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Was das Meer dir gibt
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eBook479 Seiten6 Stunden

Was das Meer dir gibt

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Über dieses E-Book

1942. Indonesien. Bandasee. Mitten im Pazifischen Krieg.

Alles hat Anne verloren. Das ganze Leben bis hierher. Denn durch das Loch im Kopf sind die Erinnerungen fortgeflogen. Nur, dass sie auf dem Meer umhergetrieben ist, weiß sie. Und dass sie an diese winzige Insel geworfen wurde, die sie nicht kennt. Mit Palmen. Schwarzem Sand. Und einer außergewöhnlichen Seebrücke.
Aber die Bewohner des Dorfes vertreiben sie. Das Letzte, was sie brauchen nach dem Tsunami, ist ein Meergeist, der sie heimsucht. Kein Mädchen überlebt das wütende Meer!
Hungrig verfolgt Anne, was auf der Seebrücke vor sich geht. Bestaunt die hellen Ausflugsdampfer und ihre Gäste. Sieht zu, wie die Händler ihre Vorräte verstauen. Stiehlt nachts davon, was sie braucht. Und ahnt, dass sie das alles längst gesehen hat.
Die Garküche, die so ganz anders ist, zieht sie magisch an. In ihrem Innern entdeckt sie ein altes Geheimnis. Der Besitzer ist der Einzige, der ihr hilft. Und als sie ein Tagebuch findet, in dem steht, wie der Baumeister der Seebrücke das Glück verlor, muss sie unbedingt an den Platz, wo alles geschehen ist.
Aber sie wird entdeckt und muss in den Urwald fliehen. Und auch wenn ein Jaguar ihr Gefährte sein will, und sie unter Wasser das uralte Geheimnis des Dschungels entdeckt: Sie bleibt ganz allein.
Als der allerletzte Dampfer Flüchtlinge an Bord hat, ändert sich alles. Die Bestie hat Pearl Harbor zerstört. Jetzt erobert sie die Bandasee. Insel für Insel. Und immer, wenn sie landet, hisst sie die Flagge mit der roten Sonne. Jeder, der dann noch lebt, muss entscheiden, welche Seite er wählt. Der Preis für ein Herz, das sich nicht versteckt, ist besonders hoch! Vor allem, wenn das Grauen erwacht. Wenn ein Handel nicht mehr gilt. Und es das Leben kostet, wenn man sich wehrt.

Bekommt Anne überhaupt die Chance, zu entdecken, wer sie wirklich ist? Darf Lin endlich zeigen, wen sie über alles liebt? Kann Tong seinem Herzen folgen? Denn viele sind auf der Suche nach dem Glück, als der Kampf der Bestien vorüber ist. Und jeder, der es fangen will, muss etwas dafür tun!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Sept. 2023
ISBN9783347962293
Was das Meer dir gibt
Autor

Andreas Krauße

Andreas Krauße, Jahrgang 1968, wuchs in einem Märchenland auf, das heute verschwunden ist. Seine feste Burg war umringt von sieben blauen Seen und nicht wenig flachem Land. Schon als Junge flog er hoch hinauf zu den Wolken. Wollte sehen, was dahinter ist. Später studierte er zwischen hellen Bergen über den Ursprung der Energie. Dort, wo ein König einst sein Gewicht in Gold aufwog. Da wollte er längst wissen, wie alles funktioniert. Zu jeder Zeit aber träumte er! Denn verwoben mit der Fantasie, glitzert die Welt so festlich, wie sie immer sein wollte! Heute lebt Andreas im Norden; er schreibt Geschichten, Novellen und Romane. Es sind seine Träume, in Worte gefasst. Lies sie – genau dafür hat er sie aufgeschrieben! Mehr unter Traumschriften.de

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    Buchvorschau

    Was das Meer dir gibt - Andreas Krauße

    1. Was das Meer dir nimmt

    »Jeder Mensch ist verdammt, bis in ihm die Menschlichkeit erwacht!«, William Blake

    In der Mitte von allem

    Kräftig bäumte sich die Brandungswelle auf, ehe sie sich lebhaft auf den Strand warf. Es schien, als sei sie wild entschlossen, jedes schwarze Sandkorn gründlich zu waschen. Jedes, das nicht fliehen konnte vor ihr.

    Doch die Welle hatte sich verausgabt. Wie immer. Und als sie sich gebrochen zurückzog vor dem nächsten Versuch, glänzte auch jedes Sandkorn, das sie erreicht hatte. Und niemand sah, dass es runder war als zuvor.

    Aber die Brandung nahm all das Glänzen wieder mit sich fort. Wie immer. Und niemals bisher hatte sie etwas Wertvolles dagelassen als Wiedergutmachung.

    Doch heute hatte sie ein Mädchen ausgespuckt. Sie im stumpfen Sand einfach zurückgelassen. Nackt. Zerkratzt. Halbtot. Und einen wuchtigen Baumstamm mit dazu. Fast so, als biete sie dem Ufer diesmal einen Tausch an. Für das herrliche Glänzen der Sandkörner, die sie unablässig wusch.

    Jedenfalls zog die Brandung sich weit zurück. Und lauerte in den Tälern des Meeres. Um aus sicherer Entfernung den Ausgang des Handels abzuwarten.

    Nur dort, wo sie sich zu neugierig zeigte, tanzte der helle Schaum auf den Kronen der türkisfarbenen Wellen. Mal hier. Mal da. Immer woanders. Mit allen Farben Bilder malend. Flüchtig und mit der Sonne.

