Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Katzenpest
Die Katzenpest
Die Katzenpest
eBook325 Seiten4 Stunden

Die Katzenpest

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dem visionären bahnbrechenden Roman „Die Katzenpest“ der anerkannten slowenischen Schriftstellerin Maja Novak kommt im Rahmen der zeitgenössischen slowenischen Literatur ein besonderer Platz zu. Die Autorin eröffnet im vorliegenden Roman eine Themenvielfalt, die den Nationalismus wie den Post-Sozialismus, das Christentum ebenso wie die Häresie und das Heidentum, die Transition und den Kapitalismus einschließt und auch die Umweltproblematik, die Sozialpolitik und die Genderfrage berührt. "Nicht zuletzt geht es hier auch um einen der seltenen und geglückten Versuche des magischen Realismus in der slowenischen Literatur, der noch heute frisch, ausnehmend aktuell und in seiner gesellschafts-kritischen Dimension immer noch zweckerfüllend wirkt", schreibt im Nachwort die Literaturwissenschaftlerin und –kritikerin Tanja Petrič.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Aug. 2017
ISBN9789616547871
Die Katzenpest

Ähnlich wie Die Katzenpest

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Katzenpest

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Katzenpest - Maja Novak

    1/2013/LI/135

    Maja Novak

    Die Katzen

    Aus dem Slowenischen von Peter Scherber und Tadeja Lackner-Naberžnik

    Mit einem Nachwort von Tanja Petrič

    DRUŠTVO SLOVENSKIH PISATELJEV

    SLOVENE WRITERS’ ASSOCIATION

    LJUBLJANA, 2013

    Maja Novak: Die Katzenpest

    Originaltitel: Mačja kuga

    Copyright © Beletrina Academic Press, 2000

    http://www.zalozba.org

    Herausgegeben und verlegt vom Slowenischen

    Schriftstellerverband, Ljubljana

    Vertreten durch seinen Präsidenten, Veno Taufer

    Redaktion von Litteræ Slovenicæ 2013

    Tina Kozin, Tanja Petrič

    Redaktionelle Bearbeitung dieser Ausgabe

    Tanja Petrič

    Übersetzung

    Peter Scherber

    Nachwort

    Tanja Petrič

    Sprachliche Korrektur, Übersetzung

    Tadeja Lackner-Naberžnik

    Titelfoto

    Tihomir Pinter

    E-Book

    Ljubljana, 2014

    Litteræ Slovenicæ wurde aus den Mitteln

    der Slowenischen Buchagentur JAK finanziert.

    CIP - Kataložni zapis o publikaciji

    Narodna in univerzitetna knjižnica, Ljubljana

    821.163.6-311.2(0.034.2)

    821.163.6.09Novak M.(0.034.2)

    NOVAK, Maja, 1960-

    Die Katzenpest [Elektronski vir] / Maja Novak ; Übersetzung Peter Scherber, Tadeja Lackner-Naberžnik ; Nachwort Tanja Petrič. - El. knjiga. - Ljubljana : Slowenische Schriftstellerverband, 2014

    Prevod dela: Mačja kuga

    978-961-6547-87-1 (ePub)

    277303040

    Rabbi Sera (und nach manchen, Rab Josef) trug vor:

    »Du machst Finsternis dass es Nacht wird.«

    Damit ist diese Welt gemeint, die mit der Nacht verglichen ist.

    »Da regen sich alle wilden Tiere.«

    (Gemara)

    Se c’è Iddio, è communista.

