Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Haus am Atlantik: Ein Kriminalroman
Das Haus am Atlantik: Ein Kriminalroman
Das Haus am Atlantik: Ein Kriminalroman
eBook328 Seiten4 Stunden

Das Haus am Atlantik: Ein Kriminalroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach einer gescheiterten Ehe sucht Vera ihr Glück an der sonnigen Atlantikküste in Portugal. In der portugiesischen Urlaubswelt nimmt sie einen Job als Gästebetreuerin an. Als die Putzfrau Angelica auf mysteriöse Weise verschwindet und die Polizei das Verschwinden auf die leichte Schulter nimmt, recherchiert Vera auf eigene Faust und findet sich unversehens im Kampf mit international agierenden Banden der organisierten Kriminalität wieder.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Jan. 2013
ISBN9783844246834
Das Haus am Atlantik: Ein Kriminalroman

Ähnlich wie Das Haus am Atlantik

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Das Haus am Atlantik

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Haus am Atlantik - Alexandra de Wall

    Alexandra de Wall

    DAS HAUS AM ATLANTIK

    Ein Kriminalroman

    Imprint

    Das Haus am Atlantik

    Alexandra de Wall

    published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

    EBook-Produktion: www.diPub.de

    Copyright: © 2013 Alexandra de Wall

    alexandra.de.wall@t-online.de

    ISBN 978-3-8442-4683-4

    1

    Die einsetzende Dunkelheit löste Panik bei ihr aus. Der Mond zog sich zurück und verschwand allmählich hinter den dichten Wolken. Es wurde eine stockfinstere Nacht. Wie sollte man jemanden in dieser Nacht finden? Diese undurchdringliche Dunkelheit. Und Lukas war immer noch nicht zu Hause.

    „Lukas!. „Luuukas!

    Er war ein so zuverlässiger Junge. Aber warum gerade heute Abend nicht? Eine tiefe Verzweiflung kam über Sylvia. Sie lief durch den Park. Jeden Strauch empfand sie als Bedrohung, als heimliches Versteck, das ihren Lukas festhielt. Die Bäume, die im Sommer grün die Wege säumten, stellten sich ihr jetzt als dunkle Kraken mit kräftigen ausgestreckten Armen in den Weg und verbündeten sich gegen sie. Sie hatten sich Lukas genommen, das Liebste, was sie hatte, und verdarben ihr zudem diesen Abend, auf den sie sich seit Tagen gefreut hatte. Sylvia dachte an ihre Verabredung. Gerade an diesem Abend hatte sie nach sehr langer Zeit einmal wieder eine Verabredung. Sie traute sich, und ein Mann traute sich auch. Es war für sie eine seltene Gelegenheit geworden, mit einem Mann essen zu gehen. Die Männer zögerten, sie einzuladen, und Sylvia ahnte den Grund: Sie hatten Angst vor einer festen Bindung. Nicht im allgemeinen, doch in ihrem Fall. Wer wollte schon eine Frau mit Kind? Die meisten wollten gar kein Kind. Immer weniger konnten sich Männer ein Leben mit Kindern vorstellen. Und wenn, dann wollten sie eigene Kinder haben. Oder hatten eigene Kinder aus früheren Beziehungen. Doch sie liebte Lukas mehr als irgendeinen Mann von irgendwo. Er war ihr Kind. Und nun war es weg.

    Während sie lief und verzweifelt nach Lukas Ausschau hielt, kam ihr jener eitle Kerl in den Sinn, der ein Kind von ihr wollte, ein eigenes Kind. Es reize ihn, ein menschliches Wesen selber zu schaffen, hatte er ihr immer wieder ins Ohr geraunt. Das sei ihm so viel wert, dass er dafür sogar die schönsten Jahre seines Lebens opfern würde. Sylvia schauderte, als sie an diesen Mann dachte. Sie hatte ihm den Laufpass gegeben und sich seither von Männern ferngehalten. Solche Väter kamen für Lukas nicht in Frage.

    Früher, als sie noch jünger und ohne Kind war, hatte sie sich nicht so wählerisch gezeigt. Lukas war der schöne Beweis. Doch jetzt in ihrem Alter war sie es. Und die etwa gleichaltrigen Männer waren es auch. Wie sollte daraus jemals ein Paar werden? Ein Geräusch, ein Knacken der Äste riss sie aus ihren Gedanken. Lukas? Sylvia rief wieder und wieder seinen Namen. Doch er rührte sich nicht, blieb in der Dunkelheit gefangen.

