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Unter offenem Himmel: Roman
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eBook282 Seiten4 Stunden

Unter offenem Himmel: Roman

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Über dieses E-Book

Klara ist Buchhändlerin. Sie ist unverheiratet (das hat sie sich schon als Kind so geschworen), aber sie ist nicht ohne Männer geblieben. Einen gibt es, Paul, von dem kommt sie nicht los, obwohl er nur noch eine ferne Erinnerung aus der Vergangenheit ist. Um zu verstehen, was sie mit ihm verbindet, fährt sie in den hohen Norden Deutschlands, in den Winkel, aus dem er gekommen ist, bevor er für immer verschwand.Vom Verschwinden handelt auch die Geschichte von Elise mehr als hundert Jahre davor. Nach dem Tod ihrer Mutter verlässt sie das Dorf, den Vater, die vielen Geschwister, das eigene uneheliche Kind. Für eine bessere Zukunft will sie sich in Zürich prostituieren und findet dabei einen Mann, mit dem sie eine Familie gründet, deren Geschichte mit Klara bis in die Gegenwart reicht."Unter offenem Himmel" ist ein Roman über das Suchen und Finden und das Geheimnis, dass über die Zufälle und Wechselfälle des Lebens hinweg immer alles aufgehoben scheint wie in einem Buch ohne Anfang und Ende.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Feb. 2020
ISBN9783990271742
Unter offenem Himmel: Roman
Autor

Katharina Geiser

Geboren 1956, studierte Germanistik, Englisch und Pädagogik. Sie lebt am Zürichsee und zwischen Eider und Treene in Schleswig-Holstein.

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    Buchvorschau

    Unter offenem Himmel - Katharina Geiser

    1

    KLARA UND DER ANFANG

    Mit den kleinen Dingen fing es an, die nach und nach vor Klaras Augen verschwanden.

    Es fing mit der Schwalbe an. Lautlos stürzte sie auf die Landstraße, an einem Tag, an dem der Wind blendend weiße Wolken über den Himmel fegte und in den Birken und Weiden wühlte, sich kräftig aufs Reet legte und mit rauer Zunge über die Wassergräben leckte. Er stäubte die Erde auf, die ausgetrocknete, sandige Erde abgemähter Kornfelder, und er saß Klara mal im Rücken, mal ungehörig an der Brust, während sie zum Fluss radelte. Und als wäre dies alles nicht schon genug, unterstrich er sein vielseitiges Können damit, dass er sich das Schutzblech des uralten Fahrrades zunutze machte, um es mit einem einzigen Ton zu bespielen. So war die Luft voller Sirren und Rauschen, war ein Wetteifern von mindestens zwei Geräuschen.

    Mit der Wäscheleine fing es an.

    Mit einem Schuss.

    Mit dem frisch bezogenen Bett an einem stillgelegten Gleis.

    Mit der Hausiererin, die an einem ausnehmend heißen Sommertag am Garten stehen blieb, einen Gruß rief und in einer Weise mit ihrem Arm winkte, als würde sie gleich in See stechen, worauf Klara den Spaten in die Erde rammte, aus dem Schatten von Hasel und Weißdorn trat und zwischen aufgeblühten Sonnenbräuten auf die Frau zuging. Einmal im Jahr komme sie hier vorüber, sagte die Alte, sie sammle Geld für hungrige Zirkustiere und verkaufe deshalb Gummibänder. Mit ihrer ebenso kümmerlichen wie lächerlichen Kopfbedeckung, ihrem wadenlangen Rock und den derben Schuhen stand sie nun sehr breitbeinig da. Ein Schneidezahn fehlte ihr. Sie vermied es, Klara über den von Schlafmohnkapseln gesäumten Staketenzaun hinweg anzuschauen, und Klara schwieg, da sie nichts zu sagen wusste. Die Frau zog die Henkel ihrer bereits offenen, deutlich abgenutzten Kunstledertasche derart langsam auseinander, als hätte sie alle Zeit der Welt, um mit knotigen Fingern in die Tasche zu langen. Und sie hatte alle Zeit der Welt. In ihrer ganzen Erscheinung erinnerte sie Klara zuerst an Paula Beckers Armenhäuslerin, nur dass diese Alte hier statt einer langstieligen Blume ein um ein Stück Karton gewickeltes Elastikband in der Hand hielt. Das Auffälligste an der Frau war jedoch ein Geschwür schräg zwischen Mund und Unterkiefer, irritierend vor allem wegen seiner Größe, in Farbe und Textur einem Stück Schweinelunge nicht unähnlich. Mit dieser faustgroßen Wucherung und der behaupteten Zirkusmenagerie fing es an.

