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Barackenkind
Barackenkind
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eBook364 Seiten5 Stunden

Barackenkind

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Über dieses E-Book

Der Roman "Barackenkind" ist in drei Teile gegliedert:
Im Prolog schildert die Hauptperson Elisabeth das Leben ihrer Mutter. "Leokadia, meine Mutter, ist heute vor allem eine Stimme in meinem Kopf, eine Stimme, die singt" und eine Stimme, die erzählt: "Weißt, Lischen…."
Es waren schwere Erfahrungen, von denen Leokadia erzählte. Sie hatte das Schicksal vieler Russlanddeutscher in den beiden Weltkriegen erlitten: Als Kind war sie nach Sibirien verschleppt worden und am Ende des 2. Weltkriegs mit ihren sieben Kindern von Ostpreußen nach Niedersachsen geflüchtet, wo sie als Kriegerwitwe schwer arbeitete, um ihre Kinder durchzubringen. Elisabeth, noch ein Kleinkind zu der Zeit, litt sehr darunter, dass ihre Mutter selten zu Hause sein konnte. Sehnsucht nach ihr war das Grundgefühl ihrer Kindheit.
Der Hauptteil spielt in den 90er Jahren. Elisabeth, Anfang 50, geschieden, Lehrerin und Schriftstellerin, besucht in ihren Herbstferien ein Treffen der Menschen, mit denen sie die Kindheit in einem Flüchtlingslager der Nachkriegszeit verbracht hat. Auf dem Weg dorthin holen sie die Schrecken von damals wieder ein.
Lange hat sie gezögert, die Einladung zu dem Treffen in Herbstede anzunehmen, wo sie als kleines Kind mit ihrer Familie 1945 gelandet war. Sie möchte nichts zu tun haben mit den Gespenstern ihrer Kindheit. Aber als immer häufiger Erinnerungen an das Barackenlager in ihre Ferienwoche einbrechen, beschließt sie, loszufahren und vor dem Treffen Herbstede wiederzusehen und ihre dort lebenden Geschwister zu besuchen.
Nachts sind alle Erinnerungen wieder da: Einsamkeit, Schuldgefühle, Angst in vielfältiger Form: vor dem Teufel, vor Spuk, vor Gewalttätigkeit und sexuellen Übergriffen. Der alte Bubi aus dem Altersheim zahlte fünfzig Pfennig, wenn ein Mädchen die Hose auszog. Das Ledergesicht hat Gundel vergewaltigt. Aber am schlimmsten für sie war das tägliche lange Warten auf die Mutter.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. März 2014
ISBN9783847679868
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    Buchvorschau

    Barackenkind - Edith Dühl

    Vorwort

    In „Barackenkind" trifft die 51jährige Lehrerin und Schriftstellerin Elisabeth die Menschen wieder, mit denen sie als Kind, nach der Flucht aus Ostpreußen am Ende des 2. Weltkriegs, lange Jahre in einem Barackenlager verbracht hat; Jahre voller Einsamkeit und Angst: Die Roggenmuhme wollte einen fangen, der alte Bubi zahlte fünfzig Pfennig, wenn ein Mädchen die Hose auszog, das Ledergesicht vergewaltigte Gundel… Am schlimmsten aber war die Sehnsucht nach der Mutter, das endlose Warten, bis sie von der Arbeit kam. Vieles, dem Elisabeth lange ausgewichen ist, muss sie noch einmal durchleben.

    Bei dem Treffen erfährt Elisabeth eine unerwartete, große Nähe zu den ehemaligen Barackenkindern, die sie jahrzehntelang nicht gesehen hat. Ihr Leben erhält eine überraschende Wende.

    Edith Dühl hat ihrer Romanfigur Elisabeth ihre eigene Kindheitsgeschichte gegeben, und die im Prolog beschriebene Geschichte einer Russlanddeutschen, die im ersten Weltkrieg mit ihrer Familie nach Sibirien verschleppt wurde, erzählt die Geschichte ihrer Mutter Leokadia.

    „Barackenkind" ist der erste von vier zusammengehörenden Romanen, die durch ihre Frauengestalten miteinander verbunden sind, Freundinnen, die sich seit dem Studium durch das Leben begleitet haben.

    Jeder der vier Romane „Barackenkind, „Wundrose, „Unterwegs und „Bleiben erzählt eine unabhängige Geschichte, doch zusammen ergeben sie ein Panorama dessen, was die Lebensjahre zwischen 40 und 50 bereit halten: Liebeskonflikte, Trennungen, Probleme mit Kindern, Tod von Angehörigen – und die Möglichkeit des Neubeginns.

