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Tochter des Schmieds: Tagebuchroman
Tochter des Schmieds: Tagebuchroman
Tochter des Schmieds: Tagebuchroman
eBook273 Seiten3 Stunden

Tochter des Schmieds: Tagebuchroman

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Über dieses E-Book

Die Heuernte vor 80 Jahren-eine Momentaufnahme, hatte bei aller harter Arbeit der Bauern auch schöne und lustige Momente. Lieselotte wird beinahe auf der Heufuhre geboren.
Die jungen, frisch verheirateten Großeltern kommen in Polen auf dem Gut Brody im Juni 1906 an und finden eine Heimat. Ihre 9 Kinder werden geboren, Lieselottes Vater ist der Älteste.
Die wundersame Dorothea ist eine Tante aus der Kindheit und Jugendzeit der Mutter um 1920.
Sie ist etwas wunderlich, kann Tote sehen und mit ihnen reden.
Im Gedicht "Das Dorf im Jahr 1945" wird die Hoffnung genährt, der Krieg möge enden und die Menschen wieder ihrer Arbeit nachgehen. Lieselottes Vater ist ein Heimkehrer. Er berichtet von der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion.
Das Gedicht "Zu mir selbst-Lieselotte"ist eine Einführung zu Lieselottes Leben in ihrem Heimatort Berndorf als Kind.
Ein Schlachtfest in Berndorf um 1960 wird beschrieben, und der Hof einer Flüchtlingsfamilie als Neubauern nach 1945 gezeigt.
Die schöne Zeit im Erntekindergarten und das Einkaufen auf dem Dorfvon 1950, von der kleinen Lieselotte aus beschrieben, die noch nicht zur Schule ging.
Das Gedicht "Sonntagmorgen"zeigt die Armut der Familie.
Das Dorfleben in Frohsinn und Trauer hat zahlreiche Facetten.Die Dorfgeschichte, zu der schließlich auch die Schule gehört, hat ihren Höhepunkt, als Lieselotte zur Schule geht. Die 3 Brüder und das Zusammenleben der Familie werden in den Geschichten " Die Gänseliese und Klaus der Unglücksrabe", "Die Großen", "Unsere Großeltern" und "Landarbeit" beschrieben. Lieselotte zeigt die Entwicklung zum Erwachsenwerden in "Erste Liebe", "Studieren"und "Letzter Weg".
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum29. Sept. 2017
ISBN9783742773852
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    Buchvorschau

    Tochter des Schmieds - Lieselotte Maria Schattenberg

    1.Heuernte

    Die Bauern waren, ausgerüstet mit der Sense, schon in der Frühe um drei Uhr auf der Wiese zum Mähen. Das Frühstück nahmen sie erst gegen sieben Uhr morgens ein. Da waren in einem Korb gekochte Eier, Brot und Malzkaffee für die Pause, die allerdings nur kurz gehalten wurde.

    Sechs Stunden, mit kurzer Unterbrechung während der Essenspause, wurde gemäht. Die Mäher schritten einer hinter dem anderen. Für die jungen Leute, die noch wenig Erfahrung im Mähen hatten, war das wohl sehr anstrengend, weil der beste Mäher das Tempo bestimmte und die anderen sich nach ihm richten mussten. Es galt zudem als Schande, von einem anderen Mäher überrundet zu werden. Man brauchte doch auch eine gewisse Zeit, seine Sense zu wetzen. Freudig wurde nach so viel Mühe die Person begrüßt, die das Essen für die Leute brachte.

    Menschen und Tiere beköstigten sich in diesen Wochen im Hochsommer auf dem Feld.

    Die Kühe und Pferde wurden mittags getränkt. Hierzu standen lange Holztröge am Rand der Koppelweide, in die man aus einer Tonne das kostbare Wasser füllte, schon leicht angewärmt von der Tageshitze. Die Sonne glühte, es gab keinen Schatten auf der Wiese. Wer eine Verschnaufpause brauchte, suchte sich ein schattiges Plätzchen unter den Eichen am Feldrand. Heute hatten sie an den großen Wiesen am Busch zu arbeiten, die vor 100 Jahren durch Ausroden im Erlenbruchmoor und durch die Melioration des Alten Fritz entstanden waren.