    Mit einer gestohlenen Mosaikbrosche.

    Es fing mit diesem unglaublichen Lachen an, in das man mir nichts, dir nichts einstimmt und das unmöglich zu beschreiben ist und so leise war, dass Klara es zunächst gar nicht bemerkte.

    Es fing an, als das Wort okay plötzlich in aller Leute Mund war. Das war, nachdem die Tamagotchis praktisch ausgestorben waren, ohne in die Rote Liste aufgenommen worden zu sein. Damals fiel es Klara wie Schuppen von den Augen, dass die Sterne auch am Tag leuchten. Das fand sie mehr als okay.

    Sie hielt an, als die Schwalbe vom Himmel fiel, sang- und klanglos vor ihrem Fahrrad aufschlug. Der Vogel lag mit offenem Schnabel und verdrehtem Körper da, mit gelbem Rachen und hellen Wulsten in den Schnabelwinkeln. Der blaue Schimmer auf Kopf und Rücken war vollkommen. Einzelne Bauchfedern und Eingeweideteilchen blieben am Asphalt kleben, als Klara den Jungvogel aufhob. Er hatte kein Gewicht, lag in ihrer Hand, ohne noch zu sein, worüber sie eine seltsame Freude empfand. Sie schaute empor. Weit und breit waren keine Vögel zu sehen, schon gar keine Raubvögel, bloß Wolken, die die Leere des Himmels spielend kaschierten.

    An der Badestelle traf sie niemanden an.

    Normalerweise führt der Fluss braunes Wasser, das an Weinbrand oder Filterkaffee denken lässt. An nicht wenigen Uferabschnitten weiden Kühe, außerdem sickert die häufig verspritzte Gülle in den Moorboden. Äußerst träge bewegt sich der Fluss mal nach dieser und mal nach der anderen Richtung, derart träge, dass man die Strömung nur beim Schwimmen erkennen kann. Das Wasser macht die Haut weich und riecht nach nichts.

    An diesem Tag war der Fluss ungleich blauer als die blauen Himmelsfragmente. Aufgeregt sprangen Gold und Silber über die Kämme und Spitzen der zahllosen Wellen. Das Wasser war zu unruhig zum Schwimmen. Obwohl sie seit über einem halben Jahrhundert schwamm, war Klara keine gute Schwimmerin. Trotzdem zog es sie überall zu Gewässern.

    Sie setzte sich auf den Steg und lauschte und schaute. Sie sah sich den Bergsee ihrer Kindheit schlucken, den See der alljährlich wiederkehrenden Sommerferien, sah, wie sie die Orientierung verlor, sobald sie untertauchte, wo Schwärme kleiner Fische durch ihre gespreizten Beine schwammen, und wie sie vor Kälte am ganzen mageren Körper zitterte, das empfand sie jetzt auch. Und sie hörte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen, wenn sie sich sehr lange im untiefen Wasser am Ufer aufhielt. Die Kälte war nicht schlimm gewesen, hatte sie nicht einmal dazu gebracht, aus dem Wasser zu steigen. Sanne hatte sie jeweils an Land gerufen. Immer hatte Sanne gerufen – Befehlsformen, Entzückungsrufe, Schimpftiraden. Auch ein Kuckuck oder ein Waldohreulenästling lässt sich an seinen Rufen erkennen.

