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Sonnwendtod: Schwarzwald Krimi
Sonnwendtod: Schwarzwald Krimi
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eBook341 Seiten4 Stunden

Sonnwendtod: Schwarzwald Krimi

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Über dieses E-Book

Ein stimmungsvoller Krimi aus dem Nordschwarzwald, der unter die Haut geht.

Was symbolisieren die steinernen Köpfe, umrankt von grünen Blättern, die sich seit Jahrhunderten in manchen Kirchen finden? Die Suche nach der Antwort führt Autorin Silvia Salomon in den Nordschwarzwald – und mitten hinein in einen geheimnisvollen Mordfall um Wiccakult und heidnische Bräuche. Weil sie die Tote gefunden hat, gerät Silvia unter Verdacht. Mit Hilfe eines einheimischen Journalisten, der eine Titelstory wittert, macht sie sich auf die Suche nach dem wahren Täter – und setzt damit ihr Leben aufs Spiel.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum24. Juni 2021
ISBN9783960417491
Sonnwendtod: Schwarzwald Krimi

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    Buchvorschau

    Sonnwendtod - Helena Reinhardt

    Helena Reinhardt, 1961 in Duisburg geboren, zog 2009 aus dem Ruhrgebiet an den Rand des Nordschwarzwalds. Nach abgeschlossenem Studium der Anglistik, Amerikanistik und Neugermanistik mit Schwerpunkt Literatur arbeitete sie u.a. im Sekretariat eines Biochemieprofessors, im Büro eines Bestattungsinstituts und als VHS-Dozentin im Bereich Englisch. Grüne Männer sind 2002 in ihr Leben getreten.

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

    © 2021 Emons Verlag GmbH

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagmotiv: privat (Grüner Mann an der Alten Post« in Nagold)

    Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

    Umsetzung: Tobias Doetsch

    Lektorat: Uta Rupprecht

    E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-96041-749-1

    Schwarzwald Krimi

    Originalausgabe

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    www.emons-verlag.de

    2018-06-20-22:38

    »… ich fühl mich, als ob ich schwebe, meine lieben Freunde, und das kommt nicht von dem neuen Pilzzeug – danke dafür, Moira! Nein, es liegt ganz alleine an meinem Meister, unserem Priester … Ja, ich merk schon, meine Zunge verknotet sich, und ich muss dauernd kichern, weil ich so glücklich bin. Morgen ist Sonnwendfeier, Litha … mein großer Tag! Und damit ihr bis dahin was zu gucken habt, zeig ich euch, was ich mit meinem Gelaber sowieso nicht rüberbringen kann … Mir ist nach Tanzen … Moment, nur eben aufstehen, das Stativ einstellen, hoppla, sorry, so, jetzt aber. Und ich sing auch was dazu – lalala, lalalala … und drehen … und klatschen … macht doch mit … Zu blöd, immer tret ich mir auf den Saum, und ihr könnt mich gar nicht richtig sehen, ich mein, richtig wie ganz. Freunde, jetzt kriegt ihr wirklich die große Show, runter mit dem Kleid. Lalala, lalalalaaa, das macht Spaß, haha, weg mit dem Fummel, oh, ich hab den rosa Slip an, wie peinlich, den wollt ihr nicht sehen, bin doch keine fünfzehn, wartet mal, ich komm ein bisschen näher, mit Hüftschwung, soooo … ich trag übrigens nie einen BH, wie ihr seht!