    Edith Dühl wurde 1944 in Ostpreußen geboren und lebt in Hamburg. Einige Jahre war sie Assistentin an der dortigen Universität und Lehrerin. Seit Längerem arbeitet sie als freie Schriftstellerin und Lektorin, daneben hat sie Sprachunterricht, Kurse in der Lehrerfortbildung und für Creative Writing gegeben.

    Titel

    Edith Dühl

    BARACKENKIND

    Für Christian und Benjamin

    Einbandgestaltung: Wolfgang Pollak und Edith Dühl, Hamburg

    Leokadia

    Wege. So viele, so lange Wege. Dabei begann Leokadias Weg in freundlichen Landstrichen, wo der weiße Weizen sich im Sommerwind wellte und Schlangen mit goldenen Augen zu den Menschen kamen und von ihrer Milch tranken. Aber dann schwangen Soldaten Nagaijkas und jagten die Bewohner fort aus dem weizenumwogten Haus, trieben sie durch Sümpfe, in denen Seuchen brüteten. Weite Flüsse mussten sie hinunterfahren, durch Steppen und Wüsten ziehen, hin und zurück durch den Krieg, wo Hunger so grausam wütete, dass Menschen Menschen fraßen. Keine Bleibe bot ihnen das Land, nur Notlager, Erdhöhlen, Schuppen, um den kahl geschorenen Kopf auszuruhen oder seuchenkrank still zu liegen, zu sterben.

    Dann gab es für Leokadia ein paar Jahre Rast in einem Land, wo im Frühling die Saat gesät, im Sommer das Wachstum betreut, im Herbst die Ernte eingebracht und im Winter die Lieder ins Reine geschrieben wurden, die die Arbeit des Jahres begleiteten. Und wo sie ihre Kinder gebar. Dort fühlte es sich an wie zu Hause. Aber das Böse breitete sich aus bis zu ihnen, man tat nichts, es zu verhindern, bis Panzer heran rollten und sie aus dem neuen Zuhause flüchten musste. Da führten die Wege weiter durch gespurten Schnee, über scholliges Eis breiter Flüsse, weiter, weiter...

    und manche führten in die innere Wüste und die Not und der Durst nach dem Wasser des Lebens waren groß. Und irgendwann führten sie in den Tod. Oder gab es Erlösung, führten alle Wege nach Haus, immer nach Hause? Wer alles hat nicht behauptet, dass es so sei! Auch Leokadia war sich ganz sicher, dass ihr Weg über den Tod hinaus in die himmlische Heimat führen würde. Trotz mancher Zweifel gab es für sie in jeder Wüste Wasser des Lebens zu trinken und das Ziel aller Wege stand für sie fest.

    Ich wünschte so sehr, dass sie angekommen ist in der himmlischen Heimat und getröstet in Abrahams Schoß ruht.

    1

    Leokadia, meine Mutter, ist heute vor allem eine Stimme in meinem Kopf, eine Stimme, die singt, in warmem, vollem Alt, erstaunlich füllig für den kleinen Körper, aus dem sie strömt.

    „Weil ich Jesu Schäflein bin,

    freu ich mich nun immerhin

    über meine grüne Weide,

    dass ich keinen Hunger leide,

    und sobald ich durstig bin,

    führst du mich zur Quelle hin. ...",

    das passte zur kleinen Leokadia. Ihre Dankbarkeit dafür, dass sie keinen Hunger und Durst leiden musste, war nicht nur Singsang, so viel verstand ich schon als Kind. Aber dann ertönte auch voll und sicher „Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte, die du geschaffen durch dein Allmachtswort... oder „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Christus offenbart ..., und ich staunte sie an wie eine Predigerin.

    Mehr eine Erinnerung des Gehörs als des Gesichts, jedenfalls in den frühen Kinderjahren, aber doch steht meine Mutter auch in Bildern vor meinem inneren Auge, rotglühend und verschwitzt, wenn sie von der Feldarbeit nach Hause kommt, später am Abend blass am Spinnrad, nur in den Äderchen auf den Wangen hat die Röte überlebt. Immer hat sie zu tun, selten darf ich auf ihren Schoß. Ich sehe sie in der Nacht am Bett knien und beten und der tagsüber aufgesteckte Zopf läuft lang das Rückgrat hinab. Leokadia am Wäschetrog. Ein Hemd zwischen den rubbelnden Händen, durchdringt ihre Stimme den Wasserdampf und füllt die ziegelgemauerte Waschküche mit hallendem Gesang. Dann neben mir auf dem Sofa die schwache, alte Leokadia, verstummt, mit zart gewordenen, blau geäderten Händchen im Schoß. Und plötzlich betrachtet sie mich prüfend.