    So wie der Fluss kein richtiger Fluss ist, so ist die Straße, auf der Klara zu allen Tageszeiten fuhr, keine richtige Straße. Denn sie verbindet keine Orte, sondern von der Natur bespielte Flecken, die zu einem Ganzen zusammengefügt worden sind. Auf keiner Karte Nordfrieslands ist die Straße verzeichnet und wird wohl gerade deswegen kaum benutzt. Stellenweise stehen Erlen, Weiden und Schlehen an den Rändern, dann wieder Kerbel und Giersch mit ihren zum Verwechseln ähnlichen Doldenblüten. Öfters führt die Straße auch am Reet entlang, hinter dem sich Wassergräben verbergen. In einzelnen dieser zahlreichen Gräben, die zu früheren Zeiten von Bauern oder Postboten mithilfe eines sehr langen Stocks übersprungen worden sind, wächst die Wasserfeder; sie steht auf der Roten Liste.

    Nachdem Klara die Straße entdeckt hatte, war ihr einmal ein Mähdrescher begegnet, und ein andermal hatte ein Auto sie überholt, eine alte, gleichsam aus Elfenbein geschnitzte Mercedeskutsche, mit einem lässig angewinkelten Männerarm im heruntergekurbelten Fenster. Hin und wieder kam Klara ein Mensch mit Hund oder ein Hund mit Mensch entgegen, häufiger jedoch stand nach einer scharfen Kurve ein Reh mitten auf der Straße oder es schlängelte sich eine Ringelnatter. Und einmal hockte eine Kröte da, so groß wie ein Hase.

    Damit fing es an.

    2

    ELISE UND DAS KIND

    Anni schreit. Der Mond hat sich durch eine Ritze gedrängt und liegt als bleiches Band quer über Elises Decke. Sie schlägt die Augen auf, holt einmal tief Luft, ist schon aus dem Bett. Das Dielenknarren geht im Schreien unter. Elise kauert sich neben die Wiege, bringt sie in Schwung und streicht Anni über Stirn und Wange, über Stirn und Wange. Irgendwann bemalte irgendwer die Wiege mit hübschen Blumen. Zuvor wurde sie vom unbekannten Großvater auf dem Thalberg gezimmert. Über Stirn und Wange.

    Der Thalberg ist kein Berg, nur eine Anhöhe, ein Hügel unter Hügeln im Emmental, auf dem ein einziges Haus steht, das Familienstammhaus. Moosige, mit Lichtungen durchsetzte Wälder umgeben den Thalberg. Hexen haben vor Urzeiten den Waldboden mit Ringen markiert, aus denen bis heute Pilze schießen. Und die besten Erdbeeren sind da zu finden. Man braucht nur die Augen aufzusperren und sich zu bücken.

    Alle haben sie in der Wiege gelegen, schon der Vater. Einmal ist auch er ein Säugling gewesen, ein Zahnlückenbub, dann ein schlaksiger Vogeleiersammler, ein gewissenhafter Lehrling und endlich ein scheuer Bewunderer der Mutter. Ein stiller Handwerker ist er immer noch.

    Beim Schaukeln blinken auf der Wiege die in hellen Tönen gemalten Zungenblüten auf. Zungen wie von Feuer. Über Stirn und Wange.

    Erst fällt die Dunkelheit ins Fenster, dann in mich hinein, denkt Elise. Erst zieht der Mond über den Nachthimmel, dann macht er sich dünn und wirft mir etwas Licht zu. Ein Band, ein Stecken, zum Hauen und Lecken.

    Wenn sie Anni beruhigen will, indem sie die Wiege bewegt, kommen ihr im Halbschlaf manches Mal solche Sätze in den Sinn. Sie nehmen sich wie eine Linie gesteckter Puffbohnen aus. Oder wie die Eiablage des Kohlweißlings. An die Blattunterseite kleben, sich nicht mehr kümmern und davonfliegen.