    Sollte sie zur Polizei gehen? Nein, lieber noch einmal bei ihren Eltern anrufen. Vielleicht hatte er sich mittlerweile bei ihnen gemeldet. Oder bei ihrer Freundin? Vielleicht war er auch schon zu Hause. Sie lief mit weit ausholenden schnellen Schritten zurück, als könnte sie das Wiedersehen mit ihrem Sohn verpassen. Ihre Wohnung war nicht weit. Sie lag am Park, der Lukas zum Spielplatz wurde. Er kannte sich darum aus. Es war unmöglich, dass er sich verlaufen hatte. Doch nicht mehr mit fünf! Mit drei Jahren hatte er den Park schon gekannt wie seine Westentasche. Dummes Bild, ging es ihr durch den Kopf. Er hatte gar keine Weste, also auch keine Westentasche. Aber eine Uhr hatte er. Darum war er auch immer so pünktlich. Es war seine Art, ihr zu zeigen, dass er schon groß genug war, die Uhr lesen zu können. Stolz bewies er es durch seine Pünktlichkeit.

    Sie schloss die Wohnungstür auf und rief: „Lukas!" Doch er antwortete nicht. Sie rannte in sein Zimmer. Aber es war leer.

    „Mutti, ich bin es noch mal. Hat er sich bei euch gemeldet?"

    „Nein, Sylvia, mein Kind. Ruf die Polizei. Hat doch keinen Sinn, die ganze Nacht alleine zu suchen. Oder sollen wir die Polizei anrufen? Schließlich kam er von uns und ist bei dir nicht angekommen."

    „Nein, ich mach das schon", sagte sie erschöpft und legte den Hörer auf.

    „Christine, ist er bei dir? Hat er sich bei dir gemeldet?"

    „Nein. Tut mir so Leid. Geh zur Polizei. Die haben mit solchen Fällen doch Erfahrung."

    Sylvia war erschöpft. Ihr graute es vor den vorwurfsvollen Blicken eines Polizeibeamten. Alleinerziehende Mutter? Ach so. Sie hatten wohl keine Zeit, auf ihr Kind aufzupassen? Alles Familienväter mit Ehefrauen und Kindern zu Hause! Sie würden bei ihr an der Stelle bohren, an der sie am verwundbarsten war - an ihrem ständigen schlechten Gewissen, nicht genug Zeit für das Kind zu haben.

    Eine Polizeidienststelle war gleich um die Ecke. Sie sollte hingehen. Im Park hatte sie gefroren. Die Nächte waren kalt. Ob Lukas auch fror? Bei diesem Gedanken lief ihr ein Kälteschauer über den Rücken, und sie zitterte. Schnell zog sie ihren Mantel an, riss die Wohnungstür auf und lief eiligen Schrittes hinaus. Mit der Eile wollte sie ihre Entschlossenheit bekräftigen und kein weiteres Zögern zulassen. Sie ging zur Polizei. Die Kälte hatte ihre Angst vor den kritischen Blicken der uniformierten Beamten in einen regungslosen Eisblock verwandelt.

    „Das kommt in den besten Familien vor. Machen Sie sich keine Sorgen. Vielleicht ist er nur ausgerissen."

    Der Mann war ein netter Polizeibeamter. Das beruhigte sie. Aber er nahm es zu leicht. Das sorgte sie.

    „Er ist doch erst fünf! Da reißt man noch nicht aus. Das machen Vierzehnjährige. Verstehen Sie? Fünfjährige können sich verlaufen. Fünfjährige vergessen beim Spielen die Zeit. Meiner allerdings nicht. Fünfjährige werden....."

    Ihr stockte der Atem. Sie konnte es nicht aussprechen, was ihr in den Sinn kam.

    „Wo ist denn der Vater?", fragte der Polizist.

    „Nicht da. Er hat sich nie um das Kind gekümmert. Gezahlt hat er auch nur sporadisch und immer spärlich."

    „Hatte der Vater keine Besuchszeiten?"

    „Er wohnt nicht in Deutschland. Regelmäßige Besuchszeiten wären zu kompliziert für ihn. Manchmal haben seine Eltern, also die Großeltern väterlicherseits, ihn für eine Woche abgeholt. Dann hat er ihn manchmal auch gesehen. Manchmal. Ihm liegt nicht viel an dem Kind. Aber was soll das mit dem Vater? Mein Kind ist weg", regte sie sich auf.