    Und wie um die Spannung in diesem Spiel zu steigern, zuckten bald darauf die Glieder des Mädchens durch den nassen schwarzen Sand. Sie wirbelten ihn umher. Als wollten sie das Geschäft bestätigen. Und, dass das Mädchen genug lebe, um Teil der Geschichte zu werden. Das ist ihre Legende.

    Alles ist besser als das

    Sie schlich die Treppe zur Diele hinab. Auf Zehenspitzen. Mit flachem Atem. Ihr Herz, das dumme Ding, pochte viel zu laut! Das Mädchen schwitzte, so stickig war es im Haus. Der Sommer 1942 war verdammt heiß!

    Welche Stufe knarrte, wusste sie ja. Und dass das Geländer ächzte, wenn sie sich festhielt. Dort, wo Großmutters Bild hing. Auf dem die auf einem ziemlich alten Stuhl thronte, in einem viel zu noblen Kleid. Mit der ernsten Miene einer Königin. Und mit grünen Augen. Das alles war kein Problem.

    Bloß Vater durfte nicht herausfinden, was sie vorhatte. Dann blühte ihr was! Denn sie durfte nicht nach draußen. Um diese Zeit nicht. Trotzdem wagte sie es.

    Gerade weil er sie schlagen würde, falls er sie erwischte. Sie hatte ein Recht auf ihr eigenes Leben! Schließlich war sie schon siebzehn!

    Nur. Mit den steifen Lackschuhen war es verdammt schwierig, heimlich zu gehen. Jedes Mal kam die dicke Sohle gegen die Treppe, bevor der Fuß es tat! Es war wie verhext!

    Sie hatte einfach keine Übung darin, in Schuhen zu gehen. Sie trug sie ja nur, wenn Vater sie sah! Und die Füße taten jedes Mal verdammt weh, wenn es sein musste! Den ganzen Tag über, draußen, lief sie ja barfuß. Bloß gut, dass Vater das Haus selten verließ in letzter Zeit.

    Das Mädchen legte die Stirn in Falten. Nur eine Sekunde lang. Sie hätte üben sollen. Lernen, sich in den Schuhen zu bewegen. Aber jetzt war es zu spät dafür.

    Das Klopfen der Sohle auf der Treppe war jedenfalls zu laut. Genau wie der Herzschlag. Und immer wieder schob sich der steife Rock zwischen sie und ihren Blick auf die Stufen. Und wäre er ein Stück länger, sie würde auch noch drauf treten! Sie war heilfroh, dass sie bald draußen war! Gereizt blies das Mädchen eine feurig rote Haarlocke aus dem nassen Gesicht.

    Sie hasste nicht nur das harte Leder an den Füßen. Das war nicht alles! Da war noch die gestärkte Bluse. Die mit dem engen Kragen, der so kratzte. Und den langen, spitzenbesetzten Ärmeln. Wenn sie die anhatte, konnte sie kaum atmen in der Sommerhitze! Und der schwere dunkle Rock erst! Jedes Mal, wenn sie sich in ihm setzen wollte, musste sie zuerst die Falten ordnen! Er zerrte so schwer an ihrem Becken! Und trotzdem. Sie musste das alles tragen. Den ganzen Tag lang. Weil Vater es wollte. Erst zur Nacht konnte sie der Kleidung entfliehen.

    Sie ging deshalb sehr früh ins Bett. Und Vater glaubte wohl wirklich, sie sei ein gesittetes englisches Mädchen. Wenn er wüsste, dass sie dann nackt in ihrem Zimmer lag! Einfach atmete. An die Decke sah. Und sie selbst war, für ein paar Stunden.

    Das Mädchen zog an dem verhassten Rock. Alles war besser, als in solcher Kluft umherzulaufen!

    Das Einzige, was sie an ihrer Kleidung mochte, war das seidene Unterkleid. Weil es noch von Mutter stammte. Obwohl es abgewetzt war vom vielen Tragen. Und fettige Flecken hatte, die nicht mehr weggingen. Und sie es längst hätte ersetzen müssen.

    Es schmiegte sich wenigstens an ihre Haut! Es hielt das Kratzen ab, wo Bluse und Rock sie quälten. Etwas jedenfalls. Doch selbst das bisschen Seide war jetzt, in der Trockenzeit, zu viel.

    Deshalb versteckte sie sich gern am Strand. Hinter den Büschen mit den gelben Blüten. Am liebsten mittags. Wenn die Hitze die Einheimischen hinter die Hütten trieb. In den Schatten. Dann sah niemand, wie sie sich auszog. Und wie sie nackt über den schwarzen Sand rannte, bis sie außer Atem war. Und ihre Haut sich rötete. Alles war möglich, danach. Versteckt vor der Welt.

    Sie konnte dem Singen der Wellen lauschen. Bis ihr der Schweiß von der Haut tropfte. Oder Arme und Beine mit Sand bestreuen. Solange, bis die feinen Härchen an ihnen sich gierig aufrichteten. Und sie konnte von Tong träumen! Dem Sohn des Kutterkapitäns. Und mit ihm jedes Abenteuer bestehen. Hinter dem Horizont.

    Wenn dann noch ein Vogel schrie, damit sie wieder zu sich kam, sprang sie auf. Dann rannte sie in die Bandasee. Und wusch alle Träume wieder ab, ehe sie sich anzog. Kragen schließen, Zöpfe flechten, Schuhe binden.

    Aber heute Nacht war es endlich soweit! Sie würde sich ein Kleid kaufen, das besser zu ihr passte.

    Dunkelgrün sollte es sein. Aus feinem Stoff. Und mit gelben Blüten. Den gleichen, wie an den Büschen am Strand. Weil sie es waren, die sie vor den neugierigen Blicken schützten.

