Strandgut 2: Geschichten mit Meerblick
Von Karin Buchholz
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Über dieses E-Book
Karin Buchholz
Karin Buchholz - Autorin - Kolumnistin - Leuchtturmbewohnerin. Die 1963 geborene Autorin lebt in einem stillgelegten Leuchtfeuer mit Blick auf Ostsee und Fjord und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht. Bekannt ist sie außerdem durch ihre Kolumnen für unterschiedliche Magazine und ihre beliebten Lese-Auftritte in ganz Norddeutschland. Immer im Gepäck ihre Texte vom Glück der kleinen Dinge und von der Magie des Augenblicks.
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Buchvorschau
Strandgut 2 - Karin Buchholz
Sturmvogel
Strichmännchen
Auf dem Deich, der von ihrem Fenster aus den Horizont begrenzt, laufen trotz des stürmischen Wetters Leute. In ihren farbigen Regenjacken sehen sie wie bunte Strichmännchen auf einer mit dem Zeichenstift gezogenen Linie aus. Sie stemmen sich gegen den Wind, bleiben von Zeit zu Zeit stehen und sehen hinüber ins Watt oder auch zur Landseite, wo sich die kleinen Reet-dachhäuschen beinahe aneinanderkuscheln, so als wollten sie sich gegenseitig wärmen gegen die beißende Novemberluft.
Es führen schmale Treppen zu beiden Seiten des Deiches hinunter, und hin und wieder verschwinden einige der Strichmännchen auf der anderen Seite, dort, wo das Watt im Sommer moorig an den nackten Füßen kleben bleibt. Doch jetzt ist es zu kalt, um barfuss durchs Watt zu gehen. Die Strichmännchen tragen bunte Gummistiefel, manche sogar Gummihosen, die sie vor Wind und Wasser schützen.
Die kleinen Wanderergruppen ziehen sich immer wieder unregelmäßig auseinander, schließen wieder zueinander auf, gestikulieren mit den Armen. Und auch der ein oder andere Einzelgänger setzt seinen mühseligen Weg gegen den böigen Wind fort.
Rosa steht am Fenster, dessen kleine, viereckige Scheiben halb von einer Häkelgardine verdeckt sind. Kleine gehäkelte Segelboote ziehen ihre Bahn über das schmale Fenster, das nur mühsam die Kälte von draußen abhält.
Der Teebecher in ihrer Hand dampft und wärmt sie zumindest ein wenig, während sich ihre Brust zum wiederholten Male in einem tiefen Seufzer hebt und wieder senkt.
Eines der Strichmännchen – es ist ein gelbes – winkt mit beiden Armen zu ihr herüber. Es trägt eine dunkle Pudelmütze und Handschuhe, die Hose ist in gelbe Gummistiefel gesteckt, und von einem Arm baumelt fröhlich eine Tragetasche. Rosa hebt langsam den Arm und winkt zurück.
Jorge. Er bringt die Einkäufe. Zweimal die Woche kommt er vom Dorf herüber und bringt ihr, was sie zum Leben braucht. Er ist ein guter Junge, der Sohn eines spanischen Fischers, dessen Familie es vor Jahren hierher verschlagen hat und der in dem kleinen Dorfladen arbeitet: Kisten stapelt, Gemüse putzt, Regale auffüllt und Besorgungen für einige Stammkunden erledigt.
Das Strichmännchen bewegt sich weiter den Deich entlang, bis es schließlich hinter den kapuzenartigen Reetdächern der Nachbarhäuser verschwindet.
Rosa stellt den Becher auf der schmalen Fensterbank ab, auf der sich Muscheln, Treibholz und anderes Strandgut aneinanderreihen, und öffnet die Tür. Jorges gelbe Regenjacke lugt schon zwischen den unbelaubten Bäumen der angrenzenden Gärten hervor. Er kommt mit seinem gewohnt forschen und von Tatendrang und Energie zeugenden Gang den schmalen Weg an den Gärten herunter. Schließlich öffnet er das leicht schief hängende Gartentor und kommt mit einem breiten Strahlen auf dem Gesicht über den kleinen Plattenweg auf sie zu.