    Dieser nette Beamte war wie alle anderen, dachte sie enttäuscht. Er redete über den fehlenden Vater, anstatt nach ihrem Sohn zu suchen.

    „Manchmal, liebe Frau, entführen auch die Väter ihre Kinder. Hat es alles schon gegeben. Aber ich will Ihnen keine Angst machen", sagte der uniformierte Mann in aller Ruhe.

    „Er nicht. Er konnte das Kind immer sehen. Aber er hatte kein Interesse. Was wollen Sie jetzt unternehmen?"

    „Dann nehme ich erst einmal Ihre Personalien auf. Sie gehen dann nach Hause. Haben Sie übrigens ein Bild von dem Kind dabei? Das könnten wir den Nachtstreifen schon mal geben. Ansonsten muss der Diensthabende morgen früh entscheiden, ob wir eine Großfahndung einleiten."

    „Warum erst morgen früh?"

    „Meine Dame, liebe Frau, Sie glauben gar nicht, wie viele solcher Fälle sich in der Nacht erledigen, weil der Entlaufende plötzlich irgendwo aufgetaucht ist. Bei Freunden übernachtet usw. Sie wissen schon."

    „Aber doch nicht mit fünf. Da würden die Eltern des Freundes doch Bescheid geben", empörte sie sich.

    Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Bild, das sie extra für die Polizei eingesteckt hatte. Sie hatte dieses Bild ausgewählt, weil Lukas darauf so natürlich lachte. Hoffentlich konnte er im Moment noch lachen. Ihr wurde übel.

    „Haben Sie bitte ein Glas Wasser?", fragte sie hilfesuchend.

    Der Polizeibeamte ging zum Kühlschrank und brachte ihr Mineralwasser.

    „Hoffentlich können Sie aus der Flasche trinken. Unsere paar Gläser sind nämlich alle schmutzig. Sie können sich gar nicht vorstellen, welcher Trubel manchmal nachts auf so einer Polizeidienststelle herrscht. Und wir sind chronisch unterbesetzt."

    Sie hinterließ ihre Personalien und wurde mit dem Hinweis, sich sofort zu melden, falls das Kind wieder auftauche, nach Hause geschickt.

    Als sie ihre Wohnung aufschloss, hoffte sie, dass der Beamte recht hatte, und Lukas war wieder zu Hause. Sie rief nach seinem Namen. Aber es antwortete niemand.

    Sie nahm das Telefon und führte ein Gespräch nach dem anderen. Jeder auch noch so kleinen Möglichkeit, wo er sich aufhalten könnte, ging sie nach. Alle bedauerten und ließen sie in ihrer Sorge allein.

    Ihr Vater empörte sich über das Verhalten der Polizei und drohte, die nächsthöhere Dienststelle einzuschalten, wenn die nicht sofort die Suche nach seinem Enkel aufnähmen. Der Mutter gelang es, ihn zu beruhigen.

    Ihre Freundin bot sich an, die Nacht mit ihr zu verbringen, damit sie nicht so allein sei. Aber sie lehnte ab.

    Sie saß auf dem Sofa, wartete und wartete. Das Telefon fest im Blick. In ihrer Fantasie liefen die schlimmsten Szenen ab. Sie sah seine Leiche. Die Gerichtsmedizin fand heraus, dass er schwer sexuell missbraucht worden war. Sie erhielt einen Anruf. Horrende Lösegeldforderungen kamen auf sie zu. Sie hatte das Geld nicht, und die Polizei sollte nicht informiert werden. Schließlich schlief sie ein.

    Am nächsten Tag wurde die Großfahndung eingeleitet.

    2

    Gegen Abend ging Vera an die felsige Steilküste, wie sie es gestern getan hatte und vorgestern, fast jeden Tag, seit sie in Portugal war. Sie ließ ihren Blick in die Ferne schweifen auf das offene Meer. Zu gerne würde sie ihre Vergangenheit in dieses Meer werfen. Die riesigen Wellen des Atlantiks würden sie mitnehmen bis hinter den Horizont. Sie wollte vergessen - für immer. Doch dieser Gedanke machte ihr auch Angst, Angst vor der Zukunft. Was für ein Mensch würde man sein, wenn man alles Alte vergessen hätte, Neues aber noch nicht da wäre? Dann hätte man keine Vergangenheit mehr, aber auch noch keine Zukunft. Dieser Zustand wäre das totale Nichts. Unsinn, Vera, berichtigte sie ihre Gedanken, das wäre nicht das Nichts; das wäre schlicht die Gegenwart. Eben, stöhnte sie, aber was sollte aus dieser, ihrer Gegenwart werden. Um dieses zu erfahren, brauchte man einen Blick in die Zukunft.