    Es würde knistern, wenn es ihren Bewegungen folgte. Rascheln, wenn sie darin unter der Tropensonne rannte. Und im Dunkeln würde es funken, wenn sie es überwarf und flink genug hinsah.

    Das Mädchen lächelte. Sie liebte das Kleid jetzt schon. Nur, wie sie es Vater beibringen sollte, wusste sie noch nicht.

    Sie dachte an Tong, den Sohn des Kutterkapitäns. Er hatte es für sie besorgt. Und noch ein Zweites, für ihre Freundin Lin. Sie waren bereits hier, die beiden Kleider! Auf der Insel! Tong hatte es ihr gesagt. Sobald der Kutter wieder an der Seebrücke anlegte, könnte sie sie holen kommen!

    Und jetzt lag er da, der Kutter. Gut vertäut. Und Tong wartete auf sie. Mit zwei Kleidern. Deshalb musste sie noch einmal los. Auch wenn sie nicht durfte um diese Zeit. Diesmal musste es sein. Das Mädchen lächelte wieder. Und diesmal zuckten auch die Augenbrauen etwas.

    Dafür, dass Tong die Kleider beschaffte, wollte er einen Tanz. Mit ihr. Und ohne zu zögern, hatte sie ›Ja!‹ gesagt. Hatte sie die Blumenkleider bei ihm bestellt. Für Lin würde sie alles tun!

    Sie hörte leises Knarren hinter sich.

    Ihr Bruder, George, stand in der halb geöffneten Tür seines Zimmers. So zerbrechlich, wie er wirkte mit seinen vier Jahren, sah es aus, als halte der Türgriff ihn an der Hand. Und nicht umgekehrt. Mit seinen blonden Haaren sah er aus wie ein Engel!

    Sie legte den Zeigefinger auf die gespitzten Lippen. Nickte ihm zu. Die stumme Frage, ob er das Gesehene für sich behalten wolle, hing für sie deutlich genug in der Luft.

    Doch sie sah das Glitzern in den Augen des Bruders. Verräterisch. Es folgte jeder Bewegung! Blitzschnell. Und die Mundwinkel zuckten. Verdammt!

    George wusste nicht, was er tun sollte. Er stand einfach unbeweglich in der Tür. Er hatte Angst. Immer hatte er Angst.

    Das Mädchen schlich zurück. Und kniete sich vor ihren Bruder. George umschlang mit den Armen ihren Hals. Sofort. Presste das Gesicht in ihre Bluse. Das Mädchen spürte den heißen Atem an der Schulter. Streichelte ihm den Kopf. Trug ihn zu seinem Bett. Und setzte ihn dort wieder ab.

    In Augenblicken wie diesen bedauerte sie ihren Bruder. Er hatte nicht das gleiche Glück wie sie. Das helle Lachen der Mutter durfte er niemals hören. Auch ihre Hände hatte er nie gespürt. Die zärtlichen Finger, die den Schmerz fortwischten, wenn er sich gestoßen hatte. Das alles hatte er nicht. Weil Mutter gestorben war, als er zur Welt kam.

    Das Einzige, was er von ihr gehört hatte, war ihr Todesschrei. Wenn er dazu schon in der Lage war. Damals. Wenn ja, war das Erste, was die Welt ihm gesagt hatte, dass jemand krepieren musste, damit er lebte.

    Das Mädchen küsste ihren Bruder auf die Stirn und fuhr ihm über die Wange. Dann verließ sie das Zimmer. Sie würde ihm niemals geben können, wonach er sich sehnte. Und sie wollte auch gar nicht seine Mutter sein! Nur. Für ihn musste sie hierbleiben. Er war es, wegen dem sie alles ertrug. Alles, was sie so sehr hasste. Dabei wollte sie es doch längst hinter sich lassen! Sie schluckte den Kloß hinab, der in der Kehle auftauchte.

    Wenn sie so dachte, fühlte sie sich erbärmlich. George konnte nichts dafür! Und ganz sicher spürte er ihre hässlichen Gedanken. Bestimmt war er deshalb so still. So versonnen. George war anders als sie.

    Stundenlang konnte er auf dem Boden des Zimmers sitzen. Mit dem Schatten eines Falters spielen, der vor dem Fenster tanzte.

    Während sie die Füße nicht stillhalten konnte. Und lieber von der Brücke ins Meer sprang. Jauchzte. Zusammen mit den Freunden.

    Das Mädchen hatte die Diele erreicht. Sie hielt an und lauschte. Denn es hatte gepoltert. Gedämpft zwar. Aber deutlich zu hören. Im Wohnzimmer.

    Vater war noch wach! Wenn man seinen Zustand so nennen mochte.

    Sie hörte plötzlich sein Schnaufen. Sah, wie die Schultern sich hoben und senkten. Er saß in seinem Sessel, dem Flur den Rücken zugewandt. Wie dem ganzen Leben auf der Insel, seit Mutter tot war. Er durfte nicht merken, wie sie davonschlich. Also gab sie sich alle Mühe, schnell und leise zu sein.

    »Wo willst du hin?«, knurrte er trotzdem, als ihre Finger die Klinke der Haustür berührten. »Du hast Hausarrest!«

    Sie stoppte sofort. Bekam einen heißen Kopf. Alles, was sie vorhatte heute Nacht, schoß ihr rot ins Gesicht! Sie wusste noch immer nicht, wie sie Vater den Kauf des Kleides beibringen sollte!

    Seine Stimme klang rau. Belegt. Als wäre sie ganz umhüllt vom Rum. Er schüttete ihn ja auch ausgiebig in sich hinein! Schon seit zwei Jahren!

