Wegtanzen
Von Ingeborg Kaiser
()
Über dieses E-Book
»Wegtanzen« ist ein bewegendes Alterswerk der Grande Dame der schweizerischen Gegenwartsliteratur. Geschrieben in einer sehr komprimierten Sprache: erlebnisintensiv, erinnerungssatt, farbkräftig, poetisch.
Ingeborg Kaiser
Lebt als Autorin von Romanen, Gedichten, Hörspielen und Theaterstücken in Basel. Zahlreiche Buchveröffentlichungen.
Mehr von Ingeborg Kaiser lesen
Ich war, ich bin, ich werde sein: Rosa Luxemburg - Rainer Werner Fassbinder - Hinterlassenschaften Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAlvas Gesichter Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch fürchte mich jetzt vor gar nichts mehr: Ein literarisches Porträt von Rosa Luxemburg Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungenvom schweigen sprechen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Ähnlich wie Wegtanzen
Titel in dieser Serie (36)
Das Steinauge & Galápagos: Ein Roman und sechs Erzählungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBettlägerige Geheimnisse Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungenin meines Anfangs Ende Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer See geht unter!: Gedichte, Prosa, Übertragungen – Ein Lesebuch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch reiche Wörter zum Reisen: Gedichte und Prosa – Ein Lesebuch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGegen abend oder später: Lyrik und Prosa Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEin Romantiker in nüchterner Zeit: Erzählungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAllahs Zorn im Garten Europas Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUnter wechselnden Monden Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNichts ist so schwer wie Papier Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPatagonien Passage Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungenmatou: Gedichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTiefenbrunnen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIm Silikonlicht der Zäune: Gedichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUnd er kommt und findet sie schlafend: Eine Erzählung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Zeit im Schuh Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Insel Farewell: Geschichten von draußen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLichtfalten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWegtanzen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMail-Match-Ing: Neun Etüden für Schlaflose Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLiebe und Tod: 25 schöne Geschichten von A bis Z Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungenwochen ende: Notizen aus einem Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAusgewählte Gedichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDamit der Tag nicht gleich mit einem Schatten beginnt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAnruf aus der Kreidezeit: Aphorismen und andere Alphornissen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTongasoa: Von Wegen, Umwegen und Abwegen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEine Frau ist eine Frau ist eine Frau Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenCircus Helvetia Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie alten Zimmer: Letzte Gedichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHier endet der Himmel: 55 Geschichten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Ähnliche E-Books
Meine Tante Anna Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMarie - das Mädchen mit den dunklen Augen: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHüben und Drüben Band I - III Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDreckMensch: Leben über zwei Kriege Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTumult der Seele: Lichtenberg und Maria Dorothea Stechard Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus dem Leben einer alten Dame Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMörderisch gute Gelegenheiten: Krimi-Kurzgeschichten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Andere Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein 'eckiges' Lebensrad: Biografie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGabriele Reuter: Das Tränenhaus Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenName unbekannt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie gestohlene Erinnerung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIn Eile......Mutter: So geht es nicht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIhre Heimat war das Memelland: 1944/45 - Flucht auf dem Pferdewagen, im Zug und über die Ostsee Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein Sommer mit Mémé: Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Gräfin von Schwabing: Franziska Gräfin zu Reventlow Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBreite Straße: Eine Familiengeschichte aus Potsdam Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch strick mir einen Schal aus Zeit: Geschichten und Erinnerungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTochter des Schmieds: Tagebuchroman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHüben und Drüben: Neue gesammelte Erzählungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Mädchen