    Morgen wird sie gehen. Sich heimlich davonmachen. Aus dem ganzen Kummer ins halbe Leben. Vermutlich wird sie noch für eine Weile das Dorfgespräch sein. Lasst die Leute einfach reden, hatte die Mutter öfters zu den Kindern gesagt. Klatsch und Tratsch geben etwas her, gleichen den in Rinderbrühe schwimmenden Fettaugen, und wer würde die nicht gern oben weglöffeln.

    Es gibt im Dorf ständig etwas zu bereden, auch nach Elises Weggang wird es nicht anders sein. Zum Beispiel wird man über den Habegger Sämu sprechen, vielmehr über dessen Auge, das ihm mit einer Steinschleuder herausgeschlagen werden wird, und niemand wird daran schuld sein wollen. Etliche Worte wird man auch über die herangekarrte Rolle Stacheldraht verlieren. Die Dörfler werden sie in der Tenne des herrschaftlichen Gutshofs wie einen prämierten Zuchtstier anglotzen können – oder wie die Kinder der Ärmsten unter den Armen, bevor man sie mittels Los auf die Höfe aufteilt. Gegen die Viehdiebe sollen Zäune mit Stacheldraht errichtet werden. Doch für die meisten Bauern wird das vorerst unerschwinglich bleiben, weil sie den bevorstehenden Ernteausfall nicht einfach werden wegstecken können. Ein gewaltiges Gewitter mit mostbirnengroßen Hagelkörnern kommt nämlich auf das Dorf zu. Sämtliche Kulturen im ganzen Umland wird es vernichten.

    Mit alledem wird Elise nichts mehr zu tun haben. Morgen Abend ist sie weit weg. Und sie lässt doch etwas hier.

    Weil Anni immer noch schreit, sich weder durch Schaukeln noch Streicheln beruhigen lässt, steht Elise auf, stellt sich auf Zehenspitzen und langt nach der Blechdose in dem an der Decke angebrachten Weidenkorb. Beiläufig, nur aus Gewohnheit, wirft sie auch einen Blick auf Marie und Lini, die im anderen Bett mehr zu erahnen als zu erkennen sind und wie üblich eng aneinandergeschmiegt über Annis Geschrei hinwegschlafen.

    Vielleicht zahnt das Kleine. Oder es hat schlecht geträumt. Warum sollen Säuglinge nicht auch träumen? Kaum sind sie auf der Welt, spitzen sie den Mund, als wollten sie ein Liedchen pfeifen. Sie furzen und gähnen wie die Großen, sie sind lustig und zuweilen verärgert, krähen wie am Spieß und mögen Aufmerksamkeit. Natürlich träumen sie.

    Elise öffnet die Blechdose, steckt den Zeigefinger hinein, ringelt die klebrige Masse auf. Der Finger wandert im schreienden Mund und pendelt darin, bis Anni zu saugen beginnt.

    Ich lege dir meinen Stern zu Füßen, das hatte der Doktor gesagt. Was meinte er eigentlich damit? Wäre die Mutter noch da gewesen, so hätte Elise sie fragen können. Sie wusste Dinge, die dem Vater unbekannt sind. Als Tochter eines Schulmeisters, der auch das Ehrenamt eines Gerichtsäß innegehabt hatte (zu einer Zeit, da viele Gerichtsäße noch barfuß gingen), konnte die Mutter jahrelang zur Schule gehen und Bücher lesen. Einige stehen gut versorgt im Stubenschrank, im Ganzen neunzehn Bücher, zweifellos schampar viele.

    Der Doktor ist längst abgedampft, Elises Zuneigung verpufft. Er sah dem jungen Buster Keaton verblüffend ähnlich. Derzeit kennt niemand auf dieser großen weiten Welt Buster Keaton, kein Mensch weiß etwas über seine Tricks, diese impossible gags, die in fernen Zeiten einmal berühmt sein und in noch ferneren Zeiten in Vergessenheit geraten werden. Noch kommt es vor, dass er nachts durch Elise hindurchgeht, der Doktor. Dann wird Elise wach. Besser ist es allerdings, von Kindern geweckt zu werden.

