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Ein gefährliches Alter: Moira van der Meer ermittelt
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eBook325 Seiten3 Stunden

Ein gefährliches Alter: Moira van der Meer ermittelt

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Über dieses E-Book

Wer ist verantwortlich für Lucas Tod?
Der fünfzehnjährige Luca T. wird tot auf dem Schulhof gefunden. Die gleichaltrige Nina gesteht die Tat. Aber bald ist klar: Sie kann es nicht gewesen sein. Weshalb die Lüge? Und wer ist tatsächlich verantwortlich für Lucas Tod? Moira van der Meer erhält den Auftrag, Nina rechtlich zur Seite zu stehen - und kann es natürlich nicht lassen, sich in die Ermittlungen einzumischen. Aber mit wem sie auch spricht: Alle scheinen etwas zu verheimlichen. Was Moira van der Meer schliesslich zutage fördert, ist mehr als erschütternd. Zeitgleich erfährt sie immer mehr darüber, was vor zwanzig Jahren mit ihrer eigenen Schwester passiert ist. Wird Moira diese Wahrheit verkraften? Oder zerbricht sie endgültig daran?
SpracheDeutsch
Herausgeberorte Verlag
Erscheinungsdatum24. Feb. 2019
ISBN9783858302571
Ein gefährliches Alter: Moira van der Meer ermittelt

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    Buchvorschau

    Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze

    1  Die Pausenklingel schrillt und wenig später füllt sich der Platz vor dem Oberstufenschulhaus St. Georgen mit Stimmengewirr. Jungen und Mädchen stehen in Grüppchen, manche verschwinden um die Ecke, suchen die Abgeschiedenheit. Es ist Anfang Oktober. Mathilda, Alisar und Nina lehnen an der Schulhausmauer und teilen sich eine Packung Süssigkeiten. Alisar erzählt, während sie aus den Augenwinkeln ein paar Jungs beobachtet, lebhaft von ihrer gestrigen Shoppingtour in Zürich. Mathilda isst Gummibärchen und hört zu oder tut jedenfalls als ob. Nina tippt etwas auf ihrem Handy, greift ohne den Blick zu heben wieder nach der Tüte mit Süssigkeiten in Mathildas Hand. Sie langt daneben, streift aus Versehen die Brust von Mathilda. Kevin Lüthi, der gerade vorbeigeht, bleibt stehen.

    «Oh