Manuela: Der Roman zum Film "Mädchen in Uniform" (Lesbenromantik) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNach dem Fest: Erzählungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenPerlen für Messias: Die Goldstein-Hufschmid-Saga Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWinterwunder – Weihnachtliche Kurzgeschichten und lyrische Texte: Band 43 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMinerva: Zauberhafte Begegnung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLautlos: Novelle Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAls noch Kartoffelfeuer brannten: Eine Kindheit im Ahrntal Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Mädchen Manuela Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGesammelte Werke Max Nordaus Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Biografien / Autofiktion für Sie
Zu dritt im Ehebett: Geschichten einer Berghebamme Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenÜber die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (Civil Disobedience): Vollständige deutsche Ausgabe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSo schön war meine DDR Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMeine verfickte Reise: Wie ich einmal die Welt umrundete, um bei mir selbst anzukommen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMontaigne Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMarie Antionette Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGötz von Berlichingen mit der eisernen Hand: Ein Schauspiel in fünf Aufzügen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Fürst Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Wunder von Bern: In Einfacher Sprache Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte: Eine wahre Geschichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBahnwärter Thiel Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAnne Frank, ihr Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDraußen vor der Tür Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKatharina die Große - oder Zarin Katharina II von Russland Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenErnst Toller: Eine Jugend in Deutschland: Autobiographie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMarie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters: Die ebenso dramatische wie tragische Biographie von Marie Antoinette Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie verlorene Schwester – Elfriede und Erich Maria Remarque: Eine Doppelbiografie Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSchöne Welt, böse Leut: Kindheit in Südtirol Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBlond Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Exil der frechen Frauen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenInsektenpech: Ein junges Mädchen tauscht Erleuchtung gegen Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTestament eines Freimaurers: Das große Geheimnis aus der Innensicht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSchicksale einer Seele von Hedwig Dohm: Geschichte einer jungen Frau aus dem 19. Jahrhundert (Gesellschaftsroman) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Mann ohne Eigenschaften Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLimonow Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Der Tod des Vergil Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Stimmung der Welt: Der Bach-Roman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Wegtanzen
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Wegtanzen - Ingeborg Kaiser
November oder später, die Herbstfarben der Laubbäume dunkeln mit der frühen Dämmerung, das grelle Gelb des Gingkobaumes widersteht am längsten. Die Frau am Fenster sieht dem Verlöschen zu, nichts verlässlicher als der Wechsel der Jahreszeiten. Das spärliche Licht der Laterne über der Strasse erhellt kaum den Gehsteig, unwirklich das Kind, das wie vom Lichtkegel eingekreist verharrt, in seinen übergrossen Stiefeln zu versinken scheint. Aufmerksam schaut sie zum Kind, das in seinem kurzen Röckchen kalt haben könnte, lässt es nicht aus dem Blick. Als komme es aus einer anderen Zeit, sei von dort ausgerissen oder aus dem Fotoalbum gefallen. Der dunkle Lockenkopf umschliesst das im Schatten liegende Gesicht wie eine bauschige Mütze, die Arme locker neben dem schmalen Körper. Möglich, dass das Kind zu ihrem Fenster schaut, man könnte einen Faden vom Kind zu ihr ziehen, doch ihr Fenster ist lichtlos, wie geschwärzt. Vielleicht gibt es den Faden. Sie denkt sich eine Fadenspule und eine Hand, die sie abrollt, öffnet einen Fensterflügel, möchte dem Kind näher sein, aber es ist verschwunden, weg wie ein kurzer Einfall.
Lange steht sie und starrt in den leeren Lichtkegel der Strassenlampe, meint, dass das Kind wiederkomme, wenn sie genug Geduld aufbringe. Sie könnte es nicht erklären, nur ihre Unruhe schildern, die das Kind ausgelöst hat. Als hätte es etwas angestossen, in Bewegung gebracht, und sie müsste nur noch den Faden aufnehmen. Sie ist vergesslich geworden, es ist das Alter. Nicht nur die Haut wird dünner, alles wird durchlässiger, das Gehirn wie durchlöchert; das, was durch den Raster fällt, ist weg, ohne dass sie es vermissen würde. Das meiste ohnehin Ballast, zu vergessen wie die Nachrichten zum Tag, schon von den nächsten überschrieben.
