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Das Mädchen Ida: Seelenfeuer
Das Mädchen Ida: Seelenfeuer
Das Mädchen Ida: Seelenfeuer
eBook335 Seiten4 Stunden

Das Mädchen Ida: Seelenfeuer

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Über dieses E-Book

Anfang der fünfziger Jahre taucht ein pädophiler junger Mann in einem kleinen Dorf auf. Er schließt Freundschaft mit der 8-jährigen Ida und deren Mutter, einer Kriegerwitwe, die sich schließlich in ihn verliebt und von einer gemeinsamen Zukunft träumt. Doch er ist nur an Ida interessiert. Er gewinnt bald darauf ihr volles Vertrauen, zumal die Mutter täglich arbeitet und Ida oft allein ist. Während er das Kind eines Tages sexuell missbraucht, wird er von der Mutter überrascht. Um sein Verbrechen zu vertuschen, tötet er die Frau, während Ida flüchtet.
Idas Leben wird durch das erlittene Trauma geprägt. Sie schafft es nicht, ein normales Leben zu führen. Allmählich wird aus dem einstigen schönen Mädchen eine ungepflegte zur Körperfülle neigenden Frau.
Sie wird zur Diebin, Prostituierten und Alkoholikerin. Am Ende leidet sie unter Wahnvorstellungen, die darin gipfeln, dass sie ihr neugeborenes Kind und den vermeintlichen Mörder ihrer Mutter tötet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum22. Feb. 2013
ISBN9783847629344
Das Mädchen Ida: Seelenfeuer

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    Buchvorschau

    Das Mädchen Ida - Maya Khoury

    Ein totes Mädchen

        10. Juni 1951

    Ein heftiger Nordwind tobte an jenem Sonntagmorgen im Juni 1951 über die bleigraue Nordsee. Der böige Wind zerrte neckisch an dem roten Kleid des Mädchens, das wie schlafend im Gras hinter dem Deich lag. Sonst regte sich nichts. Kein Laut ging von dem Mädchen aus.

    Aus der Ferne scholl lautes Stimmengewirr über den Deich. Trotz der sonntäglichen Frühe waren schon einige halbwüchsige Jungen unterwegs.

    Wenig später erblickten sie von weitem ein im Gras liegende Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Es trug ein rotes Kleid. Die Jungen näherten sich ihm neugierig, aber auch ein wenig ängstlich. Langsam begriffen sie, dass das Kind tot war. Sie rannten panisch davon, zurück ins Dorf, zur nächsten Polizeistation.

    Kommissar Jansen hatte sich gerade angezogen, als Polizeiwachtmeister Dirks an seiner Wohnungstür klingelte. Er ahnte das Unheil schon vor dem Eintreten des unliebsamen „Besuchers": Ein Einsatz stand ihm bevor! Wer sonst sollte um diese Zeit klingeln?

    Und das am Sonntagmorgen. In jenen Augenblicken fragte er sich immer, warum er nicht einen anderen Beruf gewählt hatte.

    Er hatte sich heute Morgen wie jeden zweiten Sonntag um halb zehn zum Frühschoppen mit einigen seiner Kollegen verabredet. Das konnte er nun wohl vergessen.

    „Was ist passiert?" fragte seine Frau, den Kopf voller Lockenwickler und gekleidet in einem blau-rotkarierten Morgenrock. Sie kam aus der Küche und hielt eine Teekanne aus weißem Porzellan in der Hand.

    „Wahrscheinlich ein Mord," erwiderte ihr Mann kurz angebunden. Er wollte jetzt nicht darüber reden.

    „Am Sonntag?" staunte sie, als ob die Verbrechen nur alltags stattfänden und Feiertage ausgeklammert seien.

    „Ich werde vielleicht mittags wieder hier sein," sagte Kommissar Jansen schlecht gelaunt und nicht auf ihre letzte Frage eingehend.