    „Lokaddja, so nannten sie ihre ostpreußischen Schwägerinnen und ihre Nachbarinnen. Frauenstimmen habe ich im Ohr, wenn ich diesen Namen meiner Mutter höre, „Lokaddja.

    Mit ihren vielen Kindern lebte sie zwischen Frauen, die wie sie viele Kinder geboren hatten. Männer gab es in ihrer Welt wenige, seit der ostpreußische Gewaltgauleiter die letzten bis dahin Unabkömmlichen und dann auch Jungen und Greise aufbot, um Erdwälle aufzuschaufeln als Schutz gegen die Panzer und Geschütze der Sowjetarmee. Nicht zu fassen, dass Gauleiter Koch an die Wirksamkeit dieser Wälle glaubte. In seinem letzten Fronturlaub hatte Rudolf, ihr Mann, einen Leiterwagen mit einem Dach versehen und ihn so eingerichtet, dass alle Kinder in Federbetten, dem wie sich herausstellte kostbarsten Besitz, warm sitzen und Leokadia warm liegen konnte. Denn Leokadia war krank, als sie losfuhren, war schon lange krank gewesen und wurde erst unterwegs während der zwei Monate dauernden Flucht langsam wieder gesund. Aber sie fuhr los, ob krank oder nicht, machte sich nach einigen Jahren der Rast wieder auf den Weg, ohne die Verwandten aus dem Nachbardorf, die zauderten und gehorsam auf die Order des Gauleiters warteten. Sie fuhr, als die Geschütze in der Ferne zu donnern begannen, den einen Tag eher los, der über Wegkommen oder Bleiben entschied. Ihre Verwandten fielen der einrückenden Armee in die Hände.

    Ihr Mann blieb dort, wohin ihn der Volkssturm zuletzt, April 1945, noch geweht hatte, an der Samlandküste. Die Nummer des Soldatengrabes wurde Leokadia ins neue Zuhause geschickt zusammen mit den paar persönlichen Gegenständen, die von ihm geblieben waren: dem Wehrpass, den Familienfotos und einer Uhr mit zerbrochenem Glas. Auf den Fotos existiere ich nicht. In den letzten Kriegsmonaten, als es mich auch schon gab, wurde nicht mehr fotografiert.

    Leokadia konnte den Soldatenfriedhof, wo man ihn neben vielen anderen eingegraben hatte, nie besuchen, unzugänglich lag er im russischen Sperrgebiet. Sie blieb im Westen, in dem Dorf, in dem die Flucht geendet hatte. Blieb auch, als heimreisende russische Kriegsarbeiter sie aus dem zerstörten Deutschland mit zurücknehmen wollten, als ihnen auffiel, wie fließend die kleine Frau russisch und ukrainisch sprach. Sie blieb, getrennt vom ukrainischen Land ihrer ersten Lebensjahre, dem kirgisischen ihrer späteren Kindheit und dem polnisch gewordenen ihrer Jugend, Witwe seit ihrem 38. Jahr, mit ihren Kindern in einem Dorf in Niedersachsen.

    Für keins unter meinen Geschwistern, glaube ich, ist „die Mutti, „unse Mutti, so deutlich Leokadia geworden wie für mich. Alle meine Geschwister erlebten die frühen Kinderjahre im Osten, im Schoß einer großen Familie, die es zu einigem Ansehen und Wohlstand gebracht hatte, nicht im Barackenlager im Westen. Die Mutter, die meine Geschwister ins Leben begleitete, musste nicht von früh bis spät rackern, um die notwendigsten Lebensmittel zu verdienen. Während der ganzen Kindheit im „Wir der großen Geschwisterschar untergegangen, bin ich jetzt eine Einzelne. Wenigstens in dieser Geschichte ist „unse Mutti meine Mutter, ich muss nicht mehr teilen. Leokadias Geschichte ist ganz ihre und doch ein bestimmender Teil meiner eigenen. Nicht umsonst hat mein Gedächtnis viele Einzelheiten aus ihrem Leben so genau aufbewahrt, an die meine Geschwister, obwohl alle älter als ich, sich nicht erinnern. Vielleicht habe ich immer geahnt, dass ihre Geschichte für mich lebensnotwendiger Stoff ist. Stoff, um mich zurechtzuerzählen, um mir eine Bleibe zu schaffen in der Wüste der Welt, ein Zuhause.

    Die Augen schließen. Der Stimme lauschen. Nicht immer sang sie, sie hatte auch viel zu erzählen.