    (Dario Fo)

    1

    Aus den Lautsprechern am Flughafen Istanbul ertönte laute libanesische Instrumentalmusik. Bei dieser dunklen, weinroten Musik, eine Musik ohne Saft und Süße, eine Musik der Nägel und Zöpfe, dachte die Frau daran, dass sie gerne tief hinein in den Orient reisen würde und an so eine Reise dachte sie mit den Worten: ich möchte nach Hause zurück. Nur dass sie noch nie weiter im Osten gewesen war als in Van. Ihr Zuhause, das bedeutete Ljubljana und Beklemmung erfasste sie bei dem Gedanken, wie erstickend es dort sein würde, wie sie dort den lieben langen Tag an den Gehwegen warten würde, und wie es ihr dabei ständig so vorkäme, als müsste sie mit den Armen an den Leib gedrückt unbeweglich in einem großen Blechfass voller kaltem schmutzigem Regenwassers stehen.

    Auf der Betonpiste hinter dem Rücken der Frau wurden Käfige in den Rumpf einer Boeing verladen.

    Vor ihrem Sitz stand ein kleines Mädchen und starrte sie an. Die Anwesenheit eines so verkümmerten und vernachlässigten Kindes im Warteraum erster Klasse konnte nur mit einem einzigen Grund erklärt werden: seine Eltern waren Engländer oder Amerikaner. Sein Zeigefinger steckte im Mund, voll beschmiert mit Speichel und Schokolade und so starrte es auf die Frau, dann zog es mit einem kleinen Schmatz den Finger aus dem Mund und wischte wohl überlegt ihre Hand am Knie der weißen Laura-Biagotti-Hose der Frau ab.

    »Soll ich dir ein Märchen erzählen?« fragte die Frau sie.

    Das Mädchen nickte stumm.

    »Also«, wandte sich die Frau ihr zu und nahm das Kind auf den Schoß. »Es lebte einmal ein Mädchen, das hatte Angst vor Aufzügen. Aber weil es oben in einem wunderschönen Hochhaus aus Glas und Würfeln wohnte, blieb ihm nichts Anderes übrig, als jeden Tag mit dem Lift in den Kindergarten und wieder nach Hause zu fahren, und das jeden Tag. Und da hatte es Angst.

    Doch musst du wissen, dass das Mädchen nie daran dachte, dass der Lift mit ihr darin reißen und in den Keller stürzen könnte; es fürchtete aber, der Lift hielte einfach in ihrem Stockwerk nicht an, sondern führe immer weiter hinauf, bis er zum Dach und zum Maschinenraum käme, wo es ihn dann zwischen die Zahnräder zöge und er zu Pulver zermahlen würde. Nur davor fürchtete sie sich. Und eines Tages blieb der Aufzug tatsächlich nicht stehen und kletterte höher und höher, obwohl das Mädchen in panischer Angst mit den Fäusten auf die Knöpfe trommelte, die sie, das muss ich sagen, bei ihrer wahrlich unbedeutenden Größe überhaupt erreichen konnte, bis der Aufzug, wie durch ein Wunder ohne Schaden durch das Dach geschwebt war und sich wie ein Aal durch die Zahnräder in dem Häuschen mit der Eisentür hindurch gewunden hatte und sich dann senkrecht wie eine schöne silberne Rakete höher und höher und noch höher hob, unter die Wolken und die Vögel, bis zum Mond, den Sternen und der Sonne ...

    ... die das Mädchen verbrannte, so dass es schwarz wurde wie ein Stück verbrannter Pommes frites und zerbröckelte, wenn es die Hand ausstreckte um sich die versengte Haut zu kratzen.

    Die Lehre aus der Geschichte ist aber«, rief sie eisig dem davonrennenden Kind hinterher, »dass man sich zwar, wie Borges behauptet, dem Unglück nicht entziehen kann, doch kommt dieses niemals in der gleichen Gestalt daher, wie man es ursprünglich vorausgesehen hatte.«

    Auf der Betonpiste hinter dem Rücken der Frau begannen sie aus dem Rumpf einer Boeing Käfige auszuladen, womit sich die Prophezeiung von Borges bewahrheitet hatte.