    Eigentlich hatte es schon begonnen, ehe die Seebrücke fertig war. Genau an dem Tag, an dem Mutter starb. Aber die Arbeit hatte ihn wenigstens vom Schlimmsten abgehalten. Denn er wollte die Seebrücke fertigstellen, ihr zu Ehren. Das wollte er. Wirklich! Und er schaffte es auch!

    Aber seit die Dampfer anlegten und Gäste kamen, betrank er sich nur noch. Ab da war er nicht mehr er selbst. Denn er hatte nichts mehr zu tun.

    Das Mädchen schüttelte sich angewidert.

    »Ich brauche frische Luft!«, sagte sie so verächtlich, wie sie konnte. »Hier drin stinkt es!«

    Sie fixierte Vaters Gesicht.

    Eigentlich, gestand sie sich ein, sah sie nur den schwarzen Schatten seines Kopfes. Und das Glas in der Hand. Aber der Schatten drehte sich herüber zu ihr. Starrte sie an. Der glasige Blick funkelte so sehr in der Luft, dass das Mädchen den Blick senkte. Der Rest Rum in der Flasche auf dem Tisch glitzerte im Kaminlicht dazu. Noch immer stand sie reglos.

    »Dann mach das Fenster auf! Auf der Seebrücke hast du um diese Zeit nichts zu suchen!«, er warf es ihr über die Lehne des Sessels hin.

    Wie die Brocken vor einen Hund, den man eingesperrt hat.

    »Gehst du raus,«, er schnaufte plötzlich laut, »gibt es Ärger!«

    Er machte eine Bewegung. Eine, die sie ganz genau kannte. Auch wenn sie sie meist nicht sah. Von der sie nur das Singen in der Luft hörte. Und sie dann fühlte. Wenn der Arm herab sauste. Auf ihren Po. Wenn Vater sie mit dem Ledergürtel schlug!

    Sie wunderte sich, weshalb die Angst vor den Schmerzen ihr nicht die Kehle zuschnürte. Heute tat sie das nicht. Sogar Wut fühlte sie in sich aufsteigen. Auf einmal. Bis es aus ihr herausplatzte.

    »Mein Gott, wir schreiben 1942! Wach auf! Ist kein Mittelalter mehr!«, sie roch auf einmal deutlich den Alkohol, der die Luft verpestete. »Lass mich einfach in Ruhe!«

    Vater war betrunken. Mehr als sonst. Sie sah die leere Flasche unter dem Tisch. Die war also eben auf den Teppich gepoltert.

    Er hatte fast zwei Flaschen Rum ausgetrunken! Dabei war es noch nicht einmal Mitternacht! Zum Glück drehte er den Kopf wieder weg, als er ihren Blick auf den Teppich sah. Und starrte sie nicht mehr an.

    Das Mädchen ekelte sich vor Vater, wenn er in diesem Zustand war. Und genau das machte sie traurig.

    Er betrank sich ja, weil Mutter ihm fehlte! Und wenn die Flasche leer war, vermisste er sie noch viel mehr. Kurz nachdem er mit ihr für zwei, drei tiefe Atemzüge vereint war. Ein winziger Augenblick also, ehe der Schnaps sein Blut verbrannte.

    Die auf dem Tisch verstreuten Fotos bewiesen es. Die von ihr. Sicher hatte er sie wieder stundenlang betrachtet. Da lag auch das rote Tagebuch, in das er manchmal noch schrieb.

    Meist aber las er nur darin. Träumte. Und reiste in die Vergangenheit. Zu Mutter. Um zu vergessen, was nach ihrem Tod kam.

    Dabei wusste das Mädchen, dass er sich alle Mühe gab. Er versuchte ja, für sie zu sorgen! Und für George. Aber er schaffte es nicht.

    Was nutzte es, dass er sogar ein Vermögen aufbewahrte für sie beide! In einer unscheinbaren Kiste. Es nicht antastete. Selbst jetzt nicht, da es ihnen zum Leben fehlte. Auch nicht für den Schnaps.

    »Es ist für euch beide!«, hatte er ihr einmal gesagt. »Wenn ich nicht mehr bin!«

    Und sie glaubte ihm das.

    Aber sie sah, dass es ihm immer schwerer fiel mit dem Leben. Sie hatte gesehen, dass er weinte, wenn er sich allein wähnte. Auch Vater tat ihr leid.

    Nicht umsonst half das Mädchen in der Garküche von Satria, dem alten Koch, aus. Heimlich. Auf der Seebrücke. Der letzten vor dem Meer. Immer in Gefahr, dass Vater sie entdeckte. Doch nur, damit George etwas Ordentliches zu Essen bekam!

    Vielleicht konnte sie es ihm einmal sagen. Wenn Vater wieder Vater war. Dann würde sie ihm verraten, dass sie immer zuerst nach hinten schlich, wenn sie Satria helfen durfte. Dass sie Rock und Bluse an einen Haken hing. Damit nichts davon schmutzig wurde. Und im Unterkleid Teller abwusch und Gemüse schnitt. Das das Unterkleid deshalb so viele Flecken hatte. Weil sie doch nicht nackt in der Küche stehen konnte!

    Sie würde grinsen, wenn Vater die Luft wegblieb deswegen. Und sie hoffte, dass er es dann verstand. Und sie mit glitzernden Augen umarmte, weil sie doch seine Tochter war.

    Aber Vater war nicht er selbst. Noch nicht. Also musste sie das Geheimnis hüten. Bis es so weit war. Falls das geschah. Irgendwann.