    Als die beiden Polizisten am Tatort eintrafen, war der Strand nicht mehr so menschenleer. Eine Handvoll Neugieriger hatte sich in angemessenem Abstand vor dem toten Kind gruppiert. Leise und angeregt unterhielten sie sich, als wollten sie die Totenruhe nicht stören.

    Die beiden Polizeibeamten standen schweigend vor dem Leichnam und blickten auf das tote Mädchen in dem leuchtend roten Kleid.

    Kommissar Jansens schlechte Laune war augenblicklich einer melancholischen Stimmung gewichen, als er sich das kurze Leben des Kindes vor Augen hielt. Sein Leben hatte doch noch nicht einmal richtig begonnen.

    Ausweispapiere oder Spuren, die über die Identität des Kindes Aufschluss geben konnten, wurden nicht gefunden, auch nicht in mittelbarer Nähe des Fundortes. Man würde wohl noch einmal gründlich suchen müssen.

    Kommissar Jansen machte sich in einem kleinen Heft Notizen. Der Leichnam des Kindes, dessen Alter man auf etwa acht Jahre schätzte, wurde später in die Pathologie des Städtischen Krankenhauses überführt. Dort würde man sie untersuchen, um die Todesursache festzustellen, die hoffentlich in ein paar Tagen vorlag.

    Der Kommissar befragte einige der Umstehenden, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches im Zusammenhang mit dem toten Kind beobachtet hatten.

    Unter den Leuten befand sich auch ein geistesgestörter Junge von etwa fünfzehn Jahren. Hinter vorgehaltener Hand nannte man ihn nur den „Bekloppten. Er hieß Jens und war der Sohn von den Meiers aus dem Dorf. Jens versuchte verzweifelt, sich bemerkbar zu machen. Die Umstehenden beachteten sein hektisches Gebaren jedoch nicht. Kein Mensch nahm ihn ernst. Das kannte er schon. Und Jens Meier schlich sich gekränkt davon. Jedoch so „bekloppt wie die Leute das glaubten, schien er nicht zu sein. Er war zwar ein wenig in seinem Kopf zurückgeblieben und in seinen Bewegungsabläufen unkontrolliert; aber seine gestrige Beobachtung hatte sich in sein Hirn eingebrannt. Doch das wusste nur er selbst. Denn niemand sonst schien sich jetzt dafür zu interessieren.

    Kein Mensch kannte das Mädchen. Seine Identität konnte ohne Ausweispapiere nicht festgestellt werden. Doch noch deutete nichts auf einen gewaltsamen Tod hin.

    Später sollte auch keine Vermisstenmeldung eingehen. Zeugen hatten sich nicht gemeldet.

    Hätten sie den geistesgestörten Jungen wahrgenommen und ihn angehört, würden sie jetzt einen kleinen Schritt weiter sein. Der Junge hatte das Mädchen einen Abend vorher von seinem Fenster aus beobachtet. Es war nicht allein gewesen.

    Der Tod des kleinen Mädchens blieb zunächst rätselhaft, bis sich bei der Untersuchung herausstellte, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach an keinem natürlichen Tod gestorben war. Doch letzte Zweifel an der Todesursache konnten nicht vollständig ausgeräumt werden. Ebenfalls war festgestellt worden, dass der Tod am Deich eingetreten war. Der Fundort war identisch mit dem Tatort. Ansonsten hatte die Polizei keine verwertbaren Spuren gefunden. Der Mörder, wenn es denn einer war, hatte sich bestimmt schon aus dem Staub gemacht.

    Erst Jahrzehnte später sollte Licht in das Dunkel dringen.

    Schließlich wurde die Akte des toten Kindes den ungeklärten Fällen zugeordnet.