Aber das Kind lässt sie nicht aus dem Gedächtnis, sie kann es abrufen, dann steht es wieder im Lichtkreis, in den zu grossen Stiefeln, dem Röckchen oder eher Schürzchen, macht sie munter wie schon lange nicht, vielleicht glücklich, meint sie, glücklich mit dem Kind, das sie auch einmal war.
Sie horcht in die Nacht, die Bäume schemenhaft, kaum zu erahnen. Von weither glaubt sie, die Stimme einer Frau zu hören, die ins Dunkel singt.
*
Damals die Mutter, die morgens beim Bettenmachen sang, die prallen Kissen und Duvets schüttelte, glatt strich, sich wegsang. Das Kind hörte zu und versuchte die Texte der Volks- und Kirchenlieder zu behalten, etwas von der Mutter, die manchmal in der Speisekammer weinte, die Tür verriegelt hielt und dort übernachtete, für das Kind verloren schien. Sobald es schreiben konnte, hielt das Kind die Liedertexte mit Mutters Nachhilfe auf Papier fest. Ahnte nichts vom Weltbrand, der Europa verheeren würde, der Brandnacht, in der die Trostlieder der Mutter zu Asche würden. Nichts von den fetzigen Kampfsongs, die nach den Siegesmeldungen aus den Volksempfängern dröhnten und die »Bomben, Bomben, Bomben auf Engelland« bejubelten.
Der Einschnitt war mit dem Umzug der Familie aus dem fernen Dorf in die fremde Stadt gekommen, der das vierjährige Kind entwurzelte. Heimwehschwer stand es am Erkerfenster der Mansardenwohnung, von wo man auf das schmiedeeiserne Eingangstor blicken konnte, und hoffte auf die Freunde, die es zurückholen würden.
Auch die Mutter wünschte sich die Zeit zurück, in der sie als Frau des Postagenten am Schalter stand und für den Telefondienst verantwortlich war, bei Tag oder Nacht die Verbindungen stöpselte, mal kalbte die Kuh, mal schlug der Blitz ein, kam ein Kind zur Welt. Sie erfuhr als Erste davon, meinte dem eigentlichen Leben näher zu sein. Lag es an ihr, dass sie sich dem Alltag ergab und sich eselsstarrig den Abenden mit den Honoratioren des Marktfleckens und ihren Frauen verweigerte, dem Tadel ihres Mannes, der jedes Mal ihr Auftreten kritisierte? Sich auch nicht umstimmen liess, als sie hörte, dass die Abendgesellschaft ihre Abwesenheit bedaure.
Sie war schön, aber eingeschüchtert. Das Sagen hatten die Herren. Das Kind lebte mit den Geschichten der Mutter, sah den Herrn Lehrer von hinten über die Schulbänke hechten, mit dem Stock auf die Rücken der Kinder eindreschen, den Stock bersten. Alle Altersstufen seien in einem Klassenzimmer unterrichtet worden. Und der Herr Pfarrer hatte sich als Vermittler zwischen dem Herr-Gott und seinen Gläubigen gesehen. Redete jeden Sonntag den Kirchgängern von der Kanzel ins Gewissen, zitierte das Höllenfeuer.