    Das charakteristische Landschaftsbild dieser Gegend war geprägt von feuchten Wiesen, sumpfigen Niederungen, flachen Seen und Bewässerungskanälen. Felder, Streuobstwiesen, kleinere Berge und Hügel, Schafherden, Wassermühlen, Dörfer und naturbelassene Eschen-Alleen bildeten gemeinsam mit einem kleinräumigen Wechsel der Biotope eine abwechslungsreiche und stille Kulturlandschaft.

    Aus der Eiszeit stammendes Schmelzwasser bahnte sich damals in breiten Tälern seinen Weg von Osten nach Westen und es entstand das Havelgebiet. Der Busch war einst schwer passierbares Grenzgebiet nach Sachsen. Die alten Heerstraßen in der Heide, der Bau der Chaussee und Eisenbahn hatten das Gebiet verändert. Diese gewaltigen Umwälzungen fanden tatsächlich an unserem Dorfrand statt, wobei die Dorfgrenze auch eine Ländergrenze darstellte.

    Die neu erschlossenen Ackerstücke von Berndorf führten daher auch geschichtsträchtige Namen. In der Ferne arbeiteten Bauern in der Bauernheide, der Kossätenheide und der Herrenheide. Weiter zum Dorf hin gab es die vordersten Lehmruten, die Buchtenden und die Galgenenden.

    Die Fuhrwerkswege vom Dorf verliefen zur Autobahnbrücke oder in den Busch und waren ziemlich eng. Manchmal konnten zwei volle Wagen nicht aneinander vorbei. Die Heufuhren kamen ins Rutschen, der Gesprächsstoff für das Dorf war geliefert. Der Dorftratsch blühte wieder auf und zog in Windeseile von Haus zu Haus.

    Diese Haltung schien regelrecht vererbt, denn alle Nachbarn mussten von jeher zusammen halten und die Informationen kamen immer nur durch das Reden über Andere zustande. Vor allem hinter dem Rücken der Betroffenen und wenn eine Familie neu ins Dorf gezogen war. Der Hauptumschlagplatz für diese Geschichten war der Laden, in dem man sich täglich zum Einkaufen traf.

    Die Bauern nutzten gerade verlaufende Trampelpfade zum Dorf, welche über Acker und Felder verliefen, querfeldein lagen, um vom Hof zu ihrem Feld zu kommen. Im Sommer meistens trocken und glatt, passten diese Wege ihren Zustand der Jahreszeit an und konnten matschig oder hart gefroren sein.

    Sie führten auch über Getreidefelder und zerteilten Wiesen, machten Abkürzungskurven, wenn es nötig schien oder, wenn Felder neu angelegt wurden, konnte so ein Weg über Nacht verschwunden sein. Dann gab es verdutzte Gesichter oder lautstarkes Fluchen, je nach Temperament der Betroffenen.

    Hatte man sich an einen Weg gewöhnt, kostete es Mensch und Tier manche Mühe, Umwege zu machen und sich neu einzustellen. „Er steht da wie der Ochse vor dem neuen Scheunentor, " hieß es dann.

    Um die Mittagsstunde des warmen Augusttages lagerten die Dorfleute jeweils in der Nähe von ihren Feldstücken unter Eichenbäumen, die an den Wegrändern wuchsen, im weichen Gras. Man zählte das vierte Jahr in Friedenszeiten.

    Die Arbeit ruhte in der Hitze einige Zeit, Harke, Mistgabel oder Kuhgespann waren abgestellt. Ein feiner Wind ließ die Eichenblätter rauschen. Auch einige wenige Kinder saßen abseits im struppigen Gras, nutzten den Schatten der Eichen und suchten vierblättrige Kleeblätter, die Glück bringen sollten. Männer, Frauen und Kinder ließen sich die Klappstullen schmecken, schoben sie zwischen die Zähne, spülten mit Malzkaffee nach und wischten die Brotkrümel von den Arbeitsjacken oder den nackten Oberkörpern.

    Nach der Rast ackerten sie weiter auf ihren Feldern bis zum späten Abend, während die Sprösslinge sich neckten, Haschen spielten oder die Kleinsten am Schlafittchen nahmen und mit sich schleppten.