    Mir geht’s so gut, euch auch? Ist das geil! Und ohne das Fingerschnipsen hab ich auch meine Hände frei, ihr wisst, was ich meine? Wenn ich mich so anfasse, fühl ich meinen ganzen Körper tanzen, heute ist meine Haut ganz weich, ich spür mich im Rhythmus, hmmmmmm, und lalala, lalalalaaaaa, aaaaah …

    He, das geht aber schnell total ab, sind wohl doch die Pilze, tut mir leid, Zeit, euch abzuschalten, ich hab mehr Lust auf mich alleine ab sofort … ich meld mich morgen, ihr Süßen!«

    1

    Freitag, 22. Juni

    »Mailbox Viola Syring. Für Freunde: Ich rufe zurück. Für alle anderen: Was kann so wichtig sein? Die Zeit läuft. Dreißig Sekunden ab jetzt.«

    Was für eine Ansage, dachte Silvia. Typisch für ihre Tochter, immer ungeduldig, immer frech. Fast bewundernswert. Also los …

    »Hallo, Viola, die Mudda. Ups, was sag ich denn auf die Schnelle? Hast du Lust, mit mir essen zu gehen? Ich bin mal wieder bei Anne und Michael in Wildberg, diesmal zum Schreiben, also kein Urlaub. Kann es sein, dass wir beide uns schon fast ein halbes Jahr nicht mehr gesehen haben? In den nächsten Tagen komme ich nach Tübingen, ist ja von hier nicht weit. Ich möchte die Blattgesichter in der Elisabethkirche für mein Manuskript fotografieren und hab Hunger auf das ›Magischterle‹ in der Wurstküche. Du auch? Meld dich, ja?«

    Silvia trennte die Verbindung. Violas Stimme weckte Sehnsucht in ihr. Sie seufzte, wandte sich wieder der Datei auf ihrem Laptop zu und brütete weiter darüber nach, wie sie zukünftige Leser dafür interessieren könnte, sich nach den archaischen Grünen Männern, die in Deutschland so wenig wahrgenommen wurden, auf die Suche zu machen. Sie scrollte zum Anfang zurück.

    »Triff den Grünen Mann« von Silvia Salomon, Einleitung

    … Die englische Bezeichnung »Green Man« steht für die Abbildung eines Gesichts, dem Blätter aus Teilen des Kopfes wachsen oder das zwischen Blättern hindurchschaut. Ich werde mich auf die Darstellung eines Blattgesichts aus Stein, Holz oder Gips konzentrieren. Alle Grünen Männer sind auf das gleiche archetypische Symbol für Werden und Vergehen im Rhythmus des Jahreslaufs zurückzuführen.

    Kaum atmen konnte man hier drin. Dieser Nachmittag war einfach zu drückend für spritzige Einfälle, und sobald sie das Fenster aufmachte, kam noch mehr Hitze herein. Silvia knetete sich den Nacken. Sie saß schon zu lange am Schreibtisch, ohne mit ihrem Text weiterzukommen. Grüne Männer hatten doch etwas Wildes, Freies, sie konnte sie förmlich rufen hören: »Komm!« Also Schluss mit dem fruchtlosen Herumhocken, Schreiben und Wieder-Löschen. Ihr Rücken protestierte auch.

    Jetzt war Bewegung angesagt. Warum nicht erst einmal neue Fotos in der Kirche machen? Vielleicht kam dann später noch ein fetter Musenkuss.

    Sie fuhr den Rechner herunter, steckte Handy und Schlüssel in die Hosentasche und griff nach der Kamera. Nichts wie raus aus dem Gästezimmerchen. In Vorfreude auf die Zeit außer Haus spurtete sie die Treppe hinunter. War denn niemand da? Sie hatte doch Annes Auto vor ein paar Minuten gehört.

    Auf der Terrasse fand sie die Freundin im orangefarbenen Licht unter der Markise. »Hallo, Anne, ganz alleine, ist Michael noch nicht zurück?«

    »Kommt gleich, freitags nach der Arbeit erledigt er den Wocheneinkauf. Sein Videokurs fällt heute Abend aus, dann seht ihr euch nachher.«

    »Ich geh mich auslüften, läuft grad unrund mit dem Schreiben.« Silvia atmete genüsslich den sommerlichen Lavendelgeruch ein, der von rechts aus dem Nachbargarten herüberwehte. Jedes Mal, wenn sie zu Besuch war, sog sie das Idyll des schwäbischen Städtchens wie samtige Waldluft tief in sich hinein. Sie brauchte ausgedehnte Spaziergänge zum Ausgleich für die anstrengende Kopfarbeit, und in Wildberg begann die Natur vor der Haustür – anders als in Herne, ihrer Heimatstadt. Sie war ganz bewusst ohne Auto angereist und empfand den Aufenthalt hier als willkommene Abwechslung zum Schmelztiegel Ruhrgebiet.