    Dies ist die Geschichte vom Ende der Welt. Um die Jahrtausendwende dezimierte eine bis dahin nicht bekannte Epidemie das Volk, wir wurden sozusagen von der Erdoberfläche ausgelöscht, so dass niemals mehr in unserer Sprache gesprochen und noch weniger über uns gesprochen wird. Vielleicht hatte die Frau schon geahnt, was sich da vorbereitete. Womöglich sah sie darin eine Strafe, schwer ist aber zu sagen, ob sie dachte, sie würde die Strafe verdienen oder lediglich daran beteiligt sein. Unter den Menschen ist es unmöglich irgendetwas mit Sicherheit zu erfahren. Dieser Text ist nur einer der möglichen Versuche, eine Erklärung für die Erzählung der Frau zu finden.

    Erster Teil: Ira, waagrecht

    2

    Sie war ein ungewöhnliches Kind. Niemals wurde sie von etwas gestochen und nie gebissen.

    Riesige persische Katzen trug sie wie eine Pelzstola über den Arm gehängt. Die Hinterpfoten baumelten schlaff auf der einen Seite, die vorderen und der Kopf auf der anderen Seite ihres Ellbogens herab, aber sie kratzten sie niemals. Es war, als verstünden sie, dass Ira noch jung war und man ihr alles verzeihen musste und die, wie sie selbst, nichts Anderes wollten, als fressen und schlafen.

    Mit zwölf erkrankte sie an einer geheimnisvollen Krankheit. Niemandem gelang es, sie aufzuwecken. In ihren langen, ununterbrochenen Träumen besuchte sie einen wunderlichen alten Mann, der Tischpanther züchtete. Dass diese nicht einfach nur schwarze Katzen mit gelben Augen und riesigen Schultern waren, merkte sie erst, als er ihr noch andere Miniaturtiere zeigte, Elefanten, Giraffen, Antilopen und Gnus, unter denen einige so klein waren, dass man sie in die Tasche stecken konnte. Bei ihm sah sie auch in Bücher gebundene lange Listen mit Namen und Karten von Gegenden, die ihr unbekannt waren. Die waren blassgrün, was auf eine geringe Meereshöhe hindeutete, vielleicht auch auf Sümpfe, und sie waren ausgefranst: breit abstehende Finger von flachem, niedrigem Festland ragten träge ins Meer und in Süßwasserseen, die sogar auf dem Papier mit Sand gesättigt und flach erschienen, sie zerrannen wie Eiweiß gleich hinter der Meeresküste. Menschliche Siedlungen waren da mit kleinstmöglichen Kreisen markiert, wonach sie schloss, dass es sich nur um Dörfer handeln konnte. Zumeist lagen sie im Hinterland, an Orten, die sich kaum empfahlen oder sich nicht von anderen unterschieden, und es gab nur wenige Straßen zwischen ihnen. Der Gedanke, dass auch in so kalt-grünen, feuchten, verlassenen und weit voneinander liegenden Gegenden rein aus Gewohnheit Menschen lebten mussten, machte sie traurig. Von da ab träumte sie manchmal, sie schliefe und träumte dann, sie bade in einem Meer ohne Strand: dunkles Gras ohne Blumen oder Ähren sprießte da, bis dicht an die Wellen heran und sogar weit darüber hinaus, bis unter die Wasseroberfläche; und doch war sie erstaunt, als sie feststellte, dass sie im Meer schwimmen konnte, obwohl es da keine anderen Schwimmer gab, keine Wasserbälle und keine Luftmatratzen und Sommerferien, keine Spiegelungen der goldgelben Sonne und keine schreienden Kinder – dass sie im Meer schwimmen konnte obwohl sich schon die Nacht herabsenkte oder aber es draußen Winter war, ohne dass sie im Wasser fror, wovor sie Mama und Oma doch immer gewarnt hatten.

    Nach mehreren Wochen stand sie vom Bett auf, denn es geschehen Irrtümer.

    Ihretwegen verdarb es sich Filip mit seiner Slowenischlehrerin.