Rosa unterhält sich eine Weile mit ihm, während er wie üblich ablehnt, hereinzukommen. Er gibt ihr die Einkaufstasche, und sie reicht ihm das Geld hinüber. Seine rechte Hand hat er vom Handschuh befreit und fingert das Geld in eine schmale Jackentasche auf seiner Brust. Wie üblich verneigt er sich bei der Verabschiedung mehrmals, während er gleichzeitig rückwärts die zwei Stufen vor ihrer Haustür hinunter tritt. Er streift den Handschuh wieder über, winkt noch einmal zum Gruß, schließt das Gartentor, und das Gelb seiner Jacke verschwindet bald danach aus Rosas Blick.
Langsam schließt Rosa die Haustür und kehrt in die Stube zurück. Die Einkaufstüte lässt sie auf einen der Stühle sinken, die an dem schmalen Tischchen vor dem Fenster stehen.
Sie streicht ihrer Tochter über den Kopf und seufzt. Manuela hat den Kopf schief gelegt und sieht sie mit verdrehten Augen an, in denen das Weiße überwiegt. Rosa streichelt sanft über ihre Wange und hört das fröhliche Glucksen ihres kranken Mädchens. Des Kindes, das niemals mit den anderen Strichmännchen über den Deich laufen wird. Manuela wird dieses Haus wohl nie verlassen, und auch für Rosa ist es ihre ganze Welt geworden. Sie lässt ihr krankes Kind nicht allein.
Jorge bringt ihr die Lebensmittel.
Jorge erzählt ihr, was im Dorf vor sich geht.
Jorge ist ihr Fenster zur Welt.
Rosa tritt ans Fenster zurück und schaut zum Deich hinüber. Dort steht ein winkendes gelbes Strichmännchen, und sie hebt langsam die Hand und winkt noch einmal zurück.
Manuela gluckst. Rosa betrachtet sie liebevoll. Auf dem mit bunten Stiften wild und willkürlich bekritzelten Zettel, der vor ihr auf dem Tischtuch liegt, ist die einzig erkennbare Figur ein Strichmännchen, das beide Arme in die Luft reckt.
Rosa lächelt. Manuela sieht wohl Dinge, die ihre Augen gar nicht sehen. Sie sieht sie wohl in ihrem Kopf, die Strichmännchen auf dem Deich…
Dünensänger
Clara hatte ihr ganzes Leben hier auf der Insel verbracht. Ihr Kinderzimmer waren die langen breiten Sandstrände gewesen und im kleinen Strandbad, hinten bei den großen Dünen, hatte sie Schwimmen gelernt. Später war sie Lehrerin geworden und hatte fast auf den Tag genau dreiundvierzig Jahre lang die Kinder in der kleinen Dorfschule unterrichtet.
Seit ihrer Pensionierung arbeitete sie für das winzige Inselmuseum und erklärte den Touristen, wie sich das Leben der Insulaner im Laufe der Jahrhunderte verändert hatte. Einmal in der Woche, immer donnerstags, betreute sie obendrein die Inselbücherei. Zum Glück gab es noch genügend Touristen, die ihren Aufenthalt hier mit Lesen verbrachten – eine immer weiter aussterbende Tätigkeit, wie Clara fand, seit es diese grässlichen elektronischen Geräte gab, mit denen man außer zu telefonieren auch noch Musik hören und – überflüssigerweise – elektronische Bücher lesen konnte. Dabei ging doch wirklich nichts über das leise Geräusch, das eine raue Papierseite beim Umblättern machte und mit dem es den Leser weiter durch die Geschichte begleitete... Clara liebte Bücher. Schon immer hatte sie viel gelesen – als Kind schon war sie ständiger Gast in der Bücherei gewesen, und heute genoss sie es, die ein oder andere Neuerwerbung als eine der ersten mit nach Hause nehmen zu können.
Darüber hinaus hatte Clara eine Vorliebe für die monatlichen Bingo-Abende der Kirchengemeinde, an denen sie regelmäßig und ohne Ausnahme teilnahm. Sie war eine gute Spielerin und bei den anderen, ebenfalls zumeist älteren Teilnehmern sehr beliebt. Jeder auf der Insel kannte sie, und bisweilen traf sie bei den geselligen Abenden sogar ehemalige Schülerinnen und Schüler, die inzwischen selbst Familienväter oder – mütter waren.
Doch seit vorletzter Woche hatte Clara eine