    »Nimm einen Schirm mit, es soll regnen, sieht sogar nach Gewitter aus.« Annes skeptischer Blick ging zum Himmel. Sie wirkte in letzter Zeit angestrengt, fand Silvia. Ob sie der Ärger in ihrer alten Firma und ihre Entscheidung, dort zu kündigen, noch beschäftigte? Oder machte ihr die neue Stelle in einem Bestattungsinstitut zu schaffen? Anne hatte zwar gesagt: »Das ist nur für den Übergang«, suchte aber bisher nicht aktiv nach einer anderen Arbeit, davon hatte Silvia sich überzeugt.

    »Guck mal, da kommen ganz dunkle Wolken aus Richtung Frankreich rüber, hoffentlich kühlt es ab. Es muss auch dringend mal regnen.« Anne fächelte sich mit der Zeitung Luft zu.

    »Bis es losgeht, bin ich zurück«, sagte Silvia, holte aber trotzdem ihre Regenjacke.

    Sie wanderte die hitzeflirrende Straße hinunter bis zu den gut hundertfünfzig ausgetretenen Stufen, die steil ins Tal zur Klosteranlage »Maria Reuthin« hinabführten. In unmittelbarer Nachbarschaft zu dem Flüsschen hatte sich einst ein Nonnenorden eine eigene kleine Welt aus Kirche, Wohngebäuden, Scheunen, Brunnen, Fischteich und Kräutergarten erschaffen. Das moderne Leben hatte das Ensemble verändert, früher landwirtschaftlich genutzte Flächen hatte man in einen Park verwandelt, und manches andere war malerischem Verfall preisgegeben. Hohe alte Mauern aus Buntsandsteinblöcken umgaben die Anlage. Der Efeu in den Fugen hatte den letzten intensiven Rückschnitt überstanden und schickte unverdrossen seine frischen Triebe ans Licht.

    Am Schäferlaufplatz ging Silvia durch den Haupteingang und auf die Klosterkirche zu. Sie brauchte bessere Fotos des Grünen Mannes auf dem Taufbecken. Mit den gleich nach ihrer Ankunft am letzten Wochenende aufgenommenen Bildern war sie unzufrieden, weil sie im Dämmerlicht verwackelt waren oder durch den eingebauten Elektronenblitz der Kamera flach und farblich verfälscht wirkten. Erst am Abend, als sie die Bilder am Laptop betrachten konnte, hatte sie gemerkt, dass die Freude, wieder einmal in Wildberg zu sein, sie beim Fotografieren unkonzentriert gemacht hatte.

    Im Park waren Fußgänger unterwegs, ein Pärchen am Teich, Eltern mit Kindern auf dem Spielplatz und in der Nähe des gegenüberliegenden Eingangs ein Grüppchen Radler, die auf den Bänken am Brunnen belegte Brote vesperten. Ein Mädchen im Badeanzug, kreischend, nass und sandig, rannte ihr vor die Füße.

    Gleich würde die Sonne weg sein, und die Leute würden versuchen, sich vor dem Gewitter in Sicherheit zu bringen. In diesem Jahr kamen Blitz und Donner viel früher und häufiger als in den Jahren zuvor, dachte Silvia. Solch ein Wetter erwartete man üblicherweise im August und nicht im Juni. Sie beschleunigte ihren Schritt.

    Die Kirche, der Fruchtkasten mit dem Heimatmuseum und das Fachwerkgebäude, in dem die hiesige Polizei residierte, lagen links vor ihr. Einmal mehr fiel ihr auf, dass der Polizeiposten in seinem Knusperhäuschen weder Autorität noch Kompetenz ausstrahlte. Die Bearbeitung eines Kapitalverbrechens konnte sie sich beim Anblick des moosbewachsenen steilen Daches und der kleinen Fenster überhaupt nicht vorstellen.