    Anni schläft längst. Atmet wie ein Lamm.

    Das Band aus Mond und Licht ist gewandert. Elise legt sich zurück ins Bett. Sie stellt sich vor, dass es endlich ein Ende haben wird mit den Steinen. Jeden Tag ist mindestens ein Stein nach ihr geworfen worden. Daher die Kopfschmerzen. Und der ständig wiederkehrende Traum. Der Traum mit den roten Händen und den hohen Häusern. Der Traum, in dem der Regen nichts anderes ist als ihr Schweiß, und Füchse kopfüber unter den Firsten hängen, aber nicht tot sind, weil sie kauen. Das Kaugeräusch klingt wie das trockene Klacken von Geweih, wenn Hirschböcke im Zweikampf aufeinanderprallen. Und Elises Hände schmecken nach Blut, und das Blut und der Schweiß und die Füchse und die hohen Häuser machen Angst, und sie rafft Rock und Schürze und rennt, rennt.

    Wie kann sie zu Geld kommen, wenn sie vor dem Steinhagel flieht, hat Elise sich gefragt. Eine Anstellung als Dienstmädchen oder Fabriklerin kam nicht in Betracht; einem Hausherrn oder Meister ausgeliefert sein, vom Regen in die Traufe – nein danke. Außerdem müsste sie so viel verdienen, dass sie mit Anni zusammen möglichst bald ein neues Leben würde beginnen können.

    Olgi wusste Rat. Elise würde bei der Ausübung dieses Berufs sehr wählerisch sein müssen. Schnell ein gutes Gespür entwickeln. Reinlichkeit als oberstes Gebot. Von den Kunden ebenfalls Reinlichkeit verlangen. Sich keinem anvertrauen, sagte Olgi, der anscheinend zu dir halten will, indem er Kundschaft auftreibt, aber dem du plötzlich nur noch parieren und einen Teil deines Verdienstes abliefern musst. Von so einem kommst du nicht mehr los. Vor allem aber musst du wissen, dass dieser Beruf nicht schlechter ist als die meisten anderen.

    Das Gewerbe in der Bundesstadt auszuüben, davon jedoch riet Olgi ab, zum einen wegen der Nähe zum Dorf, zum andern wegen der Gesetze. Aber was man in Bern verbiete, das sei in Zürich gang und gäbe und straffrei. Nur die Kuppelei würde dort bestraft, wobei eine erfahrene Kupplerin sich garantiert nicht erwischen lasse.

    Bald reichte Olgi ihr eine Adresse, notiert auf ein Kalenderblatt. Auf der Vorderseite eine dicke rote Zwölf und auf der Rückseite mit Bleistift in etwas unbeholfener Schrift ein Name, eine Straße, eine Hausnummer.

    Der dünne, zweimal gefaltete Zettel steckt in Elises Jackenärmelsaum. Man kann nie wissen. Nur dass sie sich in der ihr fremden Stadt ganz schön wird anstrengen müssen. Da muss sie eben durch. Eine Sonnenblume muss sich auch erst aus dem harten Kern, durch die Erde und noch den ganzen Stiel hinaufkämpfen.

    Dass sie das Dorf morgen für längere Zeit verlassen wird, hat Elise nur Marie verraten. Ig wott für mi luege, hat sie erklärt, niemand tut das sonst für mich. So wird früher oder später alles gut werden, auch wegen der Gerechtigkeit. Und weil ich nicht faul bin, verstehst du?

    Glaube schon, hat die jüngere Schwester geantwortet und ihr bei der seligen Mutter versprochen, sich um Anni zu kümmern und ein waches Auge auf die jüngsten Geschwister zu haben. Auf Maries Herzensgüte ist Verlass. In ihrer Obhut wird es auch Anni an nichts fehlen.

    Dem Vater hat Elise erzählt, morgen mit dem Bacher Emmi nach Langnau zum Weiberschießen fahren zu wollen. Erstmals seit drei Jahren fände der Anlass wieder statt. Sicher würden sie sich gut amüsieren. Der Vater hatte nichts dagegen.