    „Weißt, mein Kind, so begann meine Mutter oft. Wenn auch nicht auf dem Schoß, so hockte ich doch auf dem Fußbänkchen neben dem Spinnrad nah bei ihr. Wir waren beide eingehüllt vom Geruch des fettigen Schafwollebuschs auf der Spindel. „Das war ja die Ukraine. Da hatten ja meine Eltern einen Hof. Aber da waren auch noch andere Deutsche und noch sonst viele verschiedene Leute: Ukrainer und Russen und Polen und Kosaken und Juden. Das war ja ein ganz anderes Land als hier. Der Fluss war so breit, nicht wie die Delme, und da wuchs ja der Weizen, Felder, weiß, so weit wie du sehen konntest, und der Wind fuhr da immer so rein und machte Wellen und dazwischen waren auch Felder mit Mohn, lila und weiß und rosa.

    „Und im Sommer war es lange Monate warm. Da brauchtest du für Wochen keine Schuh. Aber im Winter, da musstest du aufpassen, dass dir die Nase und die Zehen nicht abfrieren. Einmal kam bei uns ein Nachbar über Land gegangen, und als er die Mütze abgesetzt hat, da fiel ihm ein Stück ab vom Ohr, da hatte er nicht richtig alles zugedeckt gehabt."

    Ihre Stimme, die dem Kind vom Kindheitsland erzählte.

    Von den vielen Schlangen, die es dort gab und die tödlich bissen, erzählte sie immer wieder, weil ich schaudernd immer wieder davon hören wollte. „Na du weißt doch schon, dass sie ans Haus kamen, manchmal bis in die Küche. Und einmal, da hatte ich draußen so ein kleines Schüsselchen Milch wo hingestellt und stehen lassen, und als ich später wieder hinkam, hat eine Schlange draus getrunken. Die Schlangen lieben ja die Milch von den Kühen. Na, und da hab ich ja oft extra Milch auf ein Tellerchen getan und hingestellt, so bisschen versteckt, dass keiner es sah, und da kamen sie immer und haben getrunken und ich hab zugesehen und die haben mich angesehen mit ihre goldene Augen, ich glaub, die haben schon immer gewartet, dass ich was bring."

    Und dann hatte Leokadias Mutter, meine Großmutter mit den kastanienbraunherrlichen Haaren, die ich niemals gesehen habe - unsere Lebenszeiten überschnitten sich nicht, auch unsere Orte waren so weit entfernt, fern die Ukraine, noch ferner Sibirien - meine Großmutter Emilia entdeckte das Schlangenspiel eines Tages und sie verbot dem Kind, die Schlangen ans Haus zu locken, manche seien gefährlich, tödlich gefährlich, „und ich habs ja nicht mehr gemacht", sagte Leokadia.

    Das war nicht als Kritik an der Mutter Emilia gemeint. Im Gegenteil, wie leuchteten die blauen Augen auf, wenn Leokadia ihre Mutter erwähnte. Bis zum Ende blieb es ihr wichtig, ob Menschen schön waren, und wenn sie von ihrer Mutter erzählte, stand immer am Anfang: „Ach weißt, meine Mutter, die war ja eine große, schöne Frau, die hatte so rotbraune Haare, weißt, wie die frischen Kastanien. Und ihre Stimme! Die machte alle still, sie war ja selbst so still und lieb mit all den Kindern. Und sie war fromm. Sie hat ja gewusst, dass sie so früh sterben wird ..."

    Leokadias volle Stimme wurde dünn, wenn sie darauf zu sprechen kam, und sie machte mir das Herz ebenso schwer, wie ihr eigenes wohl immer noch war.

    Später, als ich groß genug war, erzählte Leokadia nicht nur vom Kindheitsparadies. Da saß ich neben meiner Mutter an den Weidenkörben und schälte mit ihr zusammen Birnen und Äpfel, die vom Herbstüberfluss der Bauernhöfe zu uns geschwemmt waren. Ich schälte mit Eifer und gern, zusammen zu arbeiten war Nähe, wenn auch meine Mutter viermal so flink war wie ich, die Schalenspirale kringelte sich von ihren schnellen Fingern bis in den Schoß. Während wir schälten und schnitten und Kerngehäuse entfernten, eingehüllt in die Wolke von Obstduft, erzählte sie auch das andere, ich wollte es wieder und wieder hören und bald entstand eine fest gefügte Erzählung in meinem Gedächtnis, die ich auch heute noch abrufen kann, wenn ich will. Manchmal wartet die Geschichte auch nicht auf mein Rufen, manchmal erzählt sie sich von selbst, aber immer ist es Leokadias dunkle, melodische Stimme, die spricht:

