärchen, die aus dem Haarknoten gerutscht waren. Die Mutter war vor der Zeit gealtert, war hager und ausgezehrt. Aber Maria war jung, schoss gerade auf, wie die jungen Triebe im Garten. Maria habe auch die Augen ganz wie die Mutter, behauptete die uralte Frau Haberich, die oben in der Dachkammer wohnte.

    »Die Farbe von Haselnüssen haben sie«, wiederholte die Alte dann mehrmals, wenn Maria sie über die Treppe führte. Und Maria nickte, auch wenn ihre Mutter mit Stolz über ihre so wohlgeratene Tochter dem widersprach:

    »Feiner, viel feiner ist die Farbe von Marias Augen. Wie Karamell.« Und dann erzählte sie, wie sie in einer Backstube einmal zusehen durfte, als man Karamellmaße machte; wie in den gebräunten Zucker die Butter und der Rahm flossen und alles zu dieser feinen Masse verschmolz. Solange sich Maria zurückerinnerte, erzählte ihre Mutter diese Geschichte, und für Maria fügte sie dazu:

    »Dann habe ich ein Bonbon essen dürfen, und davon hast du deine karamellfarbenen Augen bekommen.«

    Damals, als kleines Kind im Haus in der Geismarstraße, dort, wo Maria aufwuchs und die glückliche, unwissende Zeit ihres Lebens verbrachte, glaubte sie, ihre Augen hätten die Farbe von den Bonbons erhalten, denn ihre Mutter musste es wissen. Eine Mutter weiß alles. Jedem erzählte Maria, ihre Augen seien Karamellbonbons, und ihr Vater sagte manchmal »Zuckerpüppchen«. Er öffnete das Fenster in der Stube, eine schöne Stube hatten sie damals, die zur Straße hinaus lag, und er drehte die Scheibe, damit sie sich beide darauf spiegelten. Dann deutete er auf ihre Karamellaugen und ihre dicken dunkelblonden Locken, die denen ihres Vaters so sehr glichen. Immer mehr erkannte Maria ihren Vater im eigenen Gesicht: die schmale, längliche Form, die ebenfalls schmale, von der Wurzel bis zur Spitze gleichmäßige Nase und die kräftigen Linien um den zu großen Mund, der beim Lachen das ganze Gesicht beherrschte.

    Der Vater war ein ruhiger Mensch und lachte selten. Früher scherzte er mit ihr oft ausgelassen und sagte oft »meine Hübsche« zu Maria, aber in den letzten Jahren kaum noch. Maria konnte die bewundernden Blicke fremder Leute nicht als Ersatz dafür anerkennen, und sie ahnte, dass die nachlassenden Liebkosungen eine Folge ihres Heranreifens waren. Ihr Unterleib bestätigte es ihr jeden Monat, und die Burschen in der Nachbarschaft neckten sie und riefen ihr Späße nach:

    »Du, bald hol‘ ich mir einen Kuss von dir." Oder: »Heut‘ Nacht schau ich dir beim Ausziehen zu.«

    Maria warf den Burschen giftige Blicke zu, und mit etwas Stolz über die geschenkte Aufmerksamkeit hob sie ein wenig ihr Kinn.

    Die Kaßpühle war eine lange Gartenstraße, die sich am Wall entlangzog. Wo sie auf den Albani-Kirchhof traf, stand eine Gruppe von engen, gedrungenen Fachwerkhäuschen, hinter deren kleinen Fenstern sich das Gesicht der Armut notdürftig duckte, damit man es nicht gleich entdeckte. Das Haus, in dem die Stechards seit zwei Jahren lebten, lag dem Portal der Albani-Kirche genau gegenüber und gehörte einem Tuchmacher namens Justus Vobbe. Ein Mann mit eingefallener Brust und faltig gegerbtem Gesicht war er. An der Stirnseite des abgewetzten Tisches, der unten in der Hausdeel stand, wo sich alle zum Essen einfanden, hatte Vobbe seinen Platz. Wenn die warme Suppe seinen dürren Schlund hinunterrann, begann er zu husten. Seine Frau hatte eine schleppende Stimme, und auch ihr Gang war durch das Wasser in den Beinen träge. Es schepperte immer erbärmlich, wenn sie am Herd mit den Töpfen hantierte. Der ganze Raum war stickig, angefüllt mit dem Geruch von Fett und Kernseife.

    Maria saß der alten Haberich gegenüber, die beim Essen die getrübten Augen geschlossen hielt. Öffnete sie die Augen, wollte sie Maria sehen, ihre Frische und Jugend. Sonst gäbe es hier ja nichts Schönes zu sehen. Die Tochter der Vobbes, Betty, stand bereits im Dienst bei einem Kaufmann und wohnte nicht mehr hier im Haus. Maria trauerte ihr nicht nach. Die Zankereien der beiden Mädchen waren zum täglichen Ritus geworden, den nur ihre Väter mit einem Faustschlag auf den Tisch beenden konnten. Als aufsässig wurden sie beide gescholten, auch wenn man sagte, die jungen Mädchen hätten eben ihre Launen. Es läge am hitzigen Alter. Seit Betty fort war, schwieg Maria meist am Tisch.