    Das zu trocknende Gras wurde im Tageslauf mit dem Rechen mehrmals gewendet. Am Abend fertigte man kleine Haufen. Am anderen Tag wurden diese Grasschwaden auf die tautrockene, gemähte Wiese wieder ausgestreut, im Laufe des Tages das liegende Gras mehrmals umgewendet und abends wieder gehäuft. Dasselbe geschah am folgenden Tag mit dem bereits trockenen Gras nochmals. Die abends geschichteten Heuhaufen waren jetzt schon bedeutend größer. Wenn das Heu zur Einfahrt geeignet war, brachte der Bauer mit seinen Pferden manchmal gleich zwei zusammengehängte Leiterwagen auf die Wiese. Dabei hatte er auch die großen dreizinkigen Heugabeln zum Aufladen. In diesen Jahren gab es kaum Pferde. Sie waren unter den Opfern des Krieges zu suchen. Die Zucht brauchte Zeit und ausgeruhte Tiere. Wer noch im Besitz eines oder sogar zwei dieser vierbeinigen Schätze war, verborgte sie nicht oder nur sehr ungern. Meist hatten die Bauern jedoch zwei Kühe vor einem Heuwagen.

    Nun konnte das Aufladen beginnen. Beim Bepacken stand ein Mann auf dem Wagen und schichtete die gereichten, aufgespießten Heuhaufen fachgerecht. Die Kinder mussten nachrechen. Die gesamte Fuhre harkte der Bauer persönlich am Ende nochmals sauber ab, denn sie sollte eine schöne, gerade Ladung sein.

    Krumme Heufuhren wurden belacht, und der Bauer war froh, wenn er möglichst ungesehen die Scheune erreichte.

    Daheim hatten die Frauen und Kinder das Heu auf dem Heuboden festzutreten. Das Herumtrampeln auf dem warmen Heu in der Scheune bei der großen Hitze war natürlich mühevoll sowie eine unbeliebte Tätigkeit und ließ den Schweiß rinnen.

    Bei beständigem und schönem Wetter konnte man das gesamte Heu in 14 Tagen einbringen, allerdings unter der Bedingung, täglich Gras zu mähen und getrocknet heimzufahren. Es waren meist einige Wiesen gleichzeitig zu bearbeiten. Das bedeutete Stress und Hetze für die Bauern. Bei schlechtem und ungünstigem Wetter dauerte es bis zu vier Wochen und oft noch länger. Am Ende des Tages luden die Landwirte ihre Arbeitsgeräte auf, platzierten die Kinder auf den Leiterwagen und spannten die Tiere an. So zockelten Mensch und Tier in ihre Höfe. Die Leute waren mit den Gedanken schon in den Ställen beim Füttern der Tiere und Ausmisten der Ställe.

    Beängstigend war es, wenn die Heuarbeiten von einem herannahenden Gewitter gestört wurden. Der dann oft einsetzende mächtige Wind behinderte die Ladearbeiten, und der nachfolgende Regen machte die ganze vorige Arbeit nutzlos. Wie man sieht, brachte die Heuernte für das bäuerliche Landvolk insgesamt eine übergroße Hetze mit sich.

    Unschwer zu erkennen ist daher, dass sie für eine werdende Mutter in den letzten Wochen völlig ungeeignet ist. Nun besaß meine Familie kein eigenes Pferd. Mutter hatte daher an diesem heißen Augusttag die beiden Kühe vor einen hohen Leiterwagen gespannt und war in den frühen Morgenstunden mit ihren beiden Söhnen ins Heu gefahren. Ihr Stück Wiese lag dicht am Busch, gleich hinter dem Vertauschungsfleck und hieß die Siebenruten.

    Es war ein Donnerstag. Die Kinder hatten Ferien und zeigten sich als eine gute Hilfe für die Mutter beim Nachharken und Zügeln der Tiere.

    Der Vater begann seine Arbeit als Schmied schon im Morgengrauen gegen sechs Uhr in der Dorfschmiede. Er schärfte die Pflugschare der Bauern und reparierte ihre Eggen, Heuwender, Häckselmaschinen oder die Zinken der Heugabeln.

