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Am dunklen Fluss: Roman
Am dunklen Fluss: Roman
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eBook266 Seiten3 Stunden

Am dunklen Fluss: Roman

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Über dieses E-Book

Ein magischer Sommer begründet die Freundschaft zwischen Martin und den Zwillingen Paul und Billie. Ihre Vertrautheit findet aber schon bald ein jähes Ende.
Zwanzig Jahre nach diesem Sommer werden Paul, ein aufstrebender Regisseur, und der Archäologe Martin mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: Das zufällige Auftauchen eines ehemaligen Schulkameraden zwingt sie, sich nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern auch ihren Geheimnissen – ihrer Liebe, ihrem Hass, ihrer Schuld und ihrer Einsamkeit – zu stellen. Und alles führt immer wieder zu Billie und ihrem Verschwinden zurück.

In Tiefen und Untiefen menschlicher Emotionen, mit Leidenschaften und Unbewältigtem konfrontiert Elisabeth Schmidauer ihre Helden – und ihre Leserinnen und Leser.
SpracheDeutsch
HerausgeberPicus Verlag
Erscheinungsdatum29. Aug. 2016
ISBN9783711753281
Am dunklen Fluss: Roman

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    Buchvorschau

    Am dunklen Fluss - Elisabeth Schmidauer

    Paul

    Sie lächelte. Der Rest ihres Lebens war auf ein paar Sekunden zusammengeschrumpft. Ihr Körper beschrieb einen Bogen, als er fiel. Die Anmut ihres Falls. Dann lag ihr zerbrochener Körper seltsam verdreht auf dem Eis. Ihr Gesicht war weiß und leer, in ihren Augen spiegelte sich der Himmel. Raben flatterten auf, schwarz, über kahlen Bäumen.

    1

    Ich hatte gewusst, wovon ich mich fernhalten musste. Von einem bestimmten Lächeln, einem Klang in einer Stimme, einer Sehnsucht. Nie mehr die Last eines anderen tragen, sagte ich mir, nie mehr schuldig werden am andern. Die Frauen, mit denen ich schlief, waren mir gleichgültig. Wir fielen ineinander und blieben uns fremd, das wollte ich so. Dann schien es, als könnte ich ein anderer sein. Ich lernte Olga kennen, das ging gut, ein paar Jahre lang. Ich konnte mit Olga sein, ohne mich erinnern zu müssen. Aber Olga ist gegangen, vielleicht hat etwas gefehlt. Keine Verwicklungen mehr, wusste ich wieder, keine Liebe, wozu. Und dann war plötzlich Luise da, in Griechenland, in meinem Schreibkurs.

    »Ich bin so wohl bei dir, Luise«, habe ich gesagt – ich hätte wissen müssen, dass das gefährlich war.

    Tage und Nächte mit Luise auf der Insel. »Wir passen doch gut zusammen«, sagte ich, dann waren es sieben Wochen, acht Wochen, dass wir uns kannten, wir waren zurück in Wien, und immer kam noch eine Woche dazu. Manchmal holte ich sie von der Schule ab oder wir fuhren wohin, ans Wasser, in was Grünes oder Buntes. Oder sie schaute im Theater vorbei, in den Probenpausen saßen wir im Café am Eck, alleine oder mit den anderen, im Park färbten sich die Blätter.

    Ich habe alles weggeräumt, was mich an Luise erinnert. Fotos. Die Texte, die sie in Griechenland geschrieben hat. Die Bücher, die ich ihr nicht zurückgegeben habe. Ein T-Shirt. Ihre Zahnbürste. Ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter habe ich an dem Tag gelöscht, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich habe ihre Handynummer gelöscht, ihre Mails. Da ist nichts mehr, was mich an Luise erinnert.