    Der nette Mann

        Juli 1952

    An einem heißen Sommertag im Juli spielte die kleine Ida vor der Wohnbaracke, die sie mit ihrer Mutter bewohnte, auf dem sandigen Weg mit bunten Murmeln. Das kleine aus Holz gebaute ehemals dunkelgrüne Häuschen lag in der Nähe eines Kanals. Es benötigte dringend einen Anstrich, denn die Farbe war durch das rauhe nördliche Klima ziemlich verblichen. Das Behelfsheim vermittelte einen kargen Anblick, war es doch an Einfachheit nicht zu überbieten. Aber die an der Frontseite rankenden gelben Teerosen ließen den ersten Eindruck vergessen. Ebenfalls die kleinen weißen Sprossenfenster verhalfen dem Haus zu einer schlichten Schönheit. Aber dafür hatte Ida noch keinen Blick. Eifrig warf sie ihre Murmeln in die kleine Mulde. Mit einem Stock hatte sie auch ein Hinke-Pinke-Spiel in den Sand gemalt. Aber im Moment gab sie den Murmeln den Vorzug, denn es war ihr zu heiß für das Hin- und Herspringen.

    Ida hatte Schulferien und außerdem Langeweile.

    Ida sah von ihrem Murmelspiel hoch. Ihr schien, als habe sie ein Geräusch vernommen. Tatsächlich hatte sie sich nicht getäuscht. Von weitem sah sie einen jungen Mann in einem grauen Anzug den Schotterweg herauf kommen. Er schlich vielmehr als dass er ging, denn die hochsommerlichen Temperaturen machten auch ihm schwer zu schaffen. Der junge Mann blieb bei Ida stehen und wischte sich die Schweißperlen mit einem großen karierten Taschentuch von der Stirn.

    „Guten Tag, sagte er, „was spielst du denn gerade? Der Mann schaute interessiert auf die bunten Murmeln im Sand.

    Komische Frage, dachte Ida, das sieht man doch. Meine Güte, ist der blöd.

    „Ich bin Rolf, stellte er sich vor, als Ida nicht antwortete. „Und wie heißt du?

    Sie nannte ihm ihren Namen. „Woher kommst du denn?" wollte Ida nun neugierig wissen.

    „Ach, winkte Rolf ab, „das ist eine lange Geschichte. Er zog seine Jacke aus und streckte sich der Länge nach im Gras aus. Die Jacke legte er unter seinen Kopf. Er schien erschöpft zu sein. Nach einer Weile sagte er:

    „Eigentlich komme ich aus Russland." Ida hatte keine Vorstellung, wie weit

    Russland entfernt war. Im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg war ihr jedoch das Wort Russland geläufig. Auch in Erdkunde war das Land schon einmal angesprochen worden. Aber im Grunde interessierte sie seine Herkunft auch nicht.

    Sie sah sich den jungen Mann nun etwas genauer an. Rolf ist nett, dachte sie wenig später. Sehr nett. Er unterhielt sich mit ihr und nahm sie Ernst. Das gefiel ihr. Denn ihre Mutter hatte wenig Zeit für sie, weil sie arbeiten musste. Der Vater war im Krieg gefallen.

    Und Rolf hörte ihr aufmerksam. Als ob ich Rolf schon lange kenne, dachte Ida. Sie schaute ihn von der Seite an. Seine schwarz gelockten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und die hellblauen Augen strahlten Zuversicht und Vertrauen aus. Sie begann, ihn zu mögen. Dann schwiegen beide. Ida und Rolf lagen im Gras und hingen ihren Gedanken nach. Auch Ida war nun durch die sommerliche Hitze ein wenig schläfrig geworden.

    Plötzlich setzte sich Rolf auf und sah auf Ida hinunter, die mit halb geschlossenen Augen in die Sonne blinzelte. Eine ganze Weile schaute er sie an, als präge er sich ihr Gesicht ein. Ida stutzte, denn so lange und ausgiebig hatte sie noch niemand angeschaut.

    Ida setzte sich nun ebenfalls auf.

    „Du hast so schöne blonde Zöpfe," flüsterte Rolf und strich ihr über den Kopf.