    Die Fahrt nach Zürich kann sie zum Glück selber bezahlen, denn der Doktor hat ihr irgendwann nach seinem letzten Erscheinen einen Umschlag geschickt. Zwei Gold- und vier Silbermünzen lagen darin, fest umwickelt mit Bast. So viel Geld aufs Mal hat Elise noch gar nie gesehen – sechzig Franken! Sie hat aber auch noch nie einen derart kurzen Brief gesehen: Für Dein Kind und Dich. Hochachtungsvoll, W. S.

    Eine der Goldmünzen hat Elise an Marie weitergegeben. Und ja, den Vater wird sie, Elise, vermutlich enttäuschen, doch er hat sie ebenfalls enttäuscht.

    Kurz vor dem neuerlichen Einschlafen, in diesen Sekunden vor dem Hinüberdämmern, diesem Einsinken in etwas, das so warmweich ist wie eine leer getrunkene Mutterbrust und so großflächig wie ein Strohsack, zeigt Elise den vergangenen Monaten doch noch Fäuste.

    3

    KLARA UND DER SCHUSS

    Schon als Kind hatte sie sich geschworen, niemals zu heiraten, wobei die Ehe für sie damals die einzig denkbare Form einer Gemeinschaft gewesen war.

    Diesen vermutlich überspannten und dennoch gut überlegten Schwur legte Klara in dem bis unter die Decke milchgrün gefliesten Badezimmer ihres Elternhauses ab. Die Anleitung zum Zähneputzen klebte als Bilderfolge an einem knallgelben Arzneikasten; sie zeigte ein sehr fröhliches Negerkind, auf dessen unglaublich weiße Zähne Klara kein bisschen eifersüchtig war. Sie zog es vor, ihre Zahnbürste unters laufende Wasser zu halten und sie dann schnell wieder zurück ins Wasserglas zu stellen, statt im Mund all die Pirouetten, Sägebewegungen und Liftfahrten auszuführen, die das sehr fröhliche Negerkind zu tun empfahl.

    Bei ihrem Schwur starrte Klara in den Wasserhahn, in seine Krümmung, zu der sie seit Neuestem nicht mehr aufblicken musste. Jetzt spiegelte sie sich im Chromstahl, sah sich geradewegs in die eigenen Augen, die vom Kopf wegflohen, nach links, nach rechts, stecknadelklein und dunkel. In Sannes Taschenspiegel waren sie wassergrün. Die ungewohnt breite Nase und die wulstigen Lippen wirkten auf Klara befremdlich und drollig in einem. Bleckte sie die Zähne, sah sie sich einem Tigergebiss gegenüber.

    Sie mochte den Tiger im Zoo. Es beeindruckte sie, wie er immer nur fünf Schritte ging und einen sechsten andeutete, indem er das rechte Vorderbein leicht anhob und zurückstellte, um gleich darauf seinen ganzen Körper schwungvoll zu wenden und den engen Käfig in die entgegengesetzte Richtung auszumessen – fünf Schritte und ein angedeuteter sechster. Eine wundervolle Ewigkeit dauerte dieses Hin und Her, bei dem das Tier sie ununterbrochen im Auge behielt. Vielleicht überprüfte der Tiger, so dachte Klara, ob sie richtig mitzählte. Ständig erwartete sie sein Zähnefletschen. Wie er dabei den Kopf leicht schief stellte. Er tat es nur, wenn ein Wärter im angrenzenden leeren Käfig ein Fleischstück platzierte, sich anschließend nach hinten begab und von dort aus mittels einer zauberhaften Mechanik ein Fallgitter öffnete, um der größten aller Raubkatzen Zugang zu ihrem Futter zu verschaffen.