    2

    Es waren neun Wochen, zehn Wochen, dass wir uns kannten. Wenn ich nicht im Theater war, war ich bei Luise oder sie kam zu mir. Wir haben gekocht, gegessen, wir sind im Garten gesessen, wir haben miteinander geschlafen. Ich habe so gerne mit ihr geschlafen. Manchmal hat sie geweint, als zerfiele sie unter meiner Berührung. Ich reiche nicht aus, dachte ich, was, wenn ich nicht ausreiche. Einmal fuhren wir an die Donau, Donauauen, wo die Wildnis ist und die Ebene weit. Die Luft war milchig, der Himmel rosa und blau, in der Luft schwammen Silberfäden und die Bäume leuchteten in einem wilden Gold. Traumlos und wie in einem Traum vergingen die Wochen.

    Olga kam mit ihrem Baby im Theater vorbei. Es war ein Mädchen, Greti, ein hübsches kleines Ding, das Olgas Haare hatte und Olgas Mund.

    »Ich hätte sie gerne Paula genannt«, sagte sie und drückte mir Greti in die Hand. »Aber das hätte mich immer daran erinnert, dass du nicht der Vater bist. Schau sie dir an«, sagte Olga. »Wenn mich jemand gefragt hätte, wie unsere Kinder aussehen würden, dann hätte ich gesagt, genau so.«

    »Sie sieht dir ähnlich«, sagte ich. »Luise, das ist Olga, Olga – Luise.«

    Olga lachte melodisch, sie entschwebte zu einem der Chefs und ich stand da mit dem Baby, das meines hätte sein sollen. Luise machte ein seltsames Gesicht. Das Baby öffnete die Augen.

    »Hat es dir leid getan?«, fragte mich Luise später.

    »Was?«

    »Olga. Das Baby. Dass es nicht deines ist. Dass Olga nicht deine Frau ist.«

    »Nein«, sagte ich.

    Luisesätze, wenn sie die Arbeiten ihrer Schüler korrigierte.

    »Herr im Himmel, Mühsal und Pein ohnegleichen.« Dass sich die Schülerinnen Lady Macbeth als Tussi dachten, wer will nicht Königin sein, na klar.

    »Und warum nicht?«, sagte ich, die Lady so anlegen, das könnte doch spannend sein.

    »Meinst du?« Sie runzelte die Stirn und schrieb etwas unter die Arbeit, kopfschüttelnd.

    Einmal habe ich sie abgeholt, sie stand im Sonnengekringel, im fallenden Laub, ich rief sie, sie kam über die Straße auf mich zu, hinter ihr johlten die Schüler.

    »Das kann ich mir morgen anhören«, sagte sie, wie atemlos.

    Wenn sie nicht da war, war es, als wäre ich immer leer gewesen.

    »Du musst Luise jetzt wirklich einmal kennenlernen«, sagte ich zu Martin, da war ich schon Wochen wieder in Wien. »Komm zum Essen, du wirst sie mögen.«

    Weil ich die beiden in der Küche nicht brauchen konnte, schickte ich sie in den Garten. Später kam ich nach, Luise saß auf der Schaukel, die ich an einen Ast des Apfelbaums gehängt hatte, Martin erzählte von seinen Reisen, seinen Ausgrabungen.

    »Hast du das immer gewusst«, fragte Luise, »dass du Archäologe werden willst?«

    Martin zögerte. Eigentlich, sagte er, hatte er Priester werden wollen. Ich sah ihn erstaunt an, das hörte ich zum ersten Mal.

    »Was ist dazwischengekommen?«, fragte Luise. »Ein Mädchen?«

    Im Schatten unter dem Apfelbaum glühte Martins Zigarette auf.

    »Auch«, sagte er schließlich.

    »Was noch?«

    »Ich habe aufgehört, an Gott zu glauben.« Er drückte die Zigarette aus. »Was ist jetzt mit Essen?«

    Wir setzten uns zum Tisch, ich verteilte das Huhn, das Rotkraut, die Erdäpfel.

    »Und ihr seid miteinander in die Schule gegangen?«, fragte Luise.