    Er traf gewöhnlich nach seiner ersten Schicht am späten Nachmittag mit dem Fahrrad auf dem Feld ein, um der Mutter zur Seite zu stehen. Heute war ein besonderer Tag für die vierköpfige Familie. Mutter wartete schon einige Tage auf ihr drittes Kind. Trotzdem fuhr sie wie an den vergangenen Tagen in die Heuernte und begann, das in Schwaden liegende Heu aus seinen langen Reihen zu kleinen Haufen zusammen zu harken. Die beiden Jungen halfen ihr mit dem Rechen und den Zügeln wie gewohnt. Als es Zeit wurde aufzuladen, bekam sie das Ziehen im Bauch, welches sie bereits seit dem frühen Morgen gespürt hatte, in kurzen Abständen und immer heftiger.

    Der Wagen war zur Hälfte gefüllt. Sie gab Anweisungen, wie der Große ihr das Heu zureichen sollte. Schwerfällig begab sie sich dann auf die erste Stufe des Wagens. Ehe sie aber auf die Heufuhre klettern konnte, um den oberen Teil fachmännisch zu laden, wurden plötzlich ihre Kleider nass. Erschrocken glaubte sie, ihr Kind hier auf der Wiese zu bekommen. Schweiß trat auf ihre Stirn. Zitternd vor Erregung entschloss sie sich, schnell zu handeln. „Junge, lauf über die Wiese und hinten an den Gärten vorbei in die Schmiede. Sag dem Vater, er soll schnell kommen. Es geht jetzt los", rief sie dem Älteren zu. Sie zeigte auf ihren großen Bauch und beide Jungen machten erstaunte Gesichter. Der Große fasste sich ein Herz und rannte in die Schmiede.

    Der Vater und unser Nachbar kamen so schnell es ging im Einspänner mit einem braunen Pferd davor. Die Mutter wurde vorsichtig auf den Wagen gesetzt. Der Schneidermeister verborgte heute Pferd und Wagen zu diesem Ereignis und fuhr sein Gefährt gleich selbst zur Wiese, für alle Fälle. Dann half er den beiden Jungen mit dem Heu, während die Kutschfahrt der Eltern in die kleine Kreisstadt führte, nur eine Handvoll Kilometer entfernt. Für Mutter, deren Wehen nun regelmäßig in wenigen Minuten kamen, schien dieser Weg kein Ende zu nehmen. Sie war hochrot, hockte mehr als sie saß und wurde vom Vater gehalten.

    Auf den Nachbarfeldern stützten sich die Bauern neugierig auf ihre Rechen und hielten die Hand schützend über die Augen. „Was um alles in der Welt ist denn heute bei dem Schmied los?, forschte der alte Wendisch und sah seine Frau an. Die zuckte mit den Schultern:„ Wenn das man nichts mit dem Wochenbett der Frau zu tun hat. Sie ging schon ziemlich stark und hat auch bis zuletzt geackert, die Arme. Ein Wunder, dass sie das Kleine nicht auf der Wiese entbunden hat. „Das dünne Schneiderlein kümmert sich um die beiden Burschen. So etwas hat man ja noch nicht gesehen. Was will der denn bei der Feldarbeit? Den bläst doch ein Gewittersturm glatt von der Wiese", lästerten die anderen Leute und wandten sich kopfschüttelnd ihrer Arbeit zu.

    Am Nachmittag kurz nach der Kaffeezeit wurde im Mütterhaus durch die Hebamme Frau Zehkorn eine kleine Tochter entbunden. Diese Frau half noch vielen Kindern auf die Welt. Sie hatte in ihrem Haus zwei Entbindungszimmer eingerichtet.

    Ein notdürftig eingerichtetes Krankenhaus und einen Arzt gab es in der großen Kreisstadt. Für die Bauern war es zu umständlich, dorthin zu fahren. Natürlich war die Ausstattung des Hauses dürftig und auf das Notwendigste beschränkt. Der Entbindungsraum im linken Flureingang hatte vor dem Krieg schon so ausgesehen: Rechts an der Wand stand der grüne Kachelofen, in der Mitte ein altes Feldbett, von dem man den Umriss in der Dielenfärbung noch Jahre später wahrnehmen konnte und links, gleich neben dem Eingang, ein Tisch als Wickelkommode. Den Sonnenschein hielten zerschlissene Jalousien zurück und tauchten den Raum in ein fahles Dämmerlicht. Über der Kommode an der Wand hingen Tapeten mit Kindermotiven. Bälle, Rasseln und Teddys, bunt durcheinander. An den Wänden klebten Tapeten, man sah an abgeriebenen Stellen unter ihnen alte Zeitungsreste mit russischen Schriftzeichen. An eine Renovierung dieser Räume konnte damals nicht gedacht werden, denn es gab wichtigere Dinge, wie das tägliche Brot zu besorgen und den Kindern auf die Welt zu helfen, dem Leben wieder Sinn zu geben.