    Das Mädchen stand noch einen Moment lang still im Flur. Aber es passierte nichts mehr. Die Zeit hielt den Atem an. Wenn sie sich nicht bewegte, würde alles stillstehen. Für immer. Sie musste es selbst tun. Sich rühren.

    Deshalb sog sie die miefige alkoholgetränkte Luft ein. Ein letztes Mal. So tief, dass ihr schwindelig wurde. Die war es schließlich, die ihr Zuhause tötete! Und sie wollte sich sicher sein, dass sie sie genug hasste.

    Als es sich in ihrem Kopf endlich drehte von all dem Rum, der in der Luft hing, ging sie. Ohne ein Wort. Mit trotzig festen Schritten. Bis zur Haustür. Und dann riss sie sie auf.

    »Bleib hier, verdammt!«, lallte es aus dem kippelnden Sessel.

    Vater hatte versucht, aufzustehen. Aber der Rum warf ihn wieder zurück. Alles blieb, wie es war. Wie zuvor. Wie immer seit zwei Jahren. Ein Sessel. Der Schatten seines Kopfes. Und ein Glas in der Hand. Nur, dass es jetzt leer war. Und der Teppich getränkt mit Rum.

    »Nein!«, rief sie eisig. »Es wird Zeit, dass ich erwachsen werde!«

    Sie spürte, wie ihre Seele flatterte.

    »Und das Elend hinter mir lasse!«, fügte sie verächtlich hinzu.

    Es klang so endgültig, was sie eben gesagt hatte! Es würde sehr wehtun, wenn sie wiederkam. Vater wusste ja, dass sie heimkehrte! Sie trat über die Schwelle.

    Kräftig zog sie die Haustür hinter sich zu, als sie draußen stand. Als würde das helfen.

    Sie fühlte sich plötzlich nackt. Und es war das erste Mal, dass es sie störte. Ihr war, als könnten die anderen jetzt schon die roten Striemen sehen, wo er sie treffen würde. Als wäre sie es, die sich schämen müsste. Aber sie sah niemanden. Zum Glück.

    Nirgendwo brannte Licht in den Hütten. Aber sie wusste ja, wo die Bewohner des Dorfes waren. Auf der Seebrücke! Sie genossen das neue Leben. Verdienten gutes Geld damit. An den Ausflugsgästen, die von den Dampfern kamen. Allen auf der Insel ging es gut. Bloß der Familie nicht, der sie das verdankten. Auf der lag ein Fluch.

    Der Mann, der die Seebrücke erbaut hatte, betrank sich aus Kummer. Der Bruder hatte vor allem Angst. Und sie hing zwischen zwei Welten fest. Der ihrer Eltern, bevor sie hierher kamen, und mit der sie sie angesteckt hatten, weil sie ihr davon erzählten. Und dem einfachen Leben. Hier.

    Das Mädchen schluckte. In diesem einen Augenblick glaubte sie fest, dass sie ganz allein war! Sogar eine Träne lief ihr über die Wange. Es wurde wirklich Zeit, etwas zu ändern. Heute Nacht würde sie nicht nur ein Kleid kaufen. Heute musste sie sich entscheiden, wer sie war.

    Sie musste den festgetretenen Pfad, der zum Strand führte, betreten. Jetzt! Und am Ende würde sie ihn verlassen müssen. Einen neuen Weg suchen. Für sich. Wenn sie das nicht tat, blieb alles, wie es war. Für immer!

    Unsicher setzte sie den Schuh auf den Weg. Sie tat das langsam. Mit Bedacht. Als wolle sie sich vergewissern, dass ihr Entschluss auch wirklich standhielt. Der Untergrund, auf dem sie sich bewegen wollte ab hier.

    Doch als sie mitten auf dem Weg stand, überkam sie der Drang, loszulaufen. Sie wurde immer schneller.

    Dass Vater ihr durch ein Fenster nachschaute, als sie sich einmal umwandte, hätte ihr eine Warnung sein sollen. Und, dass die Flasche Rum in seiner Hand jetzt gänzlich leer war. Aber sie beachtete es nicht. Das Leben war zu gierig in diesem Augenblick.

    Sie drehte sich einfach weg und lief los. Sie rannte. So schnell sie konnte in den unbequemen Kleidern und mit den quälenden Schuhen.

    Nur ein Tanz!

    Atemlos kam sie an der Seebrücke an. Die Bluse klebte längst an der verschwitzten Haut. Ihr Herz klopfte unruhig und heftig. Sie war aufgeregt.

    Weil sie einmal, beinahe, im Zwielicht gefallen wäre. Ihr war, als hätte sich plötzlich ein schwarzes Loch aufgetan. Mitten auf dem Weg. Direkt vor ihr. Und im nächsten Augenblick war es wieder fort. Da war nur der Weg, den sie schon so oft entlang gelaufen war, dass sie gar nicht fehltreten konnte.

    Verstört war sie einen Moment stehengeblieben. Als hätte sie den Teufel gesehen, und wäre zu Stein erstarrt. Aber da war nichts. Nicht einmal ein Loch. Und sie war froh am Ende, dass niemand sie so gesehen hatte. So unsicher. Verängstigt.

    Aber jetzt war sie am Ziel. Der alte Kutter lag an seinem Liegeplatz. Wie immer, wenn er an der Seebrücke vertäut lag.

    An Deck war niemand zu sehen. Trotzdem. Tong würde sicher bald auftauchen. Er hatte versprochen, dass er da sei. Das Mädchen kletterte über die Reling. Sie würde einfach warten.

    Sie hatte das kaum überlegt, da tauchte Tong wie aus dem Nichts auf, und half ihr an Bord. Von der Strickleiter herab. Auf die rauen Planken des Decks. Und er wartete geduldig, bis sie sich umgesehen hatte. Sagte kein Wort.