    Auf dem Weg kam ihr Dirk Faist entgegen, der Nachbar ihrer Freunde und Besitzer des nach Lavendel duftenden Gartens. Im Gegenlicht schien er zu schwanken, seine Bewegungen wirkten eine Spur unkoordiniert. Wahrscheinlich hatte er um diese Uhrzeit schon ein, zwei Bier in dem Biergarten auf dem Campingplatz oder an einem der rustikal kariert gedeckten Tische der Minigolfanlage getrunken.

    Hoffentlich suchte er niemanden zum Schwätzen, überlegte Silvia, sonst wurde ihr auf dem Rückweg möglicherweise die Kamera nass. Sie hätte die Kameratasche mitnehmen sollen. Aber nein, er schien mit seinen Gedanken woanders zu sein.

    Aus der Nähe fielen ihr Schweißperlen auf seiner Stirn und der Oberlippe auf. Kein Wunder, er trug trotz der tropischen Temperaturen eine ausgebeulte Jacke und eine Outdoorhose mit Blasebalgtaschen. Darin hatte er offenbar einiges verstaut. Auch ihr trieb die Feuchtigkeit in der Luft den Schweiß auf die Haut.

    »Hallo, Dirk, heiß heute, was?«

    »Hallo, Silvia, ja, arg heiß.« Sein Blick schweifte zur Seite. »Ich war spazieren und ein Bier trinken. Am Pool auf dem Campingplatz ist es auszuhalten. Eigentlich wollte ich noch in den Kräutergarten, aber ich geh wohl besser gleich nach Hause. Schönen Abend.«

    Sie nahm an, dass er den Regen vermeiden wollte, grüßte zum Abschied und nahm den Objektivdeckel von der Kamera. Die schlichte Kirche mit ihren dicken Mauern, den winzigen Fenstern und dem gedrungenen Türmchen konnten Besucher schon lange nicht mehr durch das Hauptportal betreten, sondern nur durch eine Pforte auf der dem Park abgewandten Seite, dicht bei der schattenspendenden Klostermauer. Drinnen umfing Silvia Halbdunkel, es war still und kellerkühl. Der Geruch von erloschenen Kerzen stieg ihr in die Nase, vermischt mit einem darunterliegenden undefinierbaren Aroma. Ein herbes Parfüm oder ein Rasierwasser?

    Sie wusste, wo Grüne Männer darauf warteten, dass sie sie voller Begeisterung entdeckte wie früher als Kind ein gut verstecktes Osterei. Manchmal begegnete sie ihnen unverhofft, manchmal erst nach gezielter Suche. Hier gab es einen auf dem steinernen Taufbecken. Ihn hatte sie vor Jahren schon einmal gesehen, aber damals noch nicht verstanden, was er bedeutete.

    Die Kamera meldete, dass das Blitzlicht zugeschaltet werden sollte. Silvia ignorierte die Technik, ging in die Hocke und stabilisierte ihre Position. Zur Ruhe kommen, einatmen, Luft anhalten, auslösen, ausatmen. Auf dem Display wirkte das Bild brauchbar, ob das stimmte, musste sich später wieder auf dem großen Monitor des Laptops beweisen. Mittlerweile hatten sich ihre Pupillen geweitet, sie konnte Kontraste und Details erkennen. Eine weitere Aufnahme von der Seite, die das Relief des Blattgesichts im Profil zeigte, die Poren im Stein und die angeschlagenen Blattspitzen absichtlich betont, die Vergänglichkeit des Unvergänglichen. Es war eines jener Exemplare, denen Blätter aus Stirn, Wangen und Kinn wuchsen. Silvia besaß in ihrer umfangreichen Bildersammlung auch Aufnahmen von Gesichtern, die von Blättern eingerahmt wurden oder zwischen ihnen hindurchschauten. Anderen wiederum entsprang das Grün sogar aus den Augen- und Mundwinkeln oder den Nasenlöchern. Ein paar der Grünen Männer aus dieser Kategorie wirkten eindeutig tot. Dagegen befanden sich bei vielen anderen Früchte oder Insekten im Grün und betonten so eine muntere Lebendigkeit. Wie einfallsreich die Schöpfer der Blattspeier selbst im Detail gearbeitet hatten, dachte sie.