    Alle paar Monate gingen sie sonntags in den Zoo. Franz, der stets mit dabei war, erklärte Klara, was dem Tiger zum Fraß vorgeworfen wurde, Kuhrippen etwa oder Teile von vermutlich totgefahrenem Wild. Er gestikulierte mit den Händen, um seine Erklärungen zu unterstreichen, bis Sanne, die sich jeweils nur kurz im Raubkatzenpavillon aufhielt, Mann und Tochter von der Eingangstür her zu sich ins Freie rief. Ihre Rufe kamen immer zu früh, und sie waren derart laut, dass sämtliche Besucher im Gebäude in Sannes Richtung blickten. Für die Dauer eines Atemzugs wurde es still im Pavillon, lange genug, damit Klara ihr ungutes Gefühl einmal mehr irgendwo in ihrem Innern unterbringen konnte.

    Wenn Klara sich ins Badezimmer zurückzog, imitierte sie manches Mal die geschmeidigen Bewegungen des Tigers, exakt fünf, beinahe sechs Schritte in die eine und fünf, beinahe sechs Schritte in die andere Richtung und so fort. Oder sie setzte sich auf den Klodeckel und dachte daran, wie es wäre, hinuntergespült zu werden. Sich das vorzustellen war die schwierigste aller Aufgaben, und gerade deshalb eignete sie sich zur Ablenkung. Sannes Anfälle waren hässlich und machten Angst. Einmal hatte Klara mitangesehen, wie sie Franz die Brille aus dem Gesicht geschlagen hatte. Franz versuchte, Sanne zu beschwichtigen, wobei er möglichst ruhig blieb, obwohl er bestimmt um vieles stärker war als sie. Er konnte ganze Schweinehälften schultern und große Gefäße mit Blut oder Brät tragen. Und außerdem kostete es ihn keine Mühe, mit einem einzigen Hieb einen Knochen zu zerteilen, selbst wenn dieser so dick wie ein Telefonhörer war.

    Lieber als ins Badezimmer schlüpfte Klara aber in ihr Zimmer. Wegen der Bücher. Zwischen Wand und Bett legte sie sich rücklings auf den Boden, auf den kleinen Teppich, der angeblich aus Persien stammte und ein Geschenk eines Aufschnittmaschinenhändlers an den Vater gewesen war. In der dunkelsten Ecke ihres Zimmers liegend, stülpte Klara sich das Buch über den Kopf, in dem sie gerade las. Mal stellte es ein Zelt dar, mal einen Helm oder eine Eishöhle, und Klara ließ das offene Buch so lange über ihrem Kopf liegen, bis sie taub war. Taub bedeutete, dass sie sich an die bereits gelesenen Szenen aufs Genaueste erinnern konnte. Erst in diesem Zustand erlaubte sie sich, an vertraute Orte zurückzukehren, nach Owambien oder ins Mumintal. Dort stand sie niemandem im Weg.

    Bereits vor Schuleintritt hatte sie sich mit Max und Moritz das Lesen beigebracht. Ihm war das Abschreiben von Eigennamen im Kindergarten vorausgegangen. Dabei hörte sie in sich hinein, steckte die Buchstaben bald schon wie Matador-Holzklötze aneinander. Sanne zeigte Klara im Laden noch das C und schwenkte dazu eine Tube Cenovis. Von Franz war das Z. Verflixt nur, dass Tss (C) und Tss (Z) gleich klangen. Klara buchstabierte sich beherzt durch die Streiche von Max und Moritz hindurch, obwohl sie das Lesen als ungeheure Anstrengung empfand und manches Wort zwar hinter sich bringen, aber nicht verstehen konnte, so wie Tra-u-er-blic-k. Und auch die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Wörtern erschlossen sich nur selten. Zum Glück gab es die Illustrationen. Und zum Glück las Trudchen einzelne Verse wieder und wieder vor, mit der Geduld, die Großmüttern zumeist eigen ist. Wurde die Anstrengung zu groß, brach Klara ihre Leseübung vorübergehend ab, manchmal mitten in der Zeile. Damit sie die vorangegangenen Wörter nicht noch einmal zu lesen brauchte, markierte sie die Stelle mit einem Farbstift oder mit ihrem Daumennagel.

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