    Noch nie zuvor war sie bei ihm zu Gast gewesen. Sie drehte sich tatsächlich zweimal im Kreis um ihn, um alles in Augenschein zu nehmen. Nein. Eher, um das Pochen in ihrer Brust zu zähmen, gestand sie sich ein. Aber es gelang ihr nicht. Alles auf dem Kutter roch zu sehr nach den Abenteuern, die sie sich am Strand zurecht geträumt hatte. Und das, was gerade passiert war, zu Hause, wühlte ebenfalls in ihr.

    Am Ende blieb sie vor ihm stehen. Wusste nicht recht, wohin mit ihrem Blick. Deshalb senkte sie den Kopf. Starrte auf die Planken. Und sah zu, wie an Tongs nackten Beinen das Wasser hinab lief. Wie es einen schimmernden Fleck bildete auf Deck. Sie wunderte sich.

    Er war schwimmen gewesen! Das war ihr nicht einmal aufgefallen, als sie ankam! Sie hatte nichts gehört davon. Und nicht einmal mitbekommen, wie er an Deck gelangt war! Was für ein Glück sie hatte, dass er überhaupt da war! Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Bis sie seine Berührung im Haar fühlte. Da sah sie ihm offen in die Augen.

    »Nur ein Tanz!«, flüsterte sie.

    Er nickte ihr zu, während er ein Stück Gras aus ihrem Haar holte und es über Bord warf. Dann nahm er ihre Hand. Führte sie in die Mitte des Decks.

    Dort gab es einen Platz, etwas erhöht. Gerade so im Licht der Seebrücke. Und doch gleich hinter dem Mast versteckt. Da setzten sie sich. Dicht bei einander.

    Der Tee, den Tong für sie gekocht hatte, roch schwer und süß. Und er war längst kalt geworden, als sie wieder aufstanden. Das Mädchen wusste auf einmal gar nicht mehr, was sie ihm alles erzählt hatte. Sie musste ganz schön geplappert haben. Denn Tong legte ihr auf einmal den Finger an die Lippen.

    »Ein Tanz!«, sagte er.

    Und zog sie hinab in den dunklen Bauch des Kutters. Da fegte »Moonlight Cocktail« von Glen Miller über die Seebrücke.

    Dort unten zeigte er ihr, wie gut sich ein enger Laderaum zum Tanzen eignete. Dass die Welt sie hier nicht sah. Dass sie sein durfte, wie sie wollte. Dass sie sich überall festhalten konnte, wenn ihr schwindlig wurde. Und sie sich bei niemandem dafür entschuldigen musste. Auch bei ihm nicht. Irgendwann begriff sie es. Und es war wunderschön!

    Tong führte. Nicht mehr. Aber sie kamen sich sehr nahe, Tong und sie. Sie in der Bluse und dem schweren Rock. Er in kurzen Hosen und weißem Hemd. Sie spürte, wie ihre Nasenflügel sich weiteten, um seinen Geruch einzusaugen. Muskat. Und das weite Meer.

    Die Musik wummerte durch ihren Bauch, während sie sich drehte. Immer stärker. Und sie ließ sich ganz darauf ein. Die Schuhe hatte sie da längst abgestreift.

    Und dann, plötzlich, füllte die Stille den Laderaum mit sich. Dooley Wilson hatte aufgehört, »As Time Goes Bye« zu singen. Und sie hörte nur ihren Atem. Und ihr Herz.

    Auch wenn sie sich nicht mehr in Tongs Armen drehte. Dem Mädchen war, als bewege sich alles um sie herum. Als sei sie der Mittelpunkt des Universums. Zumindest von Tongs Welt. Das wünschte sie sich. Wirklich! In diesem Moment war sie völlig außer Atem.

    Sie sah ihn an, als sie wieder sicher stand. Lehnte sich trotzdem an den dicken Balken hinter ihr. Schaute ihm in die Augen. Endlos lange, wie ihr schien. Dann schob sie ihn fort, ganz sanft. Bis wieder Luft an ihre Brust kam.

    »Nur ein Tanz!«, flüsterte sie.

    Und wieder nickte Tong. Danach zeigte er ihr das Kleid. Das, für das sie sich gedreht hatte mit ihm.

    Reglos beobachtete er sie. Wie sie es auf einer Kiste ausbreitete. Als sei es ein Schatz. Sah zu, wie sie es vor sich hielt. Betrachtete sie. Während sie ihn stumm fragte, ob es passe.

    »Probiere es!«, sagte er einfach. »Ich warte oben auf dich.«

    Mehr sagte er nicht. Er stellte nur einen Eimer mit klarem Wasser bereit. Und legte ein Tuch auf den Rand. Und ein Stück Seife. Danach stieg er hinauf.

    Das Mädchen jauchzte glücklich. Sie wusste nun, dass Tong es ehrlich mit ihr meinte. Trotzdem.

    Zunächst stand sie verwirrt im Laderaum. Verloren in dem ganzen Glück. Als gehöre sie nicht hierher. Als wäre es nicht für sie. Aber dann entschloss sie sich. Sie dachte an ihren ersten Schritt auf den Pfad zum Strand, vorhin.

    Sie zog sich aus. Tunkte das Tuch ins Wasser. Und rieb sich gründlich den Schweiß von der Haut. Wie herrlich die Seife duftete! Nach Neem und Kokosnuss. Der Duft gefiel ihr sehr!

    Erst nach einer Weile streifte sie das knisternde Kleid über. Und schloss die drei großen Knöpfe an der Taille. Es fühlte sich gut an, das Pfand für ihren Tanz! Ob es Tong gefallen würde?