    Der Kopf des alten Haberich wiegte ununterbrochen hin und her. Vom Löffel kleckerte es oft herab, aber er aß geduldig, und seiner heiseren Kehle entwich ein gedehntes »ja - ja«. Einer wischte dann die Tropfen von seinem Kinn, und wenn Maria es tat, wisperte er durch seine Zahnlücken:

    »Pass auf, Mädchen, lass dich nicht ins Armenhaus sperren!« Immer wieder durchzuckte es Maria ein wenig. Auch wenn der Alte oft irre redete, so lag doch hierin ein Funken Wahrheit. Arme Kinder wurden oft in das Werkhaus gesteckt, und dort sollten sie arbeiten und arbeiten, von früh bis spät für andere arbeiten. Der Vater, der am Tisch neben ihr saß, tätschelte ihr dann die Hand, und wenn sie ihre Wange an seinen Arm schmiegte, hatte sie keine Angst mehr. Dann lauschte sie auf das, was die anderen erzählten, vom Leben und Arbeiten, vom Geld, das knapp war, von heute und morgen, vom Wetter und von der Ernte. Weiter als über ein paar Monate hinaus rechnete keiner, denn wer wusste schon, wann die nächste Hungersnot käme. Dann zählte sowieso nur der nächste Tag. Maria hatte nur Stimmen und Worte gehört - als Kind. Nun war alles deutlicher, trat näher an sie heran. Wie schön wäre es doch, immer Kind zu sein, nichts zu verstehen. Die Vobbe meinte, dass das Großwerden nicht leicht sei, und trotzdem überstehe es jeder, so Gott will, wenn man gesund bliebe. Keiner könne sein Schicksal bestimmen, sagte jemand. Man würde sehen, welche Bahnen es nehme. Und hier nickte der Vater, während eine Gänsehaut Marias Rücken überzog.

    Träume plagten sie in dieser Zeit, von Bettlern, die kein Zuhause haben, von Frauen, die sich verkaufen oder ihre unehelichen Kinder umbringen. Bei Tage schüttelte sie den Kopf über diese Träume, und wenn sie die Leintücher faltete und zu Ballen legte, an denen noch die Wärme aus der Hand des Vaters zu fühlen war, glättete sich das Unbehagen. Aber totschlagen ließ es sich nicht. Maria hatte zuviel nachgedacht.

    Solange es ging, wurde an Kerzen gespart. Erst wenn man im Zimmer kaum mehr etwas sah, schloss Greta Stechard den Fensterladen und entzündete die Kerze auf dem Tisch.

    Nur oben in ihrer Kammer waren die Stechards unter sich, waren sie eine Familie. Eine Kammer bewohnten sie - nicht mehr als ein Platz zum Schlafen. Die Kalkweiße an den Wänden war porös und über dem Kohlenbecken schwarz überzogen. Aber geschürt wurde nur bei strenger Kälte, und jetzt im Frühjahr kaufte der Vater keine Kohlen mehr. Der große Bettkasten für die ganze Familie stand an der Mitte der Wand. Darauf lagen drei dunkle Wolldecken. Eine Kleiderkiste und die Leinwebergeschirre, das war alles, was ihnen hier gehörte. Dazwischen Flachs- und Hanfballen, Hede und Wolle. Der modrig süßliche Duft der Fasern saß sogar im Bettzeug, überdeckte den Strohgeruch der Füllung.

    Dieser Geruch war es, der Maria überallhin begleitete, war das, was ihr blieb, was ihr ein Zuhause vorgaukelte. Diesen Geruch lernte sie in dem Haus kennen, in dem sie geboren wurde. Er hatte sicher bereits an ihrer Wiege gehangen, denn auch dort in der Geismarstraße standen die Spulen und Spindeln im Zimmer, diesem hellen Zimmer, das zur Straße hinaus lag, das ihr auf den kurzen Kinderbeinen unermesslich weit erschien.

    Einen Wald von Stuhl- und Tischbeinen gab es dort, voll von Verstecken und Geheimnissen hinter den Schränken. Und immer waren die Röcke der Mutter zur Rettung parat. Dort war ihr Zuhause, in dem Haus des Onkels, des Leinwebers Wilgen. Der war der Bruder der Mutter, und von der Schwester der Mutter erhielt Maria ihren zweiten Vornamen Dorothea. Maria Dorothea hieß sie, und sie glaubte, dort zur Familie zu gehören und Tante Dorothea würde es nicht zulassen, ihre kleine Maria gehen zu lassen. Doch es gab für die Stechards keine Rechte in diesem Haus, denn es war dem Onkel überschrieben, und der heiratete. Es wurde eng, als dann Wilgens Kinder zur Welt kamen, und Christoph Stechard vertrug sich mit seinem Schwager nicht mehr. Er wollte nicht als dessen Geselle gelten, sondern für sich selbst auf eigene Rechnung arbeiten und frei bleiben. Das vor Missgunst knisternde Schweigen zwischen den Männern wurde unerträglich. »Sturschädel« nannte ihn Greta Stechard deshalb, aber ihr Mann verzog dazu keine Miene.

    Dieses Haus lag keine fünf Minuten Wegzeit entfernt, und für einen Teller Suppe hütete Maria ab und zu die drei Buben der Wilgens. Dann sah sie die steile Treppe wieder, über die sie damals hundertmal gerannt und sicher ein Dutzend Mal gestolpert und gestürzt war. »Wildfang« und »Sausewind« nannte sie Tante Dorothea, denn Maria war als hüpfendes und springendes Pferdchen verschrien, das darüber hinaus noch die Energie aufbrachte, Fragen über Fragen zu stellen. Von einem zum anderen war sie gelaufen, schmeichelte sich mit herzigem Kinderlächeln ein und begann zu fragen. Warum werden die Kartoffeln beim Kochen weich? Warum ist die Flamme unten blau? Warum zerbricht die Fensterscheibe? Warum wird der Bauch der Tante Wilgen dick? Warum haben alte Leute keine Zähne mehr? Tante Dorothea begann zu stöhnen, und die Mutter sagte:

    »Sei ruhig, Kind!« Der Vater hatte die längste Geduld, und wenn er keine Antwort mehr fand, sagte er seinem kleinen Mädchen:

    »Das weiß ich nicht, Mariechen. Die Menschen wissen

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