    Dann öffnete er ihre Zopfspangen und entflocht ihr Haar, bis es ihr wie glänzende Seide über die Schultern fiel.

    „Darf ich es einmal sie anfassen?" fragte Rolf, wartete jedoch ihr Einverständnis nicht ab, sondern strich mit den Fingern seiner rechten Hand langsam durch ihr Haar. Ida staunte nicht wenig. Das hatte noch niemand auf diese Weise getan und es machte sie stolz, dass jemand ihr Haar berühren wollte.

    „So weich wie fließende Seide," murmelte er und seine Miene überschattete sich, als zöge ein plötzliches Gewitter auf. Rolf schien mit einem Mal traurig zu sein.

    „Ich hatte auch so ein kleines Mädchen wie dich," sagte er, mehr zu sich selbst und seufzte laut. Dann stand er abrupt auf und klopfte ein paar Grashalme von seiner Hose.

    „Ich muss wohl gehen, meinte er. „Jetzt schon? beschwerte sich Ida sofort und war ziemlich enttäuscht. Er war doch kaum hier gewesen.

    „Dann bin ich ja wieder allein."

    Rolf sah sie mitleidig an. „Wir sehen uns bestimmt wieder," tröstete er sie.

    Da sah sie ihre Mutter auf dem Fahrrad ankommen. Sie stieg ab und blickte den Fremden misstrauisch an. Wen hatte Ida da denn angeschleppt? Sofort beschlich sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so wenig Zeit für ihre Tochter erübrigen konnte.

    Aber wer sonst sollte für ihren Lebensunterhalt aufkommen?

    „Mama, das ist Rolf," stellte ihre Tochter den jungen Mann vor. Der machte eine elegante Verbeugung. Von Höflichkeit verstand er etwas. Idas Mutter beeindruckte sein tadelloses Verhalten. Sie unterhielten sich vor dem Haus über belanglose Dinge und ihre Mutter schien schon bald von dem netten Rolf angetan zu sein. Ida war erfreut, dass Rolf bei ihrer Mutter nicht auf Ablehnung gestoßen war. Sie war da ziemlich wählerisch. Wenn sie jemanden nicht mochte, ließ sie das denjenigen durch ihre Schroffheit spüren.

    Rolf wandte sich jedoch zum Gehen.

    „Sie werden doch noch so viel Zeit haben, um mit uns eine Tasse Tee zu trinken?" fragte Idas Mutter und hoffte, der junge Mann würde bleiben. Denn auch sie mochte ihn auf Anhieb. Rolf war sofort einverstanden. Ohne lange zu überlegen.

    Idas Mutter bat ihn hinein und obwohl sie von der Arbeit sehr müde war, setzte sie einen Kessel mit Wasser auf und kochte eine große Kanne Tee. Dazu gab es Zwieback, der allerdings nicht mehr besonders mundete, weil er schon alt war. Das war Idas Mutter peinlich, aber Rolf beruhigte sie und sagte:

    „Das macht doch nichts. Ich mag sie trotzdem."

    Rolf erzählte ihr, dass er in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen sei und vor einem halben Jahr aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Idas Mutter horchte auf. Russland, ein schreckliches Wort. Ihr Mann Hans war in Russland gefallen. Doch als sie Näheres erfahren wollte, wich Rolf aus und wechselte schnell das Thema. Sicher hat er seine furchtbaren Erlebnisse noch nicht verarbeitet, vermutete sie. Das war ja auch nicht einfach. Aber Rolf war wenigstens aus Russland zurückgekehrt. Viele andere hatten in der Fremde ihr Grab gefunden. Wie Hans. Doch das war alles schon so lange her. Und jetzt war Rolf da.

    „Darf ich einmal wieder kommen?" fragte er beim Abschied bescheiden. Natürlich durfte er. Keine Frage. Mutter und Tochter begrüßten seinen Vorschlag überschwänglich. Ganz besonders Ida freute sich. Dann war sie nicht mehr so allein, sondern hatte Gesellschaft und nette noch dazu.