    »Erst am Schluss«, sagte ich. Ich sah Martin in die Augen, die waren sehr hell und groß und zornig.

    »Wir haben miteinander maturiert«, sagte Martin. »Wir sind gemeinsam nach Wien gegangen. Paul auf die Schauspielschule, ich habe mit Latein angefangen, bevor ich zur Archäologie gewechselt bin.«

    Wir erzählten Anekdoten, wem wollten wir was vormachen, endlich brach Martin auf.

    »Schau einmal vorbei«, sagte er zu Luise. »Es ist eine Schande, dass du noch nie im Ephesos-Museum warst.«

    Ich brachte ihn zur Tür. Luise klapperte in der Küche mit den Tellern, dem Besteck.

    »Ich habe das nicht gewusst«, sagte ich.

    »Nein«, sagte Martin. »Woher auch.«

    »Du hast nie etwas gesagt.«

    »Was hätte ich sagen sollen? Dass du nicht der Einzige warst, der etwas verloren hat? Als hätte dich das gekümmert.«

    Zehn Schritte von mir zu Luise. »Schlaf mit mir«, sagte ich.

    Ich zog ihr die Jacke aus, ich zog ihr das Shirt über den Kopf. Ich vergrub meinen Kopf an ihrer Brust, wir stolperten durch das Wohnzimmer, fielen auf die Couch. Ein leerer Himmel, eine Kurve in die Luft geschrieben. Am nächsten Morgen brennende Scham.

    »Ich muss ins Theater«, sagte ich, »wenn du noch frühstücken willst.«

    »Es ist Sonntag«, Luises Augen waren groß.

    »Komm mir nicht mit Heulen«, sagte ich, »komm mir nicht so.«

    Die Endproben vor dem Jubiläumswochenende gingen bis in den Abend, bis in die Nacht, parallel dazu liefen die Aufführungen, die Proben für die nächsten Inszenierungen, ich arbeitete am Sturm, da war keine Zeit, Luise zu treffen, keine Zeit, Luise anzurufen. Manchmal dachte ich an Luise und unsere Insel. Je schneller sie es begreift, dachte ich, und dass ich kein Gott der Macht war, das hätte ich ihr gerne gesagt. Dass Schiffe zerschellten, das musste also sein. Wenn ich weit nach Mitternacht in einen unruhigen Schlaf fiel, da war eine Stimme, ein Atem, ein Gesicht, ich tastete nach Luise, ich hatte mich so gewöhnt, so schnell daran gewöhnt, dass sie neben mir war, das war ein Fehler gewesen.

    »Was soll das heißen, es ist schwierig?«

    »Ich bin nicht, was sie braucht.«

    »Und das war’s dann? Du schickst sie fort und suchst dir wieder irgendeine zum Vögeln? Herrgott, Paul!«

    »Es ist wegen Billie.« Ich habe mit Martin nie mehr über Billie geredet, seit ihrem Tod nie mehr. »Es ist alles wieder da.«

    Am Tag vor dem großen Fest läutete ich bei Luise.

    »Ich will mit dir sein«, sagte ich.

    Luise stand im Dämmerschatten ihrer Wohnung. Eine Uhr tickte, Holz knackte, »mach das nicht mit mir«, sagte sie.

    »Du musst mit ihr über Billie reden«, hatte Martin gesagt. »Wenn du es nicht tust, das ist doch wie lügen.«

    Martin, mit seinem naiven Glauben an die befreiende Wirkung der Wahrheit. Martin, der in seinem Gelehrtenleben versank und sein Leben seit Jahren frei hielt von den Abgründen zwischenmenschlicher Beziehungen. Er war bei seinen Steinen und Mauern zu Hause, bei Tonscherben und Glasgefäßen, eine Statue, die dreitausend Jahre alt war, war ihm lebendiger und interessanter als sein Wohnungsnachbar oder eine schöne Frau an einer Bar. Mit der Realität der Außenwelt konfrontiert, blinkte er manchmal wie eine Eule bei Sonnenlicht – was wusste er von der Wahrheit und ihrer verheerenden Wirkung.