    Es quälte sie, nicht zu wissen, was werden sollte. Voller Sehnsucht schaute sie aufs Meer, ohne überhaupt zu ahnen, was sie ersehnte. Wie oft hatte sie mit ihrem Blick die kleinen Segelboote fixiert und deren Besatzungen angefleht, sie mitzunehmen. Doch die spielten mit dem Wind und nahmen keine Notiz von ihr. Sie blieb allein auf dem Felsen. Die Segler sprachen nicht mit ihr, wie auch er nicht mit ihr gesprochen hatte. Zum wievielten Mal in ihrer Ehe war es schon so gewesen. Und immer endete sein Dauerschweigen mit ihrer demütigen Entschuldigung, sie habe den Streit nicht gewollt. Sie entschuldigte sich, auch wenn sie sich keiner Schuld bewusst war. Er hatte sich nie entschuldigt.

    „Bom dia". Der große Mann mit seinen drei Hunden kam vorbei. Er grüßte sie immer so freundlich, wenn sie sich auf dem Felsen trafen. Von allen war er ihr am vertrautesten, obwohl sie außer einem Gruß bisher kein Wort gewechselt hatten. Gleiche Gewohnheiten verbänden, dachte sie, als sie den tollenden Hunden nachschaute. Er kam wie sie regelmäßig an die Steilküste. Sie schienen die gleichen Gewohnheiten zu haben, und schon war er ihr vertraut. Vielleicht hatte es daran gefehlt, an den gleichen Gewohnheiten in ihrer über dreißigjährigen Ehe. Er liebte seine Arbeit, und sie hatte ihre drei Kinder groß gezogen. Nur die Kinder waren ihre gleiche Gewohnheit gewesen. Er hatte sich um sie gesorgt wie sie, nur auf seine Weise. Erwachsene Kinder brauchten die tägliche Sorge nicht mehr. Mit ihnen war auch die gleiche Gewohnheit aus dem Haus gegangen. Und dann war sie gegangen.

    Wieder spürte Vera diese entsetzliche Leere, beugte sich vor und sah die hohe Felswand hinunter auf das rauschende Wasser. Wie viele Meter mochten es sein? Zwanzig? Vierzig? In jedem Fall hoch genug, um sich hier das Leben nehmen zu können. Sie wäre nicht die erste, der diese Gedanken kamen. So mancher aus den nordeuropäischen Ländern hatte diese Felsenküste der Algarve für seinen Selbstmord genutzt. Sie schien zu einem Sprung in die Tiefe zu reizen. Nein, darum war sie nicht hierher gekommen. Sie wollte ihr Leben nicht beenden, sondern ein neues beginnen.

    „Jetzt reicht`s! Das waren seine letzten Worte zu ihr gewesen. Seit Tagen hatte er nichts mehr zu ihr gesagt. Gerade war er wieder hereingekommen und gleich in sein Arbeitszimmer gegangen. Sie hatte im Wohnzimmer gesessen und keine Aktentasche gehört, die er üblicherweise laut in den Flur schmiss, auch kein nettes oder auch weniger nettes „Guten Abend, schon gar nicht ein „Wie war der Tag, mein Schatz?" Seitdem die Kinder aus dem Haus waren und ihr Einsatz als Kinderfrau nicht mehr gebraucht wurde, schien sie für ihn nur noch eine außergewöhnliche Belastung zu sein, die zudem noch Sonderausgaben machte. Wahrscheinlich hatte er auch schon geplant, sie als solche beim Finanzamt abzusetzen. Die schmutzigen Socken, die ständig im Wohnzimmer herumlagen, und die ungebügelten Hemden hätte sie der Steuererklärung dann hinzugefügt. Ihre Ehe war eine reine Gewinn- und Verlustrechnung geworden. Saubere Socken gegen die außergewöhnlichen Belastungen.