    „Weißt, mein Kind, da war ich ja erst acht Jahre alt. Da hab ich so im Graben gesessen beim Haus, da war so weiches Gras, und dahinter war das Korn noch grün und es wehte so schön, den Wind hab ich so gerne gehört, und da kam ein Polizist in Uniform, das kannte ich gar nicht. Irgendwo war ja Krieg, davon haben wohl die Eltern mal gesprochen, aber bei uns war alles so wie immer, sie haben gearbeitet und wir Kinder haben gespielt und manchmal auch gearbeitet und ich hab ja jeden Tag nach den Schlangen gesehen. Und jetzt, was denkst du, jetzt sollten die Eltern auf einmal weg vom Hof. Drei Tage war Zeit, da konnten sie alles verkaufen, auch was einpacken, und dann sollten sie weg. Die dachten wohl, wir Deutsche wollten mit den deutschen Soldaten zusammengehen, wenn die in die Ukraine kommen."

    „Aber meinst, die haben uns drei Tage gelassen? Nach anderthalb Tagen kamen Kosaken auf Pferden und die hatten Nagaijkas und klatschten damit so gegen die Stiefel, na schnell, schnell, und der Vater konnte das Geld für seinen Hof nicht mehr abholen, die Eltern konnten nur das Wichtigste auf den Wagen laden, da war nicht viel Platz, da lagen schon viele Sachen von den Nachbarn, und wir alle Kinder kriegten noch was zu tragen aufgepackt. Das war erst leicht, aber später wollt ich’s am liebsten wegwerfen. Und so ging’s los: Gepäck auf dem Rücken und mit allen anderen Deutschen aus dem Dorf der Fuhre hinterher. Zu Fuß. Wohin, das wussten wir nicht."

    „Da sind wir viele Tage so gelaufen. Manchmal, da konnte man ja wo einen Pferdewagen mieten, da konnten wir ein Weilchen fahren, aber das mussten die Eltern selbst bezahlen und dann war es ja zu teuer. Da liefen wir."

    „Übernachtet haben wir da, wo wir gerade waren, das waren so provisorische Lager, keine Toiletten, kein richtiges Essen, keine Medizin, und dann das ungewohnte Wetter, vor allem, wo wir durch die Sümpfe mussten. Wenn wir wo in ein Dorf kamen, da jagten uns die Leute weg. Manche brachten uns auch was, aber in vielen Dörfern konnten wir nicht mal Wasser aus dem Brunnen schöpfen. Die hatten Angst, dass wir ihr Wasser verseuchen. Da wurden ja auch immer mehr Leute krank. Alle waren schwach vom vielen Laufen und wenig Essen. Da brachen Seuchen aus, Typhus, Diphtherie, Rote Ruhr, Malaria. Und meine Mutter war schwanger."

    „Als meine erste Schwester starb, da kamen so Leiterwagen und Männer packten erst die toten alten Leute auf und dann die Kinder. Der Vater ging mit, wollte sein Kind ja bis zum Grab begleiten. Nie wieder geht er mit, hat er gesagt, als er zurückkam, selbst wenn alle sterben. 'Da werden Fuder von Leuten auf einen Haufen geworfen'."

    „Dann starb das zweite Geschwister und dann wurde ich auch krank. Wenn die Träger kamen, um die Kranken irgendwo in die Isolierung wegzuholen, lief ich schon von Weitem und meine Eltern versteckten mich. Wer erst weg war, kam auch nicht wieder. Und wirklich, ich wurde wieder gesund."

    Von der Gewitternacht erzählte meine Mutter mir zum ersten Mal, als ich in der Pritsche hinter ihr an der Bretterwand der Baracke, unserem „Behelfsheim", lag und ihr, wie sie es liebte, den Rücken rieb. Ob meine beiden Geschwister im zweiten Bett zuhörten, weiß ich nicht mehr. Ich kannte kein anderes als ein Behelfsheim, ich lernte kein anderes als das Nachkriegs-Behelfsleben kennen. Ich war das Muttikind, hätte mich am liebsten in sie hineingebohrt, war, wann immer es ging, in ihrer Nähe.

    Die Gewitternacht. Wie von den Schlangen wollte ich davon immer wieder hören. Wiederholung, Wiederholung, möglichst wortwörtlich, ohne Variation. Wochenlang waren Leokadia und ihre Familie da schon unterwegs gewesen. Nachdem sie viele Tage zu Fuß marschiert waren, fuhren sie mit der Eisenbahn, kurze Strecken, lange Strecken, immer wieder unterbrochen von stundenlangem Warten auf die Weiterfahrt. Platzmangel, Hunger, Durst, ein Loch im Boden für die Notdurft. Viele Tote, die an den Bahnhöfen ausgeladen wurden. Mancher Waggon wurde irgendwo auf einem Abstellgleis vergessen. Später zog man die Toten heraus und karrte sie irgendwohin.