    »Wenn du es nicht tust, das ist doch wie lügen.«

    Ich hatte genickt und gewusst, ich würde mit Luise nicht über Billie reden. Dann dachte ich, aber vielleicht hatte er recht. Und vielleicht wäre es möglich, mit Luise über Billie zu reden, vielleicht ging das ja. Mit Billie, weißt du, würde ich sagen, mit Billie, das war so. Sie würde fragen, wer ist Billie und wenn ich an diesem Punkt angelangt war, wusste ich, dass ich mit Luise nicht über Billie reden konnte, mit Luise nicht, mit Martin nicht, mit niemandem.

    Sie kamen alle zum Jubiläumsfest. Die Szene, die neugierig war, die Ministerin und die Staatssekretäre, die Sponsoren und Journalisten, die Neider und die Bewunderer und das ganz normale Publikum, das gekommen war, weil es eine Riesensache war, vier Stücke – Uraufführungen – an einem Tag, zwölf Aufführungen insgesamt von neun bis nach Mitternacht, und am Sonntag das Ganze noch einmal, Diskussionen, Werkstattberichte, ein ständig wechselndes Publikum, das zwischen den Stücken im Foyer beim Gratisbuffet stand, und Luise, Luise war da. Eine Scheu, eine Schüchternheit war bei ihr, und ich hatte ihr doch die Angst nehmen wollen. Martin war da und Marianne, eine Freundin von Luise, Luises Schwestern.

    »Schauspieler!«, sagte Karoline streng.

    »Regisseur«, sagte ich, »hauptsächlich Regisseur.«

    Bettina wollte alle Schauspieler kennenlernen, ich machte mit ihr die Runde, ich kam zu Luise zurück. Olga war mit ihrem Baby da, sie gratulierte zu meinem Stück.

    »Sehr düster«, sie lachte glockenhell. »Privat läuft es hoffentlich besser! Hades im Wohnzimmer! Nicht neu, aber originell gelöst. Die Persephone wäre eine gute Rolle für mich gewesen, warum hast du mich nicht gefragt?«

    »Du warst im Mutterschutz!«

    »Ach, Mutterschutz.«

    Es läutete wieder zur Vorstellung, einführende Worte, das Stück, Applaus, Verbeugungen, Interviews. Luise, die mit Marianne an der Bar stand. Jemand winkte mir von der anderen Seite des Foyers, »komm mit«, sagte ich zu Luise. Wir drängten uns durch die Menge und dann stand dieser Kameramann vor uns. Er war fast einen Kopf größer als ich, von fester, bärenhafter Statur.

    »Paul«, sagte er und senkte die Kamera. Ein bärtiges Gesicht, die Haare auf ein paar Millimeter gestutzt. »Lange nicht gesehen.«

    Ich starrte ihn an. Etwas an seiner Stimme kam mir bekannt vor, etwas an seiner Haltung. Er grinste, er streckte mir die Hand hin, ich schüttelte sie automatisch. Er schüttelte Luise die Hand.

    »Du siehst Billie ähnlich«, sagte er, da wusste ich, wer er war. Er machte die Augen schmal, er fixierte Luise so konzentriert, als gälte es, ein Rätsel zu lösen.

    »Nicht sehr, nicht die Farben, auch sonst nicht, gar nicht eigentlich, aber um die Augen herum ist etwas, die Stirn vielleicht, was sagst du, Paul?«, fragte er, ohne den Blick von Luise zu lösen.

    Luise sah mich an, sie sah Robert an. Robert drehte sich, fassungslos, zu mir.

    »Du hast ihr nicht von Billie erzählt?«

    Ein kalter Regen schlug auf den Gehsteig. Ich hatte Luise hinausgezogen, Wasserschleier sprühten uns ins Gesicht.