    Sie sprach kaum etwas; und auch das verstand niemand. Niemand konnte ihren assoziativen Gedankensprüngen folgen. Dazu kam es, weil der Alte, von dem sie so viele Wochen geträumt hatte, den verständlichen Worten, mit alltäglichen, ungefährlichen und auf den ersten Blick gefälligen Stimmen seine eigenen Bedeutungen verliehen hatte. Er taufte sie schonungslos um, weil er so einsam war. Er sagte Katze, wenn er den Tischpanther meinte und genau so sprach Ira, als sie schon wieder gesundet war, von Katzen, als seien sie Tischpanther, denn über richtige Tischpanther konnte sie sich in der Welt der Wachenden mit so allgemeinen Wörtern wie »Katze« nicht unterhalten. Es gab sie ja nicht. Oder sie sagte Sol, wenn sie ausdrücken wollte, dass sie nicht friere. Oder Sol, wenn sie wünschte, dass Mama und Oma aufhören sollten, sie zu erziehen. Doch sprach sie nur selten: sie hielt es nicht für notwendig, ihr Tun zu erklären oder anzukündigen. Sie tat auch nicht viel. Man hielt sie für einen in sich gekehrten Teenager. Manchmal glaubte man sogar, sie sei ein wenig minderbemittelt. Trotzdem kam man in dem Dorf, wo Oma wohnte und wohin ihre Eltern sie sonntags oft schickten, immer dann zu ihr, wenn es galt, einen wütenden Hund oder ein erschrecktes Pferd zu besänftigen.

    In diesem Dorf war Iras Oma eine wichtige Persönlichkeit. Und dies schon lange vor Iras Geburt. Als sie im März 1935 die ersten Wehen verspürte, zog sie ihre festen Nagelschuhe an, und machte sich entschlossen auf den Weg, vorbei an den Häusern und weiter am Bach entlang bis zum Büro des Sägewerks. Auf dem Weg blieb sie einige Male stehen und atmete langsam und überlegt durch die Zähne. Vor dem Direktor des Sägewerks setzte sie sich vorsichtig auf den Stuhl nieder, bedeckte den Nordpol ihres riesigen Bauches mit den fächerig gespreizten Fingern ihrer Linken, und spreizte ihre Schenkel auf dem Biedermeierstuhl fast zu einem Spagat, und trommelte rhythmisch mit den Fingern der rechten Hand auf den Rand des direktorialen Schreibtischs, während sie wartete darauf, auf ihren vergleichsweise ruhig vorgetragenen Vorschlag, sie würde sofort wieder gehen, wenn man bereit wäre, ihren Mann wieder einzustellen, eine Antwort zu bekommen. Man hatte ihn nämlich während des letzten Streiks zusammen mit einigen kommunistischen Rädelsführern auf die Straße gesetzt. Die Sekretärin des Direktors hatte über ein mit Handkurbel betriebenes Telefon die Gendarmen gerufen, doch nicht einmal die wagten es, die Frau, die ganz offensichtlich vor der Niederkunft stand, mit Gewalt herauszuholen, während der vollkommen fassungslose Direktor natürlich auch kein Interesse daran hatte, das da ein Kind ausgerechnet in seinem Büro das Licht der Welt erblicken sollte. So haben die Parteikollegen Iras Großvater gegen Abend im Gasthaus die Neuigkeit überbracht, er habe am selben Tag eine gesunde Tochter und wieder seinen alten Arbeitsplatz beim Abmessen der Stämme bekommen. Später war Ira lange Zeit fest davon überzeugt, dass ihre Mama diejenige war, die Omas Gene geerbt hatte.

    Über sich selbst glaubte sie, sie sei niemand und es gäbe sie sozusagen überhaupt nicht, doch die Pferde und die Hunde rochen ihre verzweifelte Ruhe, als gliche Iras Schicksalsergebenheit einer körperlichen Präsenz, die sich mit selbstverständlicher Existenzberechtigung vor sie gestellt und sie damit gezähmt habe.