Alle Geschichten hat das Kind wohl kaum verstanden, aber sie bewahrt wie die Märchen, die seine Mutter auf dem noch warmgebliebenen Herdschiff – einem wassergefüllten, in den Herd eingelassenen Kupferbecken – erzählte, den Waschkorb mit Flickwäsche und löcherigen Socken vor sich, von dem sie Stück für Stück abtrug. Seit dem Umzug hatte sie Zeit, ging häufig mit dem Kind in die Bahnhofspost, beobachtete den Schalterverkehr, das rasche Abstempeln der Briefe und wünschte sich hinter den Schalter. Aber der Mann tat es ab, obwohl der Beamtenanwärter weniger Gehalt als früher bezog, die monatlichen Pakete ihrer Schwestern vom Land eigentliche Nothelfer waren. Das Kind sah seine Mutter die Schnur um die Schachtel lösen, erwartungsvoll den Deckel heben, ihr strahlendes Gesicht. Vergnügt gab sie einen Teil der Grieben auf ein Holzbrett, dazu Salz und Brot, und schon begann das lustvolle Mahl, mitten am Tag, das die Mutter zu stärken schien, als habe sie mit den Grieben aus ihrem Dorf neue Kraft gewonnen. Aber ihr eigentlicher Vertrauter blieb der grosse Bruder, dem Kind sechs Lebensjahre voraus. Mutter und Sohn waren längst Verbündete, die sich gegen die Forderungen ihres Ernährers nicht wehren konnten, einander aber stützten. Nach jedem Mittagessen zwei Zinkwannen mit heissem Wasser auf dem Kohlenherd. Während die Mutter das Geschirr spülte, zum Nachschwenken ins zweite Becken tauchte, der grosse Bruder abtrocknete und nebenbei von Mutters Marmelade naschte, redeten sie Malefisohu, eine Geheimsprache, die das Kind nicht verstand, aber am Wortklang erfasste, ob es eher traurig oder lustig war. Auch bei ihren Karten- und Brettspielen sah das Kind lieber zu, während sich die Mutter und der grosse Bruder ereiferten.
Das Kind war zufrieden mit Mutters Geschichten über Kaiser Wilhelm, der ihr Pferd für seinen grossen Krieg gebraucht und bald auch ihre Brüder aufgeboten habe. Gerade siebzehn geworden, sei Mutters Plan, sich in der Stadt weiterzubilden, geplatzt. Ihr Vater war verstorben, ein grosser, schlanker Mensch, der mit so übergrossen Schritten den Weg zur Kirche machte, dass sie als Kind Mühe hatte mitzuhalten, doch seine Hand nicht loslassen wollte. Während der Kriegsjahre hätten die Frauen auf dem Hof auch die Arbeit der Männer übernommen. Bei der Heuernte seien sie um vier Uhr früh aufs Feld gegangen, nur beim Kühemelken habe die Mutter gestreikt.
Nach dem verlorenen Krieg hätten die Geschlagenen ihre angestammten Plätze wieder eingenommen. Der Ältere als Hoferbe, der Jüngere als Metzger und Viehhändler, der wegen der Rinder bis nach Dänemark gekommen sei. Die zwei Schwestern seien eiligst verheiratet worden, und ihre Mutter habe sich im Altenteil wiedergefunden. Ins geräumte Haus sei die junge Bäuerin eingezogen, habe aber mit den Naturalien vom Hof und der Metzgerei, die der alten Frau verbrieft zugestanden wären, sehr gegeizt.
Wie ein Schwamm das Kind, das alles einsog, oft in den dämmrigen Winkeln der Wohnung hockte und sich verträumte.
Die Verlobten hätten sich zwischen ihren Wohnorten am Bahnhof Buchloe getroffen. Die Braut habe ein dunkles Schneiderkostüm getragen, der Bräutigam sich vor der Weiterfahrt nach St. Ottilien eine Tageszeitung besorgt.
Er habe in der Postagentur seines erkrankten Bruders ausgeholfen und sie nach dessen Tod übernommen – ohne die Schwägerin, die auf eine Heirat hoffte. Ihm habe die schöne Fremde gefallen, die während des Kindsbetts ihrer Freundin den Haushalt der Familie am Ort betreut habe, aber schon bald abgereist sei. So habe er brieflich um sie geworben, so heftig, dass der Hoferbe fand, wer so schöne Briefe schreibe, könne kein schlechter Mensch sein, und das Aufgebot in die Wege leitete. Im Einverständnis mit dem Bräutigam und seiner Dienststelle, die eine baldige Verheiratung des künftigen Postagenten zur Bedingung gemacht habe.