    »Wer war das?«, fragte Luise. »Wer ist Billie?«

    Luises Augen, ihre Stirn, und vielleicht hatte Robert ja recht. »Nachher«, sagte ich. »Wir reden nachher.«

    Mein Stück wurde noch einmal aufgeführt, Interviews, Gespräche mit Kollegen, der Ministerin, dem Publikum, Luise trieb am Rand mit.

    »Willst du gehen?«, sagte ich. »Du musst nicht bis zum Schluss bleiben.«

    Sie schüttelte den Kopf.

    Robert, der da und dort auftauchte, im Schlepptau sein Team von Ton- und Lichtmenschen. Das böse Auge seiner Kamera.

    Irgendwann gegen drei waren wir dann bei mir. Ich schenkte uns Wein ein, Luise schob ihr Glas weg, ich sah aus dem Küchenfenster in den Garten, auf die Büsche, die eine Abgrenzung zur Straße waren, auf den Streifen Gras.

    »Billie ist meine Schwester.«

    Im Küchenfenster traf Luises Blick meinen.

    »Du hast eine Schwester?«

    »War meine Schwester. Billie ist tot.« Ich drehte mich um. »Ich kann nicht gut über sie reden.« »Wie …«

    »Nicht«, sagte ich.

    Luise zögerte. »Kann ich was tun, Paul?«

    »Nein. Am besten, du vergisst es wieder.«

    3

    Billie steht am Flussufer, unter der Weide. Der Fluss rauscht, der Fluss glänzt, ein Boot zieht vorbei. Irgendwo summen Bienen.

    »Erzähl mir von ihr«, hat Luise in den Tagen nach dem Fest gesagt. »Wie lange ist es her?«

    Weil sie mein Schweigen nicht verstand und weil sie so unglücklich aussah, sagte ich: »Siebzehn Jahre. Sie ist seit siebzehn Jahren tot.«

    »Wie hat sie ausgesehen?«

    Ich zuckte die Schultern und runzelte die Stirn, als wüsste ich es nicht mehr, als wäre mir Billies Gesicht nicht eingeschrieben.

    »Hat sie dir ähnlich gesehen?«

    »Ja, wahrscheinlich«, sagte ich ungeduldig, »sie hat mir ähnlich gesehen und auch wieder nicht.«

    »Hast du ein Foto von ihr?«

    Ich schüttelte den Kopf.

    »Kein einziges Foto?«

    »Nein«, sagte ich und ging aus dem Zimmer.

    Seit dem Jubiläumsfest war Robert Dauergast am Theater. Für eine Dokumentation würde er einige Monate die Proben, Aufführungen, Publikumsreaktionen, die professionelle Arbeit und die privaten Momente aufzeichnen. Gunter, einer der Chefs, war begeistert von diesem Projekt und von der Werbung, die das bedeuten würde, vom Licht, in das unser Theater gerückt würde. Er sprach von der Auszeichnung, dass die Wahl auf uns gefallen war, von den Möglichkeiten, die sich uns bieten würden, »auch finanzieller Art«, sagte er, als er uns über dieses Projekt informierte. »Alles, was uns von Subventionen unabhängiger macht, können wir nur begrüßen.«

    Wie er sich das dachte, fragte ich. Ob ab jetzt immer Personen von außen dabei sein würden, Kameraleute, Lichtleute, Ton, der Regisseur? Die uns vielleicht noch sagen würden, wie wir zu arbeiten hätten, damit sie gutes Material bekämen?

    »Du weißt so gut wie ich, dass wir den geschützten Raum brauchen.«

    Dass ihm Robert zugesagt habe, mit so wenig personalem und technischem Aufwand wie möglich zu arbeiten. »Er wird unsichtbar sein«, sagte Gunter. »Und wenn ihr ihn gar nicht dabeihaben wollt, dann sagt ihr ihm das. Aber die eine oder andere Probe wird doch wohl möglich sein. Und seit wann redet ihr nicht gerne über eure Arbeit?«

    Später kam Robert dazu. Trotz seiner Größe wirkte er fast schüchtern. Er sprach mit leiser Stimme, bedankte sich für unsere Kooperationsbereitschaft.