    Von dem Tag an, als Iras ganze Klasse laut die Hausaufgabe mit dem Titel Ein Einfall der Natur vorlesen musste und Filip Iras Unfähigkeit, sich zu artikulieren verteidigte, als ginge es dabei um eine besondere Eigenart der Sprache, und er der Lehrerin frech ins Gesicht schleuderte, dass Iras Schrift vielleicht sogar besser sei als die Seine, wenn sich nur jemand mal die Mühe machen würde, die Besonderheiten ihrer Schreibweise zu ergründen (dies aber verkündete er, obwohl er mit der unmöglichen Leidenschaft seiner dreizehn Jahre schon damals, mit dreizehn Jahren, in den Augen seiner Mitschüler als angesehener Schriftsteller gelten wollte; es schmerzte ihn, gerade in den Fragen des Schreibens in den Hintergrund zu treten, in die Rolle des Zweitplatzierten, wenngleich freiwillig), bis zu dem Moment, als fast fünfzehn Jahre später die Herrin sie in ihre Dienste nahm, gab es in Iras Leben nur drei bedeutende Dinge. Erstens fiel ihre Katze vom Balkon, einfach so, weil Katzen so etwas tun, wie es scheint. Ira hatte es nicht gesehen. Die Eltern haben es ihr erzählt. Sie hielten sich an der Hand und erzählten von der Katze. Ira kam es vor, als bezeugten ihre verschlungenen Hände eine Verschwörung, von ehelicher Partnerschaft, von der Welt der Erwachsenen, zu der ein Kind keinen Zutritt hatte. Das Repertoire ihrer Träume hatte sich danach noch vergrößert. Das von Filip auch. Wenn sie die Albträume plagten, beobachteten sie darin durchs Fenster die Kinder, die auf dem Hof von Iras Wohnblock einen Terrier in einen geflochtenen runden Weidenkorb gesteckt haben und einen Jungen, der den Korb wie mit einer Seilwinde langsam auf den Balkon hob, auf dem er stand. In der nächsten Einstellung blieben nur noch der Korb und das Hündchen, die beide neben Iras Fenster kopfüber nach unten stürzten. Das Mädchen, das in den Albträumen über Ira wohnte, hatte sich aus dem Fenster gelehnt und mit einem Messer das Seil durchgeschnitten, an dem der Korb hing. Auch das hatte Ira nicht gesehen, sie hatte es mehr oder weniger erraten. Ihr war klar, dass das Mädchen das alles aus Verbitterung tat, weil es in den Bergen verunglückt war; zugleich wusste sie, dass es immer eine Maske trug, weil sein Gesicht mit Vitriol verätzt worden war und dazu kam noch, dass sie selbst diejenige war, die ihm das Vitriol ins Gesicht geschüttet hatte, weil sie sich beide um den selben Jungen gestritten hatten. Als die Jugendliche begann, mit rituellen Bewegungen die Maske abzunehmen, schrie Ira absichtlich auf, denn sie wusste ja schon aus Erfahrung, dass sie von dem Schrei aufwachen musste, noch bevor sie das Allerschlimmste erblicken würde. Der Junge aus Iras Albträumen war Filip und auch er hatte dieselben Albträume. Genau genommen ist er bei dieser unvergesslichen Gelegenheit für sie eingetreten, weil er sich als der Lieblingsschüler der Lehrerin sehr überlegen und zugleich beengt fühlte, und er wollte seine Kräfte mit der Slawistin offen messen, wie mit seinesgleichen; auf diese Art und Weise versuchte er, erwachsen zu werden. Niemals vorher und auch nicht danach zeigte er offenes Interesse für Ira. Und doch waren sie beide lange die Einzigen ihres Alters, von denen sie wenigstens in ihren Albträumen zu träumen wagten.