    Rolf erschien schon am nächsten Tag. Ida hatte ihn schon von weitem erspäht, denn

    sie wartete bereits ungeduldig auf ihren neuen Freund.

    Dieses Mal kam er auf einem blauen Herrenfahrrad angebraust, das Ida sofort bewunderte, weil es so schön in der Sonne glänzte.

    „Woher hast du denn ein so schönes Fahrrad?" staunte sie.

    „Tja," meinte Rolf. Ida musste sich wohl mit der Antwort – die eigentlich keine war – zufrieden geben, denn er äußerte sich dazu nicht weiter. Und im Grunde genommen war es ihr auch egal. Hauptsache er war wieder da.

    Rolf machte es sich im Gras bequem und streckte seine langen Beine aus.

    „Ich kann dich ja mal mitnehmen," schlug Rolf nach einer kleinen Weile vor.

    „Wir fahren am Deich entlang bis zum nächsten Ort."

    Ida war sichtlich beeindruckt und blickte ihn unsicher an. In den Osterferien war sie auch mit ihrer Mutter den Deich entlang gefahren. Sie saß hinten auf dem Gepäckträger. Mit Topfkuchen und Zitronensaft für unterwegs. Rolf bemerkte Idas plötzliche Unentschlossenheit.

    „Das meine ich im Ernst, setzte er nachdrücklich hinzu. „Wir fahren gemeinsam. Schon bald. Wie wäre es mit morgen?

    Ida dachte nach. Musste sie nicht zuerst ihre Mutter fragen?

    Rolf stand auf und setzte sich auf einen der alten schmiedeeisernen Stühle, die vor dem Haus standen und deren weiße Farbe teilweise schon abblätterte.

    „Die müssten wohl einmal gestrichen werden," stellte er fachmännisch fest.

    „Ich werde weiße Farbe besorgen."

    Ida horchte erfreut auf. Das klang irgendwie nach Zukunft. Als ob sich Rolf hier einrichten wollte. Das würde sicher auch ihre Mutter freuen.

    Dann beförderte Rolf aus seiner Aktentasche eine ganze Tafel Schokolade. Das Mädchen bekam große Augen.

    Die Schokolade hatte unter der heißen Temperatur gelitten und war fast geschmolzen. Aber schmecken tat sie trotzdem.

    Später, als sie mit Rolf im Gras unter dem Apfelbaum lag, bekam sie Bauchschmerzen. Er strich ihr vorsichtig über den Bauch.

    „Das hilft bestimmt, meinte Rolf. „Davon gehen deine Bauchschmerzen im Nu weg.

    Ida fand das zwar übertrieben, hielt aber still, um ihn nicht zu kränken, denn er meinte es doch so gut mir ihr.

    Und tatsächlich waren ihre Bauchschmerzen bald verschwunden.

    Rolf blieb den ganzen Tag. Er konnte lustige Geschichten erzählen, die er sich ausgedacht hatte.

    Als Idas Mutter heim kam, freute sie sich über seinen Besuch. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, ein paar Minuten auszuspannen. Das tat sie sonst immer nach der anstrengenden Akkordarbeit in der Fabrik. Sie ging zuerst in die Schlafkammer und zog sich eines von ihren drei Kleidern an.

    Idas Mutter hatte von Bauer Harms, der in unmittelbarer Nähe einen kleinen Bauernhof betrieb, einen Sack mit Kartoffeln und eine Scheibe geräucherten Speck geschenkt bekommen. Bauer Harms half ihr öfter über die Runden, denn er mochte sie sehr gern. Seine Frau war vor drei Jahren an Diphtherie gestorben.