    Dann ging es zu Wasser weiter. Auf einem offenen, schwarzen Schiff, das sonst Holz trans-portierte, fuhren sie die Wolga hinunter. „Seitdem bin ich nicht fürs Wasser, sagte meine Mutter. „Wenn Leute gestorben sind, wurden sie einfach ins Wasser geworfen. Ich konnt’ nicht aufhören zu zittern, wenn sie da trieben.

    „Und dann machte das Schiff ja wo fest. Russen kamen ans Schiff, mit Ochsenkarren waren sie vorgefahren. Da stiegen wir auf, ein Kutscher sollte uns fahren, der wusste wohl, wohin."

    „Am Abend, da zog ein großes Gewitter auf, der Himmel war ganz schwarz. Da hielten wir an. Der Bauer schirrte die Ochsen aus und wir haben uns ein kleines Lager gebaut halb unter dem Karren, wir wollten das Gewitter abwarten. Da schlug auf einmal ein Blitz ganz nah neben dem Wagen in die Erde. Die Ochsen rannten wie verrückt ins Dunkle weg. Mein einer Bruder lag wie tot. Und der Regen schüttete auf uns runter. Der Vater und der russische Bauer liefen den Ochsen nach und wir andern krochen nah zusammen, nass und verfroren, wie wir waren. Und wir froren immer mehr. Aber die Männer kamen und kamen nicht zurück. O wie hatten wir da Angst. Und was hat wohl meine arme Mutter ausgehalten, der eine Sohn lag noch immer besinnungslos und die Kleinen haben geweint und gezittert. Die ganze Nacht haben wir auf dem Feld gelegen."

    „Der Vater und der Bauer kamen erst gegen Morgen zurück. Sie hatten die Ochsen in der Nacht schon bald eingefangen, aber im Dunkeln konnten sie unser Lager nicht wieder finden und mussten warten, bis es hell wurde. Aber jetzt war auch der besinnungslose Bruder wieder zu sich gekommen und wir konnten weiterfahren."

    „Dann kam endlich ein Dorf in Sicht. Der Russe und der Vater gingen zusammen in ein Haus, da wurden wir aufgenommen. Die Mutter trocknete alle Kleider, wir bekamen warmes Essen und wir durften da auch schlafen. Ich werd nie vergessen, wie gut die Russen waren."

    „Aber am nächsten Tag ging es wieder weiter. Wir waren noch nicht da, wo wir hinsollten."

    Wie die Orte hießen, durch die sie kamen und wohin sie denn eigentlich verschleppt wurden, war mir nicht wichtig. Aber meine älteren Brüder fragten immer wieder, wenn die Rede auf die Verschleppung kam, gerade danach. Ungeduldig, ungläubig, wie konnte man das Wichtigste nicht wissen? Wie konnte man auch mitten in den Wirren eines Landes herumreisen ohne zu wissen, dass es eine Revolution gegeben hatte. Aber die Zeit, wie unsere Mutter sie bestimmen konnte, hieß einfach Krieg und der Ort hieß Sibirien. Höchstens etwas genauer: Kirgisensteppe.

    Irgendwann kamen sie an. Wo? Heute möchte auch ich es gerne wissen, hätte die Orte sicher längst aufgesucht, so wie ich auch nach Polen gereist bin. Aber ich weiß nicht, wo in den Weiten der Kirgisensteppe sie war. Weiß nur, dass sie dort, wo sie ankamen, leben konnten. „Einigermaßen", so hatte Leokadia gesagt. Was ich mir darunter vorstellen soll, weiß ich nicht, ich habe nicht rechtzeitig nach mehr Einzelheiten gefragt. Ich weiß nur, weil auch das zu den fest gefügten Sätzen meiner Mutter gehörte, dass sie in guter Nachbarschaft zu den Russen und auch den Tartaren lebten. Der Vater fand gelegentlich Arbeit, so dass sie etwas zu essen hatten, und auch Leokadia machte sich nützlich, hütete Kinder und kroch im Winter mit ihnen auf die hoch gebauten Öfen der einheimischen russischen Familien. Da hatten sie es neben Großmutter und Großvater und den anderen Kindern warm und die Hühner gackerten unten im Zimmer. Sie bekam zu essen, es reichte fast immer, um satt zu sein.