    Dabei hatte alles anders angefangen. Sie hatte ihr Studium an der Fachhochschule gerade abgeschlossen, als ihr Sohn geboren wurde. Sie war 24 Jahre alt. Eigentlich noch zu jung, um ein Leben als Mutter zu beginnen und, wie es schien, auch zu beenden. Wie hatte er gebettelt, dass sie sich seinem Kind widmen solle, weil er es so ungern in fremde Hände geben wolle. Kindererziehung sei schließlich die wichtigste Tätigkeit auf der Welt. Ewig wollte er ihr dafür dankbar sein. Von einem glücklichen Familienleben bis ans Lebensende hatte er geredet. Ehrlicherweise musste sie zugeben, dass ihr das alles damals auch gefallen hatte. Und es hatte ihr auch zwanzig Jahre gut gefallen - bis auf seine immer wiederkehrenden schweigsamen Stunden, wenn es Streit gegeben hatte. Aus den Stunden waren dann Tage geworden, auch Wochen. Jetzt hatte sie dafür gesorgt, dass es schweigsame Jahre, vielleicht Jahrzehnte werden würden.

    „Sie sind ja noch immer da. Haben Sie heute ein bisschen mehr Zeit mitgebracht?"

    Es war der große Mann mit seinen drei Hunden, der von seiner Tour zurückkam. Durch seine Ansprache fühlten sich die drei Hunde animiert, auf sie zuzuspringen. Sie hatte Probleme, sich der beginnenden Liebkosungen zu erwehren.

    „Dorint, Pestana, Vila Vita, aus!" Energisch pfiff er seine Hunde zurück und lachte.

    „Übrigens, ich bin Robert".

    Er streckte ihr seine Hand entgegen.

    „Ich heiße Vera, sagte sie und erwiderte seinen festen Händedruck. „Ungewöhnliche Namen haben Ihre Hunde.

    „Es sind alles Findelkinder. Irgendwelche portugiesischen Mischlinge, die kein Zuhause mehr hatten. Ich habe ihnen eine neue Herberge gegeben. Was liegt da näher, als ihnen Hotelnamen zu geben."

    „Auch eine Idee", meinte Vera und merkte, dass sie nach langer Zeit einmal wieder lächelte.

    „Machen Sie Urlaub in der Algarve?", fragte er.

    Jetzt beginnt er mit dem krampfhaften small-talk, dachte Vera. Wenn sie jetzt seine Frage bejahte, würde er als nächstes wissen wollen, ob es ihr gefalle oder ob sie das erste Mal in Portugal sei.

    „Ich weiß nicht, ob man das, was ich zur Zeit mache oder auch nicht mache, Urlaub nennen kann", meinte Vera.

    „Sie sind das erste Mal in Portugal?", fragte Robert.

    Mein Gott, dachte sie, eigentlich fand sie ihn ganz nett, aber der Mann bestand nur aus Standards. Diese Frage passte doch gar nicht zu dem, was sie gesagt hatte.

    „Wieso wollen Sie das wissen?", erwiderte Vera fragend und ein wenig genervt.

    Robert schaute sie an. Man sah ihm an, dass Vera ihn verunsicherte.

    „Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich wollte schon gar nicht lästig sein. Wenn es beliebt, dann mache ich mich jetzt von dannen."

    Das war nun wieder sympathisch, dachte Vera. Er hatte begriffen, dass er ihr nicht so dumm kommen konnte. Wenn sie nur wüsste, was sie wollte. Sollte er bleiben oder nicht?

    „Ich wollte nicht unfreundlich sein, sagte sie. „Um ehrlich zu sein. Eigentlich weiß ich nicht, was ich will. Mit Ihnen hat es nichts zu tun.

    Vera sah ihn fragend an. Ihre Blicke trafen sich, verunsicherte und verunsichernde Blicke.

    „Ich glaube, wir haben ein Stück gemeinsamen Weges. Lassen Sie uns doch einfach weitergehen und ein bisschen reden", schlug Robert vor.

    Vera nickte, und sie setzten sich in Bewegung. Dorint, Pestana und Vila Vita schien das recht zu sein. Sie sprangen auf und rannten schon einmal voraus. Robert und Vera schwiegen. Er wollte doch reden, aber schon wieder war da einer, der schwieg, dachte Vera.

    „Müssen Männer denn immer schweigen, wenn es kritisch wird?", fragte sie.

    „Versteh Sie nicht. Was meinen Sie damit? Wenn es kritisch wird? Was ist denn im Moment kritisch?", antwortete Robert erstaunt.