    Auf dem Profilfoto warf eines der Kirchenfenster unvorteilhaftes Licht, und das altertümliche Gestühl mit den hochgeklappten Sitzen im Hintergrund würde sie wegretuschieren müssen. Silvia änderte ihre Position. Der technische Fortschritt der Digitalfotografie begeisterte sie. Sie öffnete die Blende und wählte die Serienbildfunktion. Aus diesem Winkel gefiel ihr zwar das Gesicht aus Stein, aber sie erkannte auf allen Fotos der Serie einen Haufen Kleidung, der zwischen den beiden Reihen des Gestühls in den Gang ragte.

    Sie spürte, wie sich ihr die Härchen im Nacken und auf den Armen aufstellten, während sie den Blick auf das störende Element richtete. Von dort drüben roch es nach dem Parfüm, sie war nicht allein.

    Ihre Ahnung vertiefte sich. Bei genauerem Hinschauen sah sie zwei Beine von den Knien abwärts, in Stiefeln steckend und bedeckt von einem rüschigen schwarzen Kleidersaum.

    Raus hier, raunte ihr Bauchgefühl, in einer Kirche hat so etwas normalerweise nichts zu suchen. Sie unterdrückte es.

    Guck nach, befahl ihr Kopf, da ist jemand in Ohnmacht gefallen, und du musst helfen.

    Sie lauschte angestrengt und kam langsam aus der Hocke hoch. Totenstille statt Atemgeräuschen.

    Beklommen stakste sie hinüber und beugte sich über die erste Stuhlreihe. Mit dem Rücken an die Sitzflächen der zweiten Reihe gelehnt, lag eine Frau bewegungslos halb auf der Seite, die von Kajal umrahmten Augen nur fast geschlossen, den Blick gesenkt. Lange, schwarz gefärbte Haare verdeckten ihren Hals und einen Teil des Gesichts. Die dunkel nachgezogenen Augenbrauen ließen ihre Haut ganz blass aussehen.

    Viola, war Silvias erster Gedanke. Was für eine Ähnlichkeit! Das Gesicht ihrer Tochter tauchte vor ihrem inneren Auge auf, verschwand wieder. Nein, das war sie natürlich nicht. Durchatmen.

    »Hallo?«, sagte sie leise. »Brauchen Sie Hilfe?« Sie hoffte auf eine Antwort, erhielt keine. Sollte sie den Körper berühren? Ja, sie musste … Sie streckte die Hand aus und fühlte eine magere Schulter. Keine Reaktion. Vorsichtig schob sie die Haare der Frau zur Seite, um das Gesicht anzufassen. Dem armen Kind war etwas zugestoßen.

    Was sah sie da am Hals? Das konnte doch nicht sein. Sie betrachtete die Stelle genauer, hatte sich tatsächlich nicht getäuscht. Ausgerechnet ein Blattgesicht, ein Tattoo. Im Schatten der Bankreihen sah es seltsam verwischt aus. Wieso …

    Sobald ihre Hände weniger flatterten, legte sie die Finger an die schmale, viel zu bleiche Wange. Wann war die Frau zusammengebrochen? Lebte sie noch? Silvia konnte die Antwort nicht geben, jemand mit mehr Kompetenz musste ihr zu Hilfe kommen. Hastig wühlte sie in ihren Hosentaschen, suchte das Handy, wollte den Notarzt rufen. Halt – die Polizei war doch nebenan. Sie stürzte fassungslos aus der Kirche, blinzelte in die mittlerweile dunkelwolkige Helligkeit, rannte zu dem Fachwerkgebäude, die Stufen zur Eingangstür hoch, rüttelte am Türknauf – geschlossen.