    Iras nächste Katze wurde überfahren, davor noch haben sie ihre Eltern aufs Land weggegeben. Als Ira ihren vierzehnten Geburtstag feierte, gewannen sie nämlich in einer Tombola, zu der sie mit Ira gingen, weil sie glaubten, das würde sie aus ihrer Erstarrung wachrütteln, eine neue Couchgarnitur und Mama befürchtete, dass die Katze sich daran die Krallen wetzen würde. Kurz nachdem die Katze, die sie ihr weggenommen hatten, von einem Lastwagen platt gemacht wurde, ließen sich Iras Eltern scheiden. Ira, ihre Mama und ihre Schwester zogen in eine untervermietete Kleinwohnung um. Sie war zu eng für sie alle. Die Sitzgarnitur verblieb dem Vater.

    Iras Mama gefiel es im neuen Hochhaus, wenigstens behauptete sie dies: Aus den Fenstern der Wohnung bot sich ihr ein Blick aus der Vogelperspektive über mehrere Stadtviertel. Die Frauen wohnten im obersten Stockwerk. Über ihnen befand sich nur mehr eine mit Asphalt bedeckte Terrasse, begrenzt von Säulen aus Beton, und das kleine Maschinenhaus für den Aufzug. Zwischen den Säulen waren Wäscheseile gespannt und immer war das laute Knallen der daran befestigten nassen Betttücher im Wind zu hören; ständig brachen sie sich im Wind und es klatschte wie Ohrfeigen.