St. Ottilien sei rasch nähergekommen. Die beiden seien ausgestiegen und auf die Klosterkirche Herz Jesu zugegangen. 1897, im Geburtsjahr der Braut, habe man mit dem Bau der neugotischen Kirche begonnen, unter deren Dach sie von einem Benediktinerpater getraut worden seien. Als Trauzeugen habe man zufällige Passanten aufgeboten.
War es eine stille Messe oder nur die Trauungszeremonie ohne Orgelbegleitung, Glockengeläute? Die Geschichte der Mutter bricht unvermittelt ab, wohl zu unromantisch für das Kind, zu fern.
Die Neuvermählten reisten mit dem nächsten Zug ab und erreichten nach mehrmaligem Umsteigen den Marktflecken Rennertshofen. Ein kleiner Bahnhof, ein überschaubarer Ort in einer seit langem besiedelten Landschaft gelegen, mit Grafschaften, Klöstern, geschichtsträchtig, aber der Tourismus damals noch anderswo.
Vielleicht blieb den Eheleuten neben der Postagentur noch Zeit, um über Feldwege zu laufen, das Geklapper der Störche auf dem Rathausturm im Ohr. Und gewiss liess die junge Frau keine Sonntagsmesse in der barocken Pfarrkirche aus, sass auch werktags manchmal in der stillen Kirche, heimwehschwer und bald auch schwanger.
In Deutschland 1923 die Inflation, als Folge der Kriegsanleihen. Immer mehr Geld war immer weniger wert. Das Porto für einen Inlandbrief stieg von einhundert Mark im Juni auf zehn Milliarden Mark im November des gleichen Jahres. In der Postagentur stapelte sich das Geld, als handle es sich um Altpapier, und wurde täglich mit dem Auto abgeholt. Man kam damals mit Zählen, Abrechnen kaum mehr nach.
Dem Kind gefielen Mutters Geschichten aus ferner Zeit, wie die Reise der Eltern nach München, wo die Mutter ihren Erbanteil, den der Hoferbe seiner Schwester in alten Reichsmark statt, wie verbrieft, in Goldmark ausbezahlt habe, in einem Gemälde anlegen wollte. Der Künstler, ein bekannter Landschaftsmaler, habe die Sommer in Rennertshofen verbracht, sei täglich mit der Feldstaffelei unterwegs gewesen, von den Bauern übersehen worden, aber der Vater habe spontan ein Bild erworben. Ein Aquarell, das sie ratenweise abgezahlt hätten, wie die Frau später erfahren habe.
Die Münchner Reise habe nichts gebracht, sie seien schon ruiniert angekommen, hätten nicht mehr nach dem Atelier des Malers gesucht, die Papiermarkscheine hätten gerade noch für eine Kinderbadewanne aus Zink gereicht.
Manches aber blieb dem Kind verrätselt, wie das benachbarte Haus, von Weinlaub bewachsen, das es aus dem Fenster der Stadtwohnung sah, seine Freitreppe, das grüne Holzportal mit blanker Messingklinke. Die langgezogene Auffahrt, von Alleebäumen gesäumt und strengen Irisrabatten. Nahe beim Haus ein Springbrunnen. Wenn das Kind die Augen zudrückte, sah es den Frosch aus dem Grimmschen Märchen am Brunnenrand hocken, der auf die Königstochter wartete. Aber es war kein Märchen. Die Bewohner des Hauses seien weggezogen, wohin, wisse man nicht, nur dass es schnell gegangen sei. Ein Baumeister habe den Besitz übernommen, lebe nun mit Frau, Tochter und dem Personal im grossen Haus. Ob das Haus traurig sei, dass es zurückbleiben musste, wollte das Kind wissen.
Das Kind stand wieder am Fenster, im sattgrünen Park ein Mann mit Strohhut und grüner Schürze, der gerade die Spalierbäume, schwer von Früchten, mit Stützen versah. Dem Kind schien alles zum Greifen nah, es holte sich einen Hocker und kletterte auf das Fensterbrett, machte noch einen Schritt, schon mehr draussen als drinnen, ruderte mit den Armen und meinte, wie in seinen Träumen abheben und fliegen zu können.