    Vera spürte, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie fühlte sich unwohl und sah unauffällig zu Robert hinüber. Der schaute gerade aus und schien ihre plötzliche Unsicherheit nicht zu bemerken. Es war eben lange her, dass sie als Single, eben nicht als Frau eines anderen, einem Mann begegnete.

    „Gehören Sie auch zu den Männern, die meinen, Frauen könnten auch das Normalste auf der Welt zum Problem machen und zerquatschen?", fragte Vera keck.

    Robert lachte und unterbrach seinen ansonsten strammen Gang. Vera schaute ihn an. Sein lachendes Gesicht. Die braune Gesichtsfarbe. Eigentlich ein schöner Mann, dachte Vera und fing auch an zu lachen.

    „Sie haben recht. Im Grunde ist nichts kritisch. Ist sogar sehr nett hier oben auf dem Felsen. Der Wind ist frisch. Die Sonne noch warm. Frühling in der Algarve ist doch sehr angenehm", sagte Vera.

    „So gefallen Sie mir schon besser, antwortete Robert. „Vergessen Sie den Alltag und lassen Sie die wunderschöne Natur, das Blaue des Meeres und sein Rauschen, die Sonne, die gelben Blumen, die derb-grünen Sträucher einfach auf sich wirken. Würde man all das malen, es wäre sicher ein Bild voller Kitsch. Nur ein wahrer Künstler könnte diese von allem ausgehende Stimmung naturnah einfangen, ohne farbliche Übertreibung. Aber wer ist schon ein wahrer Künstler?

    „Es gefällt mir, was Sie da sagen. Und es scheint Wirkung zu haben, wenn Sie das wollten. Ich fange an, diese wunderbare Umgebung zu genießen", sagte Vera lachend.

    Robert pfiff nach seinen drei Hunden, die sich zu weit entfernt hatten. Das Herumstehen und Reden der beiden schien sie zu langweilen. Dorint, Pestana und Vila Vita gehorchten und kamen freudig zu ihrem Herrchen zurück.

    „Die gehorchen aber gut", bemerkte Vera anerkennend.

    „Ich kann nur jedem raten, sich streunende Hunde zuzulegen und ihnen ein schönes Zuhause zu geben. Wer ein unglückliches Leben kennt, ist schon für ein Quäntchen Glück dankbar und wird alles dran setzen, es zu erhalten. Hunde wie diese drei sind dankbar, dass sie ihrem miesen Leben entkommen sind. Und weil ich der Wohltäter war, lieben sie mich und wollen mich nicht verärgern. Also gehorchen sie lieber", erläuterte Robert das Verhalten seiner drei Begleiter.

    Bei dieser Charakterisierung der drei Hunde ging Vera ein Stich durchs Herz. Irgendwie fühlte sie sich ertappt. War sie nicht auch wie die streunenden Hunde mit einem miesen Leben auf der Suche nach einem Quäntchen Glück? Schnell verdrängte sie diesen Gedanken und versuchte, Fassung zu bewahren.

    „Ach, so ist das: eine scheinbar gute Tat, aber eigentlich reiner Egoismus. Mit Fürsorge gekaufte Anhänglichkeit. Haben Sie auch ansonsten ein Helfersyndrom?", fragte Vera kess.

    „Helfersyndrom? Überhaupt nicht. In meinem Leben habe ich mich wohl eher von meinem Egoismus leiten lassen. Da haben Sie leider einen wunden Punkt von mir angesprochen. Das gestehe ich gerne ein. Doch hier in der Algarve sehe ich vieles anders. Es lebt sich einfach leichter."

    Der gemeinsame Spaziergang war bald beendet. Sie steuerten auf einen kleinen roten Kastenwagen zu. Ideal für Hunde, dachte Vera. Das würde sicherlich sein Auto sein.

    „Soll ich Sie irgendwohin mitnehmen?", fragte Robert, während seine Hunde hinten in den Kasten des Autos sprangen.

    „Nein, danke. Ich laufe den Rest des Weges gerne noch."

    „Wie Sie wollen. Haben Sie Lust, heute Abend mit mir zu essen?"

    „Ich denke, wir sehen uns morgen beim Spaziergang wieder. Heute Abend habe ich leider schon etwas vor", antwortete Vera.

    „Schade. Nun, dann bis morgen", sagte Robert und gab ihr zum Abschied seine Hand.

    „Bis morgen", erwiderte Vera mit einem festen Händedruck.