    Silvia holte tief Atem, um ihren Puls zu beruhigen. An der Tür hing ein schön poliertes Messingschild mit Öffnungszeiten und Telefonnummern für Notfälle. Als sie es endlich geschafft hatte, eine davon einzutippen, spielte der Himmel einen ersten Trommelwirbel.

    2

    Die Kamera war weg, womöglich hatte Silvia sie in der Kirche liegen gelassen. Einer der herbeitelefonierten Polizisten, der aus Nagold gekommen war, hatte ihre Frage danach jedenfalls mit der Floskel beantwortet, der Apparat sei sichergestellt. Das klang beunruhigend, zumal er auch ihr Handy beschlagnahmt und sie selbst freundlich, aber bestimmt einer Durchsuchung unterzogen hatte.

    Nun saß sie im Hinterzimmer der Polizeidienststelle an einem Tisch mit vier Stühlen. Der Himmel draußen weinte nicht, er heulte. Vor dem Fenster in ihrem Rücken war der Rollladen heruntergelassen, und durch die offen stehende Tür des zum Vorplatz gelegenen Hauptraums sah sie, dass der Hof immer wieder von Blitzen erhellt wurde. Das Gewitter tobte direkt über ihr, das Licht flackerte, sie zuckte zusammen. Pulsierendes Blaulicht mischte sich unter die Blitze, Notarztsirenen unter das Donnergrollen. Keiner sprach mit ihr, auch wenn hin und wieder jemand den vorderen Raum mit der Empfangstheke betrat. Sie versuchte, die Telefongespräche mitzuhören, aber wenn es wichtig wurde, zogen sie die Tür zu. Ihr wurde kühl vom Herumsitzen mit dem Rücken zur Wand, die im Dauerschatten der Klostermauer liegen musste.

    Einer der Uniformierten kam mit einem Kaffeebecher in der Hand herein. »Für Sie. Milch und Zucker?«

    »Milch, bitte.« Sie freute sich auf einen heißen, die Sinne belebenden Schluck und wurde skeptisch, als er ein Zehnerpack einzelner Plastikdöschen mit Kondensmilch brachte. Eindeutig nicht das Café Sacher.

    »Der Hauptkommissar weiß Bescheid und ist auf dem Weg. Wenn er sich mit Ihnen unterhalten hat, können Sie nach Hause gehen.«

    »Kommissar? Was ist los? Ist die Frau wirklich tot?« Sie hatte es geahnt, kein lebendiger Mensch hätte so ausgesehen. Dieser Wachtmeister sagte bestimmt nur aus Mitleid, dass sie bald gehen durfte. Das würde wohl noch dauern. Ihr wurde mulmig, und das lag nicht nur am Kaffee.

    »Darüber wird er gleich mit Ihnen sprechen.«

    Die Tür wurde geschlossen, sie blieb allein zurück. Das Deckenlicht mit seiner brummenden Uralt-Neonröhre verbreitete eine klaustrophobische Atmosphäre. Als ob der Raum kein Fenster hätte. Sie fröstelte wieder. Wie lange musste sie wohl hier ausharren? Das teefarbene Getränk schmeckte furchtbar und war kaum lauwarm.

    Als die Tür mit einem Ruck aufsprang, wurde sie aus der Endlosschleife ihrer Gedanken gerissen. Ein athletischer Schrank im regenbetropften Anzug trat ein und brachte einen Kollegen und einen Schwall kühle Luft mit. Silvia spürte den Hauch auf den nackten Armen. Der tiefe Halsausschnitt ihres T-Shirts entblößte reichlich schutzbedürftige Haut.

    »Guten Abend«, sagte er, drückte ihre Finger mit seiner feuchten Hand zusammen und versuchte offenbar, mit seinem Blick in ihre Augen bis in ihr Hirn vorzudringen. »Mein Name ist Ralf Reutter von der Kripo Calw. Der Herr neben mir wird unserer Unterhaltung beisitzen.« Beide Männer hatten nasse Haare.