    Nun stand sie an dem alten gusseisernen Ofen und briet Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Ida kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihre Mutter hatte sich noch nie in einem Kleid ohne Kittelschürze an den Herd gestellt und Speisen zubereitet. Sicher wollte sie Rolf gefallen. Der hatte Dosen mit Ananas, Corned beef und eine Tüte mit Bohnenkaffee mitgebracht. Idas Mutter freute sich auf den Kaffee. Sonst gab es nur den unvermeidlichen Muckefuck, den Ersatzkaffee aus der blauweißgepunkteten Tüte von Linde.

    Sie war sichtlich erstaunt. „Woher haben Sie das alles?" fragte sie und schaute ihn misstrauisch an. Er wiegelte mit einer Handbewegung ab.

    „Nicht fragen, sondern essen, befahl er lächelnd. „Auch wenn es nicht mein Lieblingsgericht ist. Ich esse für mein Leben gern Sauerkraut mit Stampfkartoffeln.

    Später, als Ida endlich in ihrem Bett lag, bot ihre Mutter dem netten jungen Mann das Du an.

    „Ich heiße Erika." Sie freute sich, dass sich Rolf um sie bemühte. Jedenfalls vermittelte er den Eindruck, Interesse an ihr zu haben. Er war etwa im gleichen Alter wie sie, vielleicht etwas älter.

    „Und ich heiße Rolf. Mit Nachnamen Schneider."

    Sie prosteten sich mit einem Glas Leitungswasser zu, denn alkoholische Getränke konnte sich Erika nicht leisten. Sie vermisste sie jedoch auch nicht. Vermisst hatte sie die köstlichen Sachen, die Rolf zum Abendessen beigesteuert hatte. Auch Idas wegen. Das Kind kannte ja solche Sachen gar nicht. Erika sah ihren Traum näher rücken: Eine kleine Familie. Sie war so lange allein gewesen. Zuerst der Krieg, der ihr den Mann genommen hatte, und danach? Erika sehnte sich nach einer heilen Welt mit einem Ehemann. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Rolf hielt ihrem Blick stand und lächelte ihr mit erhobenem Glas zu.

    Erika war auf dem besten Wege, sich ernsthaft zu verlieben.

    Danach kam Rolf jeden Tag, manchmal schon am Vormittag. Ida freute sich

    auf seine Besuche, unternahm sie doch mit ihm schöne Ausflüge. Ihre Mutter hatte dies erlaubt, weil Rolf so nett mit Kindern umgehen konnte. Sie durfte vorne auf der Fahrradstange sitzen und genoss den Fahrtwind, die kreischenden Möwen über der Nordsee, die Sonne und Rolfs belustigtes Lachen, als sie fast einmal den Deich hinuntergestürzt wären, weil er für Sekunden gedanklich abgelenkt war.

    Doch da war Ida ziemlich erschrocken gewesen. Aber sie hatte sich nichts anmerken lassen.

    Und seine Aktentasche beinhaltete immer leckere Sachen: Zitronensaft, Kekse, Schokolade. Er wusste, was kleine Mädchen gerne mochten. Er hatte doch schon einmal so ein kleines Mädchen. Unterwegs machten sie Halt und suchten sich eine geeignete Stelle aus, wo sie niemand störte. Dann tranken sie den Zitronensaft aus der Flasche, aßen Kekse und Schokolade. Ida gefiel das sehr und sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal so schöne Sommerferien verbracht zu haben. Es störte sie auch nicht, dass Rolf ständig ihre Haare berühren wollte. Oder ihre Beine. Sie fand das ganz normal, denn er erwähnte einmal:

    „Du bist jetzt meine kleine Tochter. Und Väter sind nun einmal so. Sie vergaß jedoch, dass sie ihren Vater kaum gekannt hatte und daher gar nicht wissen konnte, wie Väter „so sind.

    Abends aßen sie gemeinsam zu Abend. Erika bekam glänzende Augen, wenn sie Rolf ansah. Auch er schien sie genauso zu mögen und lud sie einmal am Wochenende zu einem Kinobesuch ein.