    Aufgeregt stieg sie die Stiege hinauf. Die Stufen waren steil. Und glatt. Sie musste die Knie weit anheben. Aber das Kleid streichelte die Haut, als wäre es ein Freund. Alles stimmte in diesem Moment. Sie schob die Sorge fort, dass der Abend schlimm enden könnte!

    Das Mädchen betrat das Deck. Frische Luft! Sie wusste nicht, wie stickig es im Bauch des Kutters gewesen war! Tief atmete sie durch. Dann ging sie zu Tong.

    Der saß im Schneidersitz. Auf einem Kissen. Und sah auf das Meer hinaus. Drehte sich erst zu ihr um, als sie ihn berührte.

    Sein Mienenspiel würde das Mädchen niemals vergessen. Glaubte es. Er schnappte nach Luft. Einmal. Zweimal. So, als wolle er ihr etwas sagen. Doch er sah sie nur verwundert an.

    Und sie? Sie machte etwas Unvorstellbares.

    Sie drehte sich vor ihm im Kreis. Tanzte. Nur für ihn! Damit er sie betrachten konnte, von allen Seiten. Schließlich war sie der Preis für dieses Kleid! Und es machte ihr gar nichts aus! Selbst die Musik spielte wieder, oben auf der Seebrücke! »Green Eyes« von Jimmy Dorsey.

    Mit jeder neuen Runde flog sein Gesicht an ihr vorüber. Ganz dicht. Oft. Als gäbe es viele Tongs auf einmal. Und alle waren sie sprachlos. Das Mädchen drehte sich immer schneller.

    Als sein Gesicht wieder einmal an ihr vorbeiflog, überwand Tong sein Staunen. Endlich.

    »Du bist wunderschön!«, hörte das Mädchen, und stoppte auf der Stelle.

    Noch viel dichter trat sie an Tong heran. Sehr viel enger als beim Tanzen. Ein wenig schwindelig war ihr, so nahe.

    »Warum verlangst du dann nicht mehr für das Kleid?«, sie leckte sich über die Lippen und schloss die Augen. »Ich habe kein Geld!«

    Sie wunderte sich über ihre raue Stimme.

    »Ich habe nur mich!«, sie hoffte, dass er ihre jähe Gier stillen würde.

    Sie spürte bereits den heißen Atem vor ihrem Mund. Der sich mit ihrem mischte. Seine Lippen waren ganz nah! Gleich musste er sie berühren!

    »Hallo, ihr Beiden! Was macht ihr da?!«, Lins Stimme zerriss die Magie.

    Und für einen Moment lang hasste das Mädchen die Freundin, die oben auf der Seebrücke stand. Und zu ihnen herunter sah. Aber nur kurz.

    Prustend lachten sie sich an, nachdem Lin an Deck gesprungen kam. Tong, Lin und sie. Was für eine Clique! Wie konnte sie nur denken, vorhin, dass sie allein wäre?!

    »Wo hast du das schicke Kleid her?«, fragte Lin das Mädchen. »So eines hätte ich auch gern einmal!«

    Die Freundin lachte dabei. Arglos.

    Das Mädchen wusste, dass Lin sich so etwas nicht leisten konnte. Sie kannte sie nicht anders als in einem Stück Baumwolle, um das sie einen Baststrick knotete. Um es zusammenzuhalten. Ausgeblichen.

    Es mochte sein, dass sie den Stoff in den Jahren durch ein neues Stück ersetzte. Und sie sich einen frischen Strick flocht, weil der alte nicht mehr taugte. Aber mehr nicht.

    »Mehr brauche ich doch nicht!«, sagte sie immer.

    Nur das Mädchen wusste, dass Lin sich manchmal schämte. Weil sie so arm war. Aber sie konnte sich ehrlich freuen für andere. So nahm sie sich ihren bescheidenen Anteil vom Glück der Welt. Mehr gab es nicht für sie, glaubte sie. Dabei war sie der herzlichste Mensch, den das Mädchen kannte. Sie hatte viel mehr verdient!

    Das war der richtige Moment! Das Mädchen nickte Tong zu.

    Und der griff hinter sich. Reichte ihr ein kleines Bündel.

    Und das Mädchen legte es in Lins Hände. Im gleichen Augenblick, in dem sie ihr einen Kuss auf den Mund drückte.

    »Da hast du!«, sie lachte Lin an, die ganz überrumpelt dastand.

    Es glitzerte in den Augen der Freundin. Auf einmal tat es das. Obwohl keine einzige Laterne auf der Seebrücke frisch entzündet worden war. Und die Sterne genauso ruhelos blinkten wie zuvor. Es war einfach pures Glück, das in ihnen funkelte.

    »Oh!«, Lin plapperte einfach drauflos. »Weshalb willst du es mir schenken? Es ist bestimmt sehr teuer! Das kann ich nicht nehmen! Ist zu gut für mich!«

    Lin umarmte das Mädchen. Drückte sie ganz fest. Küsste ihren Hals. Sie wollte das Kleid zurückgeben. Hielt es dem Mädchen hin.

    Die nahm sie deshalb an den Händen. Hielt sie fest. Und sah ihr in die Augen.

    »Sei meine beste Freundin. Egal, was passiert!«, sie schob das Kleid erneut zu Lin hinüber.

    Und die nahm das Geschenk diesmal an. Die gelben Blüten hatten ihren Blick endlich eingefangen. Es glitzerte noch viel mehr in ihren Augen. Mehr als vorhin.

    »Trage es. Es ist längst bezahlt!«, das Mädchen sah Tong an.