    »Bin ich froh, dass Sie endlich gekommen sind, vielen Dank.«

    »Ich habe eigentlich dienstfrei, wohne aber in Wildberg, daher war ich dran.« Kurzes Hochziehen der Mundwinkel. »Und wie heißen Sie?«

    »Silvia Salomon. Gehen Sie immer so mit Leuten um, die nur Hilfe holen wollen? Durchsuchen und dann ignorieren? Ich hätte gerne meine Kamera und mein Handy zurück.«

    »Später. Zuerst Ihren Ausweis, bitte.«

    »Vorhin habe ich jemandem gesagt, dass meine Papiere zu Hause liegen. Ich habe meine Brieftasche nicht mitgenommen.«

    »Dann werde ich diesen Jemand schicken, um den Ausweis zu holen. Wo wohnen Sie?«

    »Ich bin zu Besuch bei Freunden, ich komme nicht von hier.« Sie nannte die Adresse von Anne und Michael, ausdruckslos notierte er die Angaben.

    »Möchten Sie noch einen Kaffee?«

    Schwacher Versuch. »Bloß nicht. Kann ich meine Freundin anrufen? Sie macht sich bestimmt Sorgen, wo ich bleibe, und kriegt einen Schreck, wenn die Polizei klingelt.«

    »Das Risiko gehen wir ein.« Er verschwand in den vorderen Raum, schloss die Tür. Der Uniformierte blieb bei ihr am Tisch, sagte kein Wort und versuchte offenbar, den Rollladen hinter ihr zu hypnotisieren.

    Mit einem Mal war sie in einen Todesfall verwickelt. Dabei warteten Schreibtisch und das eilige Manuskript. Nur dafür war sie nach Wildberg gekommen. Silvia war ratlos.

    Wieder riss der Kommissar kraftvoll die Tür auf, wieder folgte ein kühler Luftzug, anscheinend hatte das Unwetter die Hitze vertrieben. Vorne hatten sie die Fenster geöffnet. Fror denn keiner außer ihr? Reutter legte sein Smartphone auf den Tisch und fragte kurz, ob er das folgende Gespräch aufzeichnen dürfe. Die Alternative sei, dass der Beisitzer sich Notizen mache, um ein Protokoll zu erstellen, das in den nächsten Tagen unterschrieben werden müsse. Das erschien ihr in ihrer momentanen Verfassung zu kompliziert. Sie erteilte ihre Zustimmung zur Tonaufzeichnung, er ließ sie ein Einwilligungsformular unterschreiben und diktierte Tag, Uhrzeit und anwesende Personen.

    »Name, Geburtsdatum, Adresse, weitere Angaben zur Person, soweit relevant, bitte.«

    Sie sagte ihre Daten auf: »Silvia Salomon, geboren am 22. April 1958 in Herne, wohnhaft dort in der Werksstraße Nummer 15.«

    »Schildern Sie mir, wie Sie die Verstorbene gefunden haben. Was ist Ihnen aufgefallen?«

    »Ich habe Fotos in der Kirche gemacht, da habe ich gesehen, dass etwas hinter der ersten Reihe des Gestühls lag – ihre … Beine ragten heraus … Sie hatte ein langes Kleid an … und Stiefel, bei der Hitze … komisch, die hatten angetrocknete Erde im Profil …« Irgendwo oben links in ihrem Sichtfeld erschien die Erinnerung daran. Die Verstorbene, hatte er soeben gesagt. Es stimmte also. »Ich bin rüber, habe sie kurz berührt und dann sofort Hilfe geholt.«

    »Warum die Polizei und nicht zuerst den Notarzt?«

    »Ich habe nicht nachgedacht, was ich als Erstes oder als Nächstes tun müsste. Weil der Polizeiposten gleich nebenan ist und weil ich total aufgeregt war. Finden Sie das verdächtig?« Der Werbespruch »Die Polizei, dein Freund und Helfer« fiel ihr ein, aber sie hütete sich, sarkastisch zu werden. Mit diesem korrekten Beamten wollte sie es sich nicht gleich zu Beginn verscherzen.