    Erika zog ihr dunkelblaues Sonntagskleid mit dem großen weißen Kragen an, das eigentlich zu schade für das Fahrrad war. Aber sie besaß kein anderes – außer dem einen, das sie zuletzt beim gemeinsamen Abendessen für ihn trug und dann noch ihr Alltagskleid - und für Rolf wollte sie besonders schön sein. Zuletzt betupfte sie ihren Hals noch mit ein paar Tropfen des Duftwassers, einem Mitbringsel von Rolf. Sie hatte aufgehört zu fragen, aus welchen Quellen er seine Kostbarkeiten bezog. Sie schnupperte an dem verführerischen Duft. Erika war im Begriff, einen Mann zu verführen.

    Das so genannte Kino im Dorf war zum Bersten voll. Sie nahmen auf einen der unbequemen Bänke in der Holzbaracke Platz und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

    Es gab rührende Liebesszenen, aber sie konnte sich nicht mehr auf die Handlung konzentrieren, weil sie ständig an Rolf dachte. Aber irgendwann war der Film zu Ende.

    Schweigsam fuhren sie mit ihren Fahrrädern Richtung Kanalweg wieder zurück.

    Unterwegs hielt er plötzlich an.

    „Lass uns eine kleine Pause einlegen, schlug er vor. „Es ist so schön ruhig hier.

    Das stimmte, denn bis hierher verirrte sich um diese Zeit kaum jemand und die wenigen Nachbarn schliefen sicher. Er legte den Arm um Erika und zog sie an sich. Und sie fühlte sich wie im siebten Himmel und war unbeschreiblich glücklich. Doch jäh fand sie sich auf der Erde wieder, denn Rolf schien sich plötzlich zu besinnen und wollte weiter fahren. Erika war enttäuscht, denn sie wäre gern noch länger mit Rolf an diesem lauschigen Plätzchen geblieben. Zu Hause angekommen, verabschiedete er sich schnell von ihr und Erika war sichtlich entmutigt.

    „Ich komme ja morgen wieder," tröstete er sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann radelte er eilig davon und Erika sah ihm noch lange nach.

    Das kleine Haus kam ihr mit einem Mal so trostlos vor. Die Stille erdrückte sie. Erika nahm sich den Korb mit ihrem Strickzeug vor, um ihren Gedanken nachzuhängen.

    Sie hörte nicht auf, an Rolf zu denken, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.

    Rolf ließ sich am nächsten Tag nicht blicken. Auch am übernächsten kam

    er nicht. Nach vier Tagen ließ Ida den Kopf hängen. Sie vermisste Rolfs kleine Späße, überhaupt seine lustige Gesellschaft. Und seine schönen Geschichten. Nur für sie allein, hatte er immer betont. Hatte sie ihn vergrault? Sie grübelte über die letzten Tage nach und ihr fiel ein, dass sie sich manchmal ein wenig geziert hatte, wenn er sie streicheln wollte. Ja, sie trug die Schuld an seinem Fernbleiben, sie ganz allein. Ida machte sich die größten Vorwürfe. Aber das half ihr auch nicht weiter. Rolf kam nicht wieder. Ihrer Mutter würde sie lieber nicht verraten, warum sie Rolf vertrieben hatte. Sie regte sich so leicht auf, besonders in der letzten Zeit. Sie schien überarbeitet zu sein. Dass es für ihre Stimmungen auch andere Gründe gab, konnte ihre kleineTochter nicht wissen. Ida sehnte händeringend Rolfs Erscheinen herbei..