    Verstohlen. Sie hätte für diesen Moment durchaus einen viel höheren Preis bezahlt! Ihr Blick flog hoch empor. Bis hinauf zu den blinkenden Sternen. Und wieder hinab in Lins Gesicht. Damit Lins Augen funkelten. Und ihre.

    »Ach herrje, was musstest du dafür weggeben?«, Lin schluchzte. »Hat Tong es besorgt?«

    Das Mädchen nickte Lin zu. Und sah Tong in die Augen.

    ›Danke!‹, sagte ihr Blick.

    Sie wusste, dass er verstand.

    Dann half sie Lin, das alte Stück Stoff gegen das herrlich bunte Kleid zu tauschen. Gleich hier an Deck. Wozu in den stickigen Laderaum klettern? Heute Nacht war es dunkel genug!

    Gemeinsam schnürten sie den Bambusstrick auf. Und kaum lag er auf dem Deck, beugte Lin sich nach vorn. Als mache sie Uttanasana. Sie zog sich den Stoff von den Schultern. Als häute sie sich. Und der Stoff rutschte immer weiter hinab. Das Mädchen sah erstaunt zu.

    Lin verwandelte sich. Direkt vor ihren Augen! Unter dem Mond!

    Etwas Neues kam zum Vorschein. Mit jedem Stück, das der alte Stoff freigab von ihr. Etwas, das sich noch nie gezeigt hatte. Geduldig gewartet hatte. Bis jetzt. Alles drehte sich vor den Augen des Mädchens. Auf einmal. Sie musste sich festhalten. Sonst wäre sie womöglich gefallen.

    Lin stand vor ihr im Mondlicht. Aufrecht. Voller Erwartung. Und nackt.

    Und obwohl das Mädchen Lin von jeher kannte. Heute Nacht nahm sie zum ersten Mal wahr, dass die Freundin längst eine Frau geworden war. Wunderschön. Sanft. Und mit einem betörenden Duft, der dem Mädchen die Luft nahm.

    Mit einem Ruck riss sie sich von diesen Gedanken los. Nahm das Kleid in die Hände. Entfaltete es feierlich. Und hob es empor.

    Und Lin ging in die Hocke und schlüpfte von unten hinein. In ihre neue Haut. Sie grinste vor Freude, als ihr Kopf wieder zum Vorschein kam. Und sie küsste das Mädchen auf den Mund. Innig und heiß.

    Das Mädchen vermochte sich nicht zu regen. In diesem Moment musste sie sich an Lin festhalten. Also tat sie das.

    »Danke!«, sagte Lin glücklich und löste sich von ihr. »Komm!«

    Sie nahm das Mädchen an der Hand. Führte sie übers Deck.

    Tong stand schweigend da, als die Mädchen sich vor ihm aufstellten. Eine neben der anderen. Damit er jede von ihnen bestaunen konnte. Und sein Blick flog hin und her zwischen ihnen beiden. Als könne er sich nicht entscheiden.

    Es schien dem Mädchen, als genieße er dieses Geschäft. Ein wenig lächelte er. Nur ein wenig. So, als wäre er mit achtzehn bereits erfahren genug, um zu wissen, dass sie nicht das letzte Mal bei ihm gekauft hatte. Als wären sie bereits alte Freunde. Oder mehr. Er nickte jedenfalls zufrieden.

    Oh je! Was sie alles hineinlegte in seinen Blick! Vielleicht sah er sie beide einfach nur an. Kundinnen, die bei ihm gekauft hatten. Sie fühlte sich noch immer benommen wegen Lin. Aber es kam ihr vor, als sehe er nur sie und ihre feuerroten Haare. Und es kribbelte in ihrem Bauch.

    Wie auch immer. Sie konnte nicht anders. Sie musste Lin ansehen!

    Die gelben Blüten auf dem grünen Stoff passten gut zu ihr! Das Mädchen stellte sich vor, wie Lin sich in der heißen Sommersonne mit ihnen bewegte. Wie sie alles bewegte. So wie eben. Die ganze Welt.

    Das Kleid passte. Wie angegossen. Tong hatte einen sicheren Blick, was die Kleidergröße anging! Das Mädchen hatte immer gedacht, dass er bloß mit Proviant handelte. Auch Tong hatte viel mehr zu bieten, als sie bisher wusste!

    Trotzdem. Sie fühlte sich traurig. Auf einmal. Es war, als fülle Schwermut sie ganz aus. Sie spürte, dass sie still sein wollte. Gerade jetzt! Dass ihre Seele einen Preis bezahlte, der sie teuer zu stehen kommen konnte. Sie hatte sich verliebt.

    Das musste es sein! Jetzt wusste sie es. Ihre Kindheit war zu Ende! Das trieb ihr die Tränen in die Augen. Denn ein Teil von ihr wollte, dass alles so blieb wie vorher. Ihre Seele stand weit offen.

    Lauf weg! Lauf!

    »Du Hure! Zieh dich sofort wieder um!«, plötzlich stand Vater an der Reling. »Gib das zurück!«

    Er brüllte regelrecht. Zeigte mit dem Finger auf sie. Und auf das Kleid. Achtete nicht auf die Zuschauer, die sich um ihn sammelten.

    »Und dann kommst du mit!«, er fuchtelte mit dem Arm, direkt über ihnen.

    Das Mädchen erschrak.

    Vater taumelte! Mit der Flasche Rum in der Hand. Hielt sich unbeholfen daran fest. Irgendwie verkrampft. Als wolle er fort von ihr, und konnte es nicht. Und immer wieder zwischendurch schlug er sie gegen die Reling. Als wolle er

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