    „Das ging eine Zeit gut. Da war sie wieder, die Stimme meiner Mutter. An ihrer dünnen Klanglosigkeit hörte ich schon, was bevorstand. „Gerade war die kleine Elsa geboren, das war das einzige Kind, das meine Mutter mit Namen aus der Geschwisterschar hervorhob, „da starb wieder ein Bruder. Und nicht lange danach merkte meine liebe Mutter, dass sie sterben wird. Sie hatte schon eine Zeit schwere Kopfschmerzen gehabt und wusste, was das bedeutete. Ihre Brüder waren auch an Kopfschmerzen gestorben. Da hat sie uns alle an ihr Bett gerufen. Die älteste Schwester und die beiden größeren Brüder, so sagte sie, die könnten sich ja schon selbst helfen und die kleine Elsa, die käme ihr ja bald nach. Und dann legte sie die Hand auf meinen Kopf und sagte: 'Aber wie wird es dir wohl gehen, mein liebes Kind?' Und sie hat mir ihre 'Wasserquelle' gegeben. Das war das Buch, aus dem sie jeden Morgen und Abend ein Gebet vorgelesen und dann ein Lied mit uns gesungen hat. 'Das behalt', hat sie gesagt, 'dann bin ich immer bei dir.' Und ich hab dieses Buch immer bei mir gehabt, nachdem sie gestorben war. Es war mein Trost. Auch wenn ich nicht lesen konnte, wir gingen ja in keine Schule, die Lieder konnte ich alle auswendig, ich hab immer in der 'Wasserquelle' geblättert und die Lieder gesungen, ich hab ja immer gerne gesungen."

    „Und wie meine Mutter gesagt hatte, so war’s auch. Die kleine Elsa starb bald nach ihr. Über ein Jahr lebten wir dann ja noch so weiter in der Kirgisensteppe. Und dann war der Krieg zu Ende, dann kam ja die Freiheit, wer da wollte, der konnte fahren nach seiner Heimat. Jeder musste selbst sehen, wie er das schaffte. Meine älteste Schwester hatte sich inzwischen verheiratet und so hat sich Vater mit uns wieder auf den Weg zurück gemacht, der Schwager kam auch mit."

    Rückwege sind nicht immer leichter als der Weg ins Unbekannte.

    „Das Geld reichte nicht weit, dann sind wir tagelang zu Fuß gelaufen, wieder musste jeder auch noch was tragen. Einmal sollte ich am Morgen aufstehen, aber ich konnte keinen Fuß vor den anderen setzen. So mussten alle wegen mir zurückbleiben. Da haben mich die Großen unter die Arme genommen und mich stundenlang rumgeführt, bis endlich wieder Leben in meine Beine kam."

    „So ging es immer weiter. Aber nach paar Wochen machten wir alle für eine ganze Zeit halt. Es war Erntezeit und so gingen der Vater und mein älterer Bruder, der war ja schon siebzehn, und die Schwester und der Schwager in die Ernte arbeiten, um Geld zu verdienen für die Weiterreise. Zum Schlafen kamen sie nicht zurück. Mein Bruder und ich mussten alleine bleiben. Es war ja Sommer und wir hatten einen Unterschlupf gefunden in einem offenen Bretterschuppen. Da lag bisschen Stroh auf der Erde und ein Laken und eine Zudecke hatten wir auch."

    „Was haben wir da beide ausgehalten. Es verging nicht ein Tag, wo wir nicht geweint haben, weil wir so Heimweh nach unserer lieben Mutter hatten. Und nun waren auch noch der Vater und alle anderen weg. Mein Bruder war ja älter als ich, er hatte ja lesen gelernt, dann hat er’s so gemacht, wie’s zu Hause gewesen war: Er hat jeden Abend und jeden Morgen aus der 'Wasserquelle' gelesen und dann haben wir zusammen gesungen."

    „Und am Sonntag kamen Vater und alle nach Hause. Er brachte Brot mit und auch Krapfen. Das war eine Freude, da waren wir nicht mehr allein und konnten uns wieder einmal satt essen."

    „Aber mein Bruder, der mit in der Ernte gearbeitet hatte, der sah so elend aus. Er wollt auch nicht essen und sagte so im Spaß: 'Montag bin ich krank, dann brauch ich nicht mit zur Arbeit.' Vater wollte nichts davon wissen. 'Ich werd dir helfen krank sein', sagte er. Am Morgen, als sie wieder zur Arbeit aufbrechen wollten, konnte der Bruder fast nicht aufstehen. Aber der Vater bestand darauf, mein Bruder musste mitgehen. Es dauerte aber nicht lange, da brachte Vater ihn wieder zurück, er konnte wirklich nicht. Vater ging allein wieder los."