    Als Mutter und Kind nach einigen Tagen wieder zu Hause waren, verlief der Ablauf des Tages anders als gewohnt. So eine Entbindung in der Haupterntezeit und ein Kind so kurz nach dem Krieg war kein Ereignis, das die Familie sonderlich begrüßte. Zunächst begannen die beiden Großen, inzwischen acht und neun Jahre alt, viele Fragen an die Eltern zu stellen:

    „Bleibt die Kleine jetzt bei uns oder bringst du sie wieder zurück?", machte sich der Ältere die Hoffnung, dass es so wird wie früher.

    „Woher kam die kleine Schwester eigentlich? Wieso wurde sie überhaupt zu uns gebracht? Wir haben doch schon zwei Kinder", grenzte sich der Jüngere ab. Beide hatten in den vergangenen Jahren genug durchgemacht.

    Sie wollten jetzt ein wenig Ruhe in ihrem Leben, eine Zeit, wo die Mutter wenigstens am Abend mehr für sie da war. Die beiden waren kurz nacheinander noch in der alten polnischen Heimat geboren. Erst als es hieß, man solle die deutschen Ostgebiete verlassen, begann eine schreckliche Zeit für die Mutter und die beiden kleinen Kinder. Die Mutter hatte in kurzer Zeit ihr Hab und Gut zu packen, das in zwei großen Koffern Platz hatte, dabei Federbetten und das Nötigste für die Kinder. Mit Pferd und Wagen flüchtete auch sie wie so viele andere im kalten Winter bei Schnee und Eis über die Oder. Vater war zu dieser Zeit schon in Richtung Russland als Soldat unterwegs.

    Im September wurde das Mädchen auf den Namen Lieselotte getauft, nach der Schwester von Großmutters früh verstorbener Cousine, die sehr vornehm war. Es konnte ja sein, dass diese Vornehmheit abfärbte. Über das Taufbecken gehalten wurde sie von Mutters Bruder, der seinen ersten und letzten Besuch in ihrer neuen Heimat vornahm. Er konnte diesem Staat gar nichts abgewinnen, fand er doch bei Stuttgart seine große Liebe. Unregelmäßige Briefkontakte, zu Festtagen und Geburtstagen blieben.

    Zwei Jahre später hatten die Eltern noch einmal ein neues Bett für den letzten Spross der Familie aufzustellen, den sie auf den Namen Klaus tauften.

    Die Alten sagten, in dem Augenblick der Taufe kommt mit Wort und Wasser der Geist Gottes auf den Menschen herab und verändert ihn für immer.

    Die Taufe, das Besiegeln durch den Heiligen Geist, ist reales Geschehen.

    Manchmal ist es gut, wenn unsere Wünsche die Wirklichkeit Gottes und der Welt nachträglich nicht mehr ändern können, denn seine Paten kümmerten sich genauso wenig wie die der anderen Geschwister um ihre Schützlinge. Wir hätten uns wohl treuere Diener Gottes gewünscht.

    Die beiden großen Jungen hatten die Flucht aus Polen mit ihren drei und vier Jahren zwar noch nicht bewusst erlebt, aber dem Älteren saß eine ständige Angst im Rücken, gepaart mit Entzündungen der Bronchien. Es hieß, er hätte es von der Flucht behalten. Jetzt waren sie gerade in die Schule gekommen. In dem schmalen Graben neben der Wiese suchten sie während Mutters Schwangerschaft fast täglich herum. Die seichten Stellen mit den grünen Ufern am kleinen Plane-Fluss, wo der Storch seinen langen Schnabel in die undurchsichtigen, morastigen Vertiefungen steckte und die kleinen Babys aus dem Wasser fischte, hatten ihnen die Eltern einmal gezeigt. Mit Weidenruten stocherten sie, barfuß und verschwitzt, in den Erdlöchern herum, konnten aber nur Frösche entdecken. Die Jungen vermuteten, dass sich daraus, wie der Helmut aus dem Dorf erzählte, die Babys entwickelten. Er wusste nämlich von Störchen, die besondere Frösche im Maul trugen. Das Bild hatte er selbst in einem alten Buch vom Vater gesehen.