    Aber Ida hatte in den langen Tagen des Wartens feste Grundsätze gefasst. Nie mehr würde sie sich gegen seine Zärtlichkeiten wehren! Er wollte doch ihr Vater sein. Da musste sie sich doch anpassen. Es lohnte sich, für Rolf kleine Opfer zu bringen. Das war doch nicht schlimm. Auch ihre Mutter vermisste Rolf in den ersten Tagen. Jedoch im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte sie nicht so viel Zeit zum Nachdenken, denn ihre Arbeit nahm sie bis zu ihrem Urlaub voll in Anspruch. Und man musste Rolf wohl Zeit lassen, wusste sie denn, was der Krieg ihm angetan hatte? Bisher war er schweigsam geblieben, was seine Vergangenheit betraf. Sicher plagten ihn die Erinnerungen an schwere Kriegserlebnisse. Aber sie musste zugeben, dass ihr so gut wie nichts aus seinem Leben bekannt war. Verheiratet war er nicht, das hatte er einmal erwähnt. Und mit Nachnamen hieß er Schneider. Ein ganz normaler häufiger Name. Aber was wusste sie sonst von ihm? Eigentlich nichts, was ihr weiterhalf. Und erst recht nichts, was sein bisheriges Leben betraf. Von sich selbst gab er nie auch nur das Geringste preis. Im Nachhinein machte sie das stutzig.

    Ihr Unterbewußtsein sträubte sich, hinter Rolfs glatte Fassade zu blicken. Sie gab sich der Illusion hin, er sei der Mann fürs Leben. Und warum sollte er das nicht sein? Sie hatte solange auf eine Änderung in ihrem Leben gewartet. Nun war die Zeit endlich gekommen. Und Idas Begeisterung für Rolf wollte sie nicht dämpfen. Die kindlichen Zärtlichkeiten zwischen ihrer Tochter und ihm hielt sie in ihrer Naivität für völlig normal. Kinder sind nun einmal anhänglich, wenn sie jemandem vertrauten und ihn mochten. Den Begriff Liebe verdrängte sie wohlweislich.

    Erikas Urlaub neigte sich bereits dem Ende zu. Vielleicht hatte Rolf sie ja beide vergessen.

    Doch er hatte sie nicht vergessen. Unverhofft erschien er endlich an einem Nachmittag, nach drei qualvollen Wochen des Wartens, als sei nichts geschehen. Ida war wieder allein. Sie saß vor dem Haus im Gras und flocht gerade einen Kranz aus Gänseblümchen, als sie seine quietschende Fahrradbremse vernahm. Achtlos warf sie den fast fertigen Kranz beiseite und eilte ihm entgegen. Und er schleuderte sein schönes Fahrrad einfach ins Gras und nahm sie in seine Arme.

    „Hast du mich etwa vermisst? fragte er, sah sie lächelnd an und wartete ihre Antwort gar nicht ab. „Ich habe dich auch vermisst, sagte er und hielt sie von sich. „Lass mich einmal sehen, wie du aussiehst."

    Er hielt sie mit einem langen Blick fest. „So schön wie immer. Du bist meine kleine Nachtigall." Sie fühlte sich äußerst geschmeichelt und konnte vor Aufregung gar nicht sprechen. Rolf schien noch mehr sagen zu wollen, aber er schluckte die Worte hinunter. Er wollte Ida nicht erschrecken. Dafür war später noch Zeit. Er nahm seine Aktentasche vom Gepäckträger des Fahrrades.

    „Ich stelle meine Aktentasche im Haus ab und wir radeln ein Stück," schlug er vor.

    „Was meinst du?"

    Ida war natürlich einverstanden. Ihr war jeder seiner Vorschläge recht. Sie hätte auch nicht gezögert, ihn zum Mond zu begleiten.

    Die beiden fuhren den üblichen Weg und machten hinterm Deich eine kurze Verschnaufpause. Und Ida war selig.

    „Ich habe dir auch etwas mitgebracht, sagte Rolf nun. „Das bekommst du zu Hause. Es ist in meiner Aktentasche.

    Er legte sich ausgestreckt ins Gras. „Es gibt aber noch eine Überraschung," schmunzelte er und legte seine Arme hinter den Kopf. Ida sah ihn erwartungsvoll an. „Was

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