    Zu dem dritten Ereignis, das Iras Leben auf den Kopf stellte, kam es zufällig, und zwar zu der Zeit, als sie schon achtundzwanzig Jahre zählte. Nach der Schule tat sie nichts mehr. Während ihre Altersgenossen, die sich emsig um ihre Zukunft bemühten, und sich in der Erwartung ungeheurer Errungenschaften schon mit den unbedeutendsten zufrieden gaben, beinahe vor Angeberei platzten oder sich daran gewöhnt hatten, dauernd mit nicht mehr zu kittenden Enttäuschungen zu leben, vervollständigte sie Stück für Stück ihre Schlaftechnik und vertilgte alles bis auf den letzten Bissen, was man ihr auf den Teller legte, ob sie es nun gefunden oder geklaut hatte. So wurde sie dick, doch so wie bei gesundem Vieh war ihre Pummeligkeit anziehend und störte nicht. Manchmal beunruhigte sie auf obskure Weise der Mond. So klaute sie bei Vollmond irgendwo Geld und kaufte der Schwester zum Geburtstag sechs Aquarienfische. Koi-Karpfen. Einer von ihnen wurde sofort krank, er bekam Flecken, und als ihm die schwarzen Flecken den Mund verklebten, so dass er nicht mehr kauen konnte, da überbrühte ihn Iras Mama mit heißem Wasser und entsorgte den kleinen Kadaver im Klo: sie meinte dann, es sei eine Tat der Barmherzigkeit gewesen. Ira versenkte daraufhin dort einen kleinen, aus Veilchen gewundenen Kranz: so wurde es eine Seebestattung. Dann setzte sie sich aufs Klo und löste ein Kreuzworträtsel. Sie machte das gut. Diese für alltägliche Gespräche ganz unnützen Regeln, nach denen man sich im Kreuzworträtsel zu richten hatte, in diesen speziellen und in sich geschlossenen Welten voller unwahrscheinlicher Wörter (wie zum Beispiel Heimtücke oder Allesfürglaubenheimundreich), diese glichen sehr ihren eigenen Methoden sich in der Welt zu orientieren. Und erst unter siebzehn waagrecht wurde ihr klar, dass die Eltern ihr den Namen nach der römischen Göttin des Zorns gegeben hatten. Darüber geriet sie erst richtig in Zorn. Ihr schien, es wäre richtig gewesen, wenn sie ihr so etwas Schönes selbst gesagt hätten. Um sich zu beruhigen, schaute sie durch das Badezimmerfenster und sah, dass draußen die Sonne schien. Sie überlegte, dass es wahrscheinlich so sein musste, denn sonst würden sich die Leute nicht jedes Mal beim Regen so ereifern und (weil vom nahegelegenen Gelände des Rangierbahnhofs das kehlige Löwenbrummen der Diesellokomotiven widerhallte, die rauen Seufzer der an den Schienen sich reibenden Räder und das stumpfe Aufeinanderklacken der Puffer zu hören war, wenn die Eisenbahner die Waggons zu einer neuen Zugkomposition zusammenstellten) dass von den Tausenden, vielleicht Millionen Zügen, Schiffen, Autobussen und Flugzeugen, die sich Tag für Tag über die Erdkugel bewegten, nur wenige nicht an ihrem Ziel ankämen, und dass es relativ gesehen nur Wenigen passierte, unter dem Trümmerschutt eines Erdbebens verschüttet zu werden: und deshalb, sagte sie sich, wäre es ungerecht, dass in ihrem eigenen Leben bis jetzt nur immer die Tode als Wegmarken dienten. Sie schwor sich, dass in ihrer Gegenwart kein Goldfisch mehr zugrunde gehen würde. Aber schon am nächsten Tage wies der kleinste der übrig gebliebenen Kois Zeichen einer Krankheit auf, die Schleiern gleichenden Flossen und der Schwanz verklebten sich zu Strähnen, und auf seiner Brust zeigten sich Flecken, als hätte man Pfeffer darüber gestreut. Ira versetzte ihn aus dem Aquarium in ein anderes Gefäß, damit die Krankheit sich nicht ausbreiten konnte, dann brach sie mit dem Schweizermesser bei der Witwe ein, die in ihrem hohen Glasschrank in der Zimmerecke zwei aufrecht stehende Jagdgewehre aufbewahrte, eine Erinnerung an ihren Mann. Von dort schmuggelte sie die geladene Doppelflinte hin zur Porzellanterrine, in welcher der kranke Fisch schwamm. Sie setzte sich bequem in den rustikalen Schaukelstuhl, wickelte sich bis zur Taille in eine karierte Wolldecke, bedeckte ihre Schultern mit einem gehäkelten Plaid und legte die zum Schuss bereite Schrotflinte quer über ihre Knie, so dass Mama und die Schwester in ihrem Faible für Euthanasie dem Fisch nicht zu nahe kommen konnten. »Nur über meine Leiche«, sagte sie und das waren die ersten unzweideutigen Worte, die sie je aus ihrem Munde vernahmen. Ohne die Augen zu schließen oder aufzustehen, um aufs Klo zu gehen, schaukelte sie gemütlich und lauerte da mehrere Tage lang. Am schwersten war es, nicht einzuschlafen. Sie hatte das Gefühl, Glas anstatt des Meeres unter den Lidern zu haben. Weil sie die ganze Zeit nichts zu sich nahm, begann ihr Bauchspeck abzuschmelzen und so glich sie von Tag zu Tag mehr den anderen Leuten. Der Schock, den ihr Stoffwechsel dabei zu überwinden hatte, führte dazu, dass unterdessen ihre Haare erbleichten. Sie wurden sandfarben und ihre Haut duftete nach herbem Johannisbrot. Mama und die Schwester zögerten noch, ob sie die Polizei (das hieße einen Skandal zu provozieren), einen Psychiater (was öffentliche Schande bedeutet hätte), einen Arzt (was Kosten verursacht hätte) oder Niemanden rufen sollten (und das haben sie dann auch wirklich getan). Wie eine Kavallerieabteilung stürmte Iras Oma aus ihrem Dorf herbei, mit Lederkoffern, mit denen ein Flüchtling mehrere Jahre in der Verbannung ausgekommen wäre, und so wie es allgemein üblich ist, wenn es in Familien zu furchtbaren Verstrickungen kam, haben sich dann drei Generationen von Frauen mit überdurchschnittlicher Akribie und scheinbar emotionslos von morgens bis abends den Dingen des Haushalts gewidmet. Mitten im Mai wurde Obst eingemacht und die Decke der Dachkammer weiß gestrichen. Sie unterhielten sich mit einer gekünstelt heiteren Stimme. Nach einer Woche aber erschien in der Tür zu dem Zimmer, wo Ira über dem Fisch wachte, eine mannshohe, breitschultrige Frau in den Fünfzigern mit geröteten Maurerhänden, in eine Tweedjacke mit Lederflicken an den Ellenbogen gekleidet und in ausgelatschten Mokassins. Jedes Mal, wenn sie einen Schritt machte, platzten an diesen Schuhen unter dem Gewicht ihrer Füße eine oder mehrere Nähte. Sie atmete schwer auf Grund ihrer dem Klimakterium zuzuschreibenden fliegenden Hitze, die durch ihren massigen Körper flutete, und mit den Schultern kam sie kaum durch die Tür. Sie war gekommen um ihre Flinte zurückzufordern. Ira aber sah nicht danach aus, als sei sie geneigt, ihr diese zurückzugeben. Dann rückte die Riesin ihr hässliches Gesicht näher an den Koi heran, der mit seinem Maul mühevoll kleine Steine vom Boden der Terrine aufsammelte, damit ihm das Maul nicht zuwachse, und sie meinte verwundert: »Dieser Fisch wird am Leben bleiben.« »Glauben sie mir, in solchen Sachen kenne ich mich aus«, nickte sie über die Schulter hinweg Iras Mama, der Schwester und der Oma zu. Dann richtete sie nicht unfreundlich, aber ein wenig ungläubig ihren Blick auf Ira.