    Die grob geschnitzten Frösche ähnelten kleinen Kindern. Vermutlich brachten die beiden Jungen die Wölbung, die Mutter seit Wochen vor sich hertrug, nicht mit einem Kind in Verbindung, sondern suchten es im Wasser. Doch scheinbar hatte der Storch diesmal vergessen, die Mutter ins Bein zu beißen, damit sie sich ins Bett legen musste, denn sie war doch auf der Wiese, als plötzlich dieses Ereignis geschah. Niemand hatte die beiden Brüder eingeweiht in das Rätsel um die Geburt ihrer Schwester. Früher wollte man den kleinen Kindern die wahren Umstände von Zeugung und Geburt nicht erzählen. Die Vorgänge um den Unterleib herum waren nichts für Kinderohren. Trotzdem war die Frage, warum hatte gerade der Storch diese Aufgabe erhalten? Er schien am besten geeignet, denn Elefanten und Kängurus lebten nicht bei uns, Wölfe und Bären waren böse, haben Kinder verschlungen und nicht gebracht, das ging auch nicht. Die meisten anderen Tiere, auch die Vögel, waren zu klein. Hätte man den Kindern erzählt, eine Amsel habe sie gebracht, wäre das seltsam. Der Storch aber war ein heimisches Tier, alle Kinder kannten ihn. Er war auch groß genug. Storch Langbein oder Meister Adebar, ein Glücksbringer. Bei Neugeborenen findet man manchmal im Nacken oder auf der Stirn ein meistens schnell flüchtiges Feuermal, das der Storch beim Transport hinterlassen haben soll. In unserem Dorf lebte das Storchenpaar schon viele Jahre.

    So konnten die Erwachsenen mit großem Zusammenhalt nutzen, das alte Märchen vom Klapperstorch am Leben zu halten, auch wenn sie sich wegen ihrer belastenden Kriegserinnerungen sonst lieber aus dem Weg gingen. Das Paar begann in jedem Frühjahr mit dem Eierlegen und flog meist, unabhängig von ihren zwei Jungstörchen, zur Herbstzeit in den Süden. Aber den ganzen Sommer über konnte man das Schnäbeln und Balzen, das Füttern und Klappern sehen und hören. Sie hielten sich viel am Wasser auf, sie schnäbelten in Tümpeln und anderen flachen Gewässern herum. Im Wasser wohnten in den Vorstellungen des alten deutschen Volksglaubens auch die Seelen der Kinder. Das große Storchennest befand sich in Nähe des Grabens auf einem strohgepolsterten alten Holzreifen am Rande des Scheunendachs. Das dazugehörige Bauernhaus stand gegenüber dem zweistöckigen Haus der späteren Genossenschaft, die in den sechziger Jahren für unsere Familie eine große Bedeutung hatte. Unsere Kindheit war von den Kriegserlebnissen der Eltern stark belastet. Der Kummer und das Leid, das ihnen zugefügt worden war, machten sich im Alltag breit wie eine schleichende Viper.

    Kindheit

    Voll Früchten der Hollunder; ruhig wohnte die Kindheit

    In blauer Höhle.

    Über vergangenen Pfad,

    Wo nun bräunlich das wilde Gras saust,

    Sinnt das stille Geäst; das Rauschen des Laubs

    Ein Gleiches, wenn das blaue Wasser im Felsen tönt.

    Sanft ist der Amsel Klage. Ein Hirt

    Folgt sprachlos der Sonne, die vom herbstlichen Hügel rollt.

    Ein blauer Augenblick ist nur mehr Seele.

    Am Waldsaum zeigt sich ein scheues Wild und friedlich

    Ruhn im Grund die alten Glocken und finsteren Weiler.

    Frömmer kennst du den Sinn der dunklen Jahre,

    Kühle und Herbst in einsamen Zimmern;

    Und in heiliger Bläue läuten leuchtende Schritte fort.

    Leise klirrt ein offenes Fenster; zu Tränen

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