    Robert stieg in sein Auto und fuhr den holprigen Sandweg entlang zur Straße. Vera schaute ihm nach und fragte sich, warum sie seine Einladung zum Essen nicht angenommen hatte. Was sollte sie schon vorhaben? Sie kannte niemanden und hätte sich gerne noch länger mit ihm unterhalten. Jetzt war sie schon über fünfzig und spielte immer noch das gleiche Spiel wie mit sechzehn. Ein wenig zieren, ihn ein wenig zappeln lassen. Die Oberhand behalten. Ihrer Tochter wäre so ein Verhalten nie eingefallen. Sie hätte kurz überlegt, ob sie mit ihm essen wolle oder nicht, und sich dementsprechend entschieden. Mit ihrer schnörkellosen Art hätte sie sich einfach so verhalten, wie sie wollte. Mutters Verklemmtheit wäre ihr fremd gewesen.

    Vera schüttelte den Kopf. Nein, dachte sie, die drei Hunde waren es, die sie zögern ließen. Vera wollte nicht wie sie nach dem ersten besten Strohhalm greifen und sich an ihm in ein neues Leben ziehen. Wieder schüttelte Vera den Kopf. Sie stand sich sogar im Weg, wenn sie noch nicht einmal wusste, wohin ihr Weg sie führte. Aber ihre Tochter hatte auch keine dreißig Jahre Ehe hinter sich. Sie war noch selbständig. Und sie würde auch selbständig bleiben. Da war sich Vera sicher und überlegte, was aus ihrer Art zu leben wohl werden würde. Ihr Frauenleben würde irgendwann auch einen Platz in den Geschichtsbüchern finden. Über die Frauen im Mittelalter wusste man schließlich auch einiges. Nur dass die Geschichte der Neuzeit nicht nur von Männern, sondern in Zukunft auch von Frauen geschrieben werden würde. Ob sie in der Geschichtsschreibung durch Frauen besser wegkäme, fragte sich Vera. Eigentlich zweifelte Vera nicht daran, dass ihre Rolle als Mutter zeitlos mit rührenden Worten dargestellt werden würde. Schließlich hatte man sie nicht gewaltsam ans Haus gefesselt, sondern sie hatte sich freiwillig und gern in den Dienst der Familie gestellt. Die Rolle der treusorgenden Mutter würde auch in Zukunft geschätzt werden, auch von der Wissenschaft. Die Rolle ja, aber würde man auch die Frau schätzen, die die Rolle übernommen hatte? Vera kamen Zweifel. Wahrscheinlich genügte die Rolle, die die Mütter gespielt hatten. Ob es sich um Gertrud, Susanne oder auch Vera handelte, war im geschichtlichen Rückblick wohl weniger wichtig, auch wenn sie noch so gute Erziehungsarbeit geleistet hatten und ihre Kinder ihren Weg erfolgreich gingen. Namentlich würden nur jene in den Büchern festgehalten werden, die in ihrem außerhäuslichen Beruf Hervorragendes geleistet hatten. Also die Väter. Bei diesem Gedanken packte Vera die Wut. Im Grunde hatte sie nur das Frauenleben des Mittelalters in die Neuzeit fortgeschrieben, dachte sie. Aber war das Frauenleben im Mittelalter überhaupt so gewesen, wie man es lesen konnte?

    Während sie sich dem Dorf näherte, in dem sie sich ein kleines Apartment gemietet hatte, fielen ihr die Hexen ein. Sie war erst vierundfünfzig. Warum nicht noch umsteigen in eine andere Rolle? Es musste doch nicht immer die unschuldige Maria sein. Die Eva mit ihrem Auszug aus dem Paradies hatte auch ihren Reiz. Der Gedanke amüsierte sie. Vielleicht schaffte sie es noch in die Schlagzeilen der Boulevardzeitungen: „Vera, die Hexe, wurde nach einer langen Hexenjagd auf dem Scheiterhaufen verbrannt".

    In der Rua Barranco betrat sie einen Zeitschriftenladen. An den Tageszeitungen vorbei ging sie zu der Wand, an der die Zeitschriften lagen. Ihr war nach BRIGITTE, BUNTE oder Ähnlichem. Die vielen Presseprodukte erschlugen sie, als sie sah, wie viele Blätter gekauft werden wollten. Wie sollte man sich da entscheiden? Hier gab es nicht nur deutsche, sondern auch portugiesische, englische,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1