    »Anteil nehmen am Haus und an jedem Einzelnen«, sagte er. Respekt und Wertschätzung, das sollte die Dokumentation vermitteln. Respekt und Wertschätzung für die Arbeit aller Theaterleute, der Bühnenarbeiter, der Beleuchter, der Dramaturgen, der Intendanz, Respekt und Wertschätzung für die Arbeit der Regisseure, für die Arbeit der Schauspieler. Dass er dieses Haus als Organismus begreife, dem er sich sehr behutsam annähern wolle. Dass er dankbar sei, dass er sich mit unserer Unterstützung dem Geheimnis der künstlerischen Arbeit annähern dürfe.

    »Die gefährdete Existenz«, sagte er, »die notwendig ist, um in der Wahrheit zu leben.«

    Was, dachte ich zornig, weiß er von gefährdeter Existenz, aber dann fiel mir ein, dass er Billie gekannt hatte, dass er Billie geliebt hatte, das machte mich noch zorniger.

    »Ich will ihn nicht dabeihaben«, sagte ich am Abend zu Martin. »Ich kann ihn nicht ausstehen. Ich konnte ihn noch nie ausstehen. Wenn es eine Person gibt, die ich nie mehr wiedersehen wollte, der ich nie wieder in meinem ganzen Leben begegnen wollte, dann ist es Robert!«

    »Es könnte aber doch sein«, sagte Martin, sehr vorsichtig, »dass er sich geändert hat. Wir sind doch alle nicht mehr die, die wir einmal waren. Es kann sich doch auch Robert geändert haben, oder nicht?«

    »Und das glaubst du?«, fuhr ich ihn an. »Ehrlich?«

    Etwas flackerte über Martins Gesicht. »Du musst ja nicht mit ihm arbeiten«, sagte er schroff. »Es kann dich ja keiner zwingen.«

    »Nein«, sagte ich, »zwingen kann mich keiner.«

    Wenn ich damit gerechnet hatte, dass sich Robert an meine Fersen heften würde, dass er die Karte unserer früheren Bekanntschaft ausspielen würde, dann hatte ich mich geirrt. In den folgenden Wochen sah ich ihn mit vielen Kollegen und Kolleginnen reden, ich hörte von den Gesprächen, die er mit ihnen geführt hatte, »sehr angenehm«, sagten die Kollegen, »feinfühlig«, »mit Sachverstand und einer großen Liebe zum Theater.«

    Ich lief ihm manchmal im Haus über den Weg, dann nickte er mir zu, er versuchte nie, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich sah ihn im Café ums Eck mit Schauspielern sitzen, mit Bühnenarbeitern, mit Garderobieren, manchmal trafen sich unsere Blicke, er sah immer als Erster weg. Er war bei anderen Inszenierungen in den Proben gewesen, nicht bei mir – ich hätte froh sein sollen, dass ich nicht gezwungen war, mich mit ihm auseinanderzusetzen, aber je länger dieser Zustand andauerte, desto eigenartiger erschien er mir.

    Es gab keinen Grund, sagte ich mir schließlich, warum ich nicht mit ihm reden sollte. Vielleicht war da auch eine Spur gekränkter Eigenliebe – mit allen redete er, nur nicht mit mir? Und vielleicht, gestand ich mir irgendwann ein, war ich sogar ein wenig neugierig auf diesen Robert, der mir aus dem Weg ging und der es nicht über sich brachte, mich offen anzusehen.

    Manchmal, wenn ich neben Luise durch die Stadt ging, durch die Parks, durch ein Museum schlenderte, manchmal,

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