Es würde seine Freunde im Dorf aufsuchen und richtig lachen. Vom Park erzählen, in dem es keine Kinder und keine Katzen gab, der ihm unheimlich sei, wenn es ihn, zum Brotholen geschickt, durchqueren müsse. Nur ihm sei erlaubt worden, den Weg durch den Park zu nehmen. Es müsse aber an einem felsigen Buckel vorbei und habe eine Riesenschlange gesehen, die dort hausen würde. Seither umgehe es den Buckel, den man besteigen könne und von oben in den Hof der Brauerei sähe, zu den Pferden, die schwere Wagen mit Bierfässern zögen. Manchmal der Wichtel auf dem Buckel, der aber traurig sei oder verzaubert, nie zurückwinke.
Von der Schaukel im Speicher würde es nichts sagen, als es glaubte, durch den Dachhimmel zu fliegen, aber die Speichertreppe hinunterstürzte. Nichts von der Mutter, die, noch das glühende Kohlebügeleisen in der Hand, nach dem Kind sah. Auch nicht, dass sie das Kind am Fenster umklammerte und auf den Boden holte, es mit dem Fliegen vorbei war.
Umso mehr träumte es sich mit den Geschichten der Mutter weg, die von 1927 in Rennertshofen erzählte, wo das Kind noch nicht auf der Welt, sein grosser Bruder noch klein gewesen sei und seine Katze sehr geliebt habe. Bei einem schweren Gewitter mit eiergrossen Hagelkörnern habe die Katze der Blitz getroffen, aber der Bruder wollte es nicht wahrhaben, und auch keine andere Katze.
Ein Ostersonntag, an dem die kleine Familie spazieren gegangen sei, der Mann habe seinen Sohn immer wieder ein Schokoladenei finden lassen, das er glücklich dem Vater anvertraute. Am Ende habe der Bruder nur ein Ei in Vaters Tasche gefunden. Das Kind war froh, in dieser Geschichte nicht vorzukommen. Auch nicht, als in der Postagentur ein Feuer ausgebrochen und die Mutter der Fahrlässigkeit beschuldigt worden sei. Im Eimer mit Asche könne es noch Glühpartikel gegeben haben. Die Furcht vor dem Wachtmeister und die Angst, bestraft zu werden, sei die Mutter lange nicht losgeworden.
Sie habe dennoch ungern von Rennertshofen Abschied genommen, als der Mann nach Burgheim versetzt worden sei. Sie habe nach sechs Jahren unverhofft das zweite Kind erwartet, das beinahe im Strassengraben zur Welt gekommen wäre. Der Arzt habe sich Zeit gelassen und sei dann wie ein Gejagter mit ihr ins Kreiskrankenhaus Neuburg gerast. In der Männerabteilung habe der werdende Vater gelegen. Gegen Mittag sei er keuchend aus seinem Sommergarten am Bach gekommen und habe, von Atemnot bedrängt, mühsam die Steigung bis zur Postagentur überwunden. Er habe die Wöchnerin nicht besuchen können und nichts von den unsauberen Laken erfahren, in die sie gebettet wurde.
Keiner konnte ahnen, dass das Asthma und das Feuer ihre Leben prägen würden. Die Mutter war noch in Erwartung, als nahe der Post der Blitz einschlug, das Haus in Brand setzte. Sie wehrte den ersten Schrecken mit einer Hand über der Brust ab. Das Neugeborene kam mit einem kleinen bräunlichen Mal auf die Welt, das es wie ein Medaillon schmücken würde.
Der Bruder hätte keine Schwester gebraucht, mit der nichts anzufangen war. Ihm war die Rolle des grossen Bruders zugefallen, die der Sechsjährige wie alles, was man ihm auftrug,