    Er signalisierte Verständnis. »Bitte versuchen Sie trotzdem, sich an weitere Einzelheiten zu erinnern.«

    »Sie fühlte sich irgendwie … unlebendig an. Hat nicht reagiert. Wie … bewusstlos eben – oder so, als ob ihr das Blut erstarrt wäre. Ihre Augen waren halb offen, das war seltsam, sie hätte doch mal blinzeln müssen.«

    Sie rieb sich die Oberarme und zog die Schultern zusammen. Er beobachtete sie. Verhielt sie sich ungewöhnlich, sah sie aus wie jemand, der Angst hatte?

    »Sie haben einen Schock. Wir müssen trotzdem da durch, solange Sie einen frischen Eindruck haben.«

    »Ja, kann ich verstehen. Darf ich meine Jacke überziehen?«

    »Natürlich.«

    »Danke.«

    Sie entfaltete ihre Regenjacke, die sie als praktisches Täschchen um die Taille getragen hatte. Das Material war dünn, um die Jacke handlich zu machen. Besser als nichts. Sie stand auf und bemerkte, dass sich ihre Brustwarzen zusammengezogen hatten und sich durch das T-Shirt drückten. Der Kommissar sah ihr zu. Sein Kollege saß unbeteiligt da und kritzelte auf seinem Notizblock herum.

    »Ansonsten ist mir nur aufgefallen, dass es zu still war. Sie hätte atmen müssen.«

    Keine Reaktion, Reutter wartete.

    »War sie krank? Sie fühlte sich knochig an. Hat man ihr was getan? Wenn ich von der Kripo verhört werde, bedeutet das, dass sie … nicht einfach so gestorben ist?«

    Das Verziehen seiner Mundwinkel war wieder kein Lächeln.

    »Als junger Mensch stirbt man nicht so schnell. Haben Sie keine Wunde gesehen?«

    »Wunde? Wo soll die denn gewesen sein?«

    Das flaue Gefühl kroch aus ihrer Magengegend in Richtung Kehle. Sie wollte gehen. Das schien er zu spüren, denn er wechselte das Thema.

    »Sagen Sie mir, wen Sie vorher im Park gesehen haben.«

    »Da waren Radfahrer, Kinder …«

    Und Dirk.

    »Einen kannte ich, den Nachbarn meiner Freunde, Dirk Faist heißt er.«

    Sorry, Dirk, dachte sie. Den Happen musste sie hinwerfen, vielleicht würde der Kommissar dann von ihr ablassen.

    »Dirk Faist?« Seine Stimme klang zum ersten Mal überrascht, als ob er ihn kennen würde. Er nahm den Block an sich, notierte etwas. Der Kuli kleckste.

    »Wir haben zwei, drei Sätze gewechselt, hatten es beide eilig vor dem Gewitter. Er kam mir angetrunken vor.«

    »Sonst irgendetwas Auffälliges?«

    »Nein, er war wie immer. Das heißt, ich glaube, es war ihm peinlich, mir zu begegnen, weil er … so schwitzte, er war zu warm angezogen. Er hat sich ziemlich schnell an mir vorbeigedrückt. Ich war ganz froh darüber.«

    »Wie gut kennen Sie ihn?«

    »Wenn ich zu Besuch bin, sehe ich ihn regelmäßig, er läuft viel herum, besonders seit … Und im Garten nebenan, wir unterhalten uns oft über den Zaun, meistens über seine Rosen und andere Pflanzen.«

    Das Frage-und-Antwort-Spiel wurde unterbrochen, weil der Jemand mit ihrem Ausweis kam und ihn auf den Tisch legte. Reutter griff danach. Bevor sie fragen konnte, wie Anne das Auftauchen der Polizei aufgenommen hatte, zog der Kommissar das Gespräch an sich: »Sie sind von weit her, Ruhrgebiet … Für länger bei Ihrer Freundin?«

    »Frau Neuhaus und ihren Mann – Anne und Michael – kenne ich schon aus unserer Schulzeit.

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