    Solche wie Ira hätte man früher in ihrer Jugend verbrannt, dachte sie.

    Trotzdem rief sie, überzeugt davon, dass ihre Augen sie nicht trogen: »Hexe.«

    Sie konnte nicht einsehen, dass Ira eine Göttin war, älter als sie.

    Einige Minuten hörte man nur den Koi, der da im Wasser herumruderte.

    »Wollen sie vielleicht für mich arbeiten?« ließ sich schließlich wieder die Hünin vernehmen. »Mit Tieren?«

    Angesichts ihrer Bassstimme ließen die frisch geschnittenen Rosen in der Vase ihre Blätter fallen. Sie verhielt sich so, als befände sie sich mit Ira allein im Zimmer. Und dann sprach die Herrin die damals noch vollends magischen Worte aus: »Ich gründe ein privates Unternehmen.«

    »Es wird Imperium heißen und wird ein mächtiges Reich werden.«

    »Häusliche Lieblinge«, pflegte die Herrin in der Regel zu sagen (das war nach dem Zehntagekrieg, als sie und Ira noch dabei waren, in einem verlassenen Gewächshaus in der Vorstadt die ersten Zwergkaninchen für den Verkauf vorzubereiten), »haben keinen Nutzwert, mal abgesehen von Katzen, die Mäuse fangen. Aber weil wir vorhaben, in Kürze auch mit Labormäusen zu handeln, gilt in diesem Ausnahmefall diese Aussage nicht: Katzen haben keinen Nutzwert. Sie haben aber ihren Preis. Wenn es uns gelingt, den Preis einer Sache, die keinen Wert hat, beständig in die Höhe zu treiben, halten wir den Allmächtigen an seinem Barte fest.« Die Herrin prahlte gerne damit, eine Zynikerin zu sein. Über sich selbst sprach sie häufig im Plural. »Das Geheimnis liegt in der Nachfrage, in der Marktnische«, unterwies sie ihre neue Angestellte,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1