    „Was wir da ausgehalten haben, das weiß nur Gott allein.

    Mein Bruder bekam hohes Fieber und große Schmerzen. Er musste auf der Erde im offenen Schuppen liegen. Das Laken, das über das Stroh gedeckt war, war sehr grob und er hat sich immer so darauf herumgewälzt. Er hat immer nach Singen und Lesen verlangt, dann war er ein Weilchen ruhig. Wir taten das auch zu jeder Zeit. Was anderes konnten wir ihm ja nicht tun. Nachts haben wir uns ja neben ihn ins Stroh gelegt, weil sonst kein Platz war."

    „Nach ein paar Tagen kamen die Pocken. Es war nicht eine Stelle auf seinem Körper, wo nicht eine Blase war. Zuletzt hat sich die ganze Haut zusammengezogen und er lag auf dem nackten Fleisch. Sehen konnte er auch nicht mehr. Und dann so ohne Hilfe. Aber er behielt seine Gedanken bis zuletzt. Er hat noch eine Stunde vor seinem Tode gebetet: 'Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel wer eingehn. Amen.' Vater war zum Glück gerade nach Hause gekommen, wir haben alle bei ihm gesessen und haben geweint. Aber der Bruder schlief ganz friedlich ein."

    „Mein anderer Bruder und ich bekamen auch die Schwarzen Pocken, aber nicht so schlimm, ich noch weniger als mein Bruder. Wir blieben beide am Leben."

    „Nun, damit war die Not noch nicht zu Ende. Nach ein paar Wochen ging die Reise weiter, aber dann brach die Typhuskrankheit aus. Einer nach dem anderen von meiner Familie wurde in eine Krankenstation irgendwo weggebracht, so dass ich allein blieb."

    „Vorrat zum Essen war nicht da. Ich musste jeden Tag sehen, wo ich etwas bekam. Wenn wo Leute gegessen haben, blieb ich stehen und schaute zu. Oft waren da welche, die Mitleid hatten und mir etwas von ihrem Essen abgaben, aber oft musste ich auch hören: 'Geh weg, was lauerst du hier, wir haben selbst nichts!'"

    „Ich weiß noch so wie heute, ich hatte großen Hunger und von niemand bekam ich was, da ging ich hinaus unter den freien Himmel und habe zu Gott gebetet: 'O Gott, erbarm dich meiner!', und dann ging ich bis zum Markt. Da kam ein Soldat auf mich zu und fragte mich so aus, wo mein Vater und meine Mutter sind. Ich sagte ihm dann mein Leid. Und da schenkte er mir drei Rubel. Da brauchte ich doch paar Tage nicht zu hungern."

    „Aber eines Morgens wollte ich wieder aufstehen, da fiel ich um, und als ich wieder zu mir kam, da lag ich in einem Krankenhaus und sogar dicht mit meinem Bruder zusammen. Das war eine Freude für uns."

    „Als wieder alle gesund waren, ging die Reise weiter bis nach Saratow. Das ist an der Wolga. Und da sind wir auseinander gekommen. Ich weiß wirklich nicht, wie es kam. Wir haben gesucht und gesucht, meine Schwester und mein Schwager sind auch die halbe Nacht noch unterwegs gewesen. Aber da waren so viele Leute in der Stadt, die sind ja herumgezogen so wie wir, und viele Soldaten waren auch dazwischen, aber wir haben meinen Bruder und Vater nicht gefunden."

    „Ich bin dann bei meiner Schwester geblieben, bis wir wieder in unserer Heimat waren. Aber bei dem ganzen Hin und Her in Saratow habe ich meine 'Wasserquelle' verloren, das Buch war doch von meiner Mutter, das wollte ich mein ganzes Leben lang behalten. O was habe ich da geweint, es war, als ob ich jeden Boden unter meinen Füßen verloren hatte. Ich kannte ja keine anderen Bücher, auch nicht die Bibel, und konnte auch in keinem anderen Buch lesen. Die 'Wasserquelle' kannte ich auswendig. Ich habe mich oft so verlassen gefühlt, dass ich mir den Tod gewünscht habe. Aber es geht nicht immer nach unserem Willen und Wünschen. Gott hatte noch etwas anderes mit mir vor, denn seine Wege sind nicht unsere Wege und seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken."

    Später, als verheiratete Frau, fand Leokadia mit Hilfe des Roten Kreuzes ihren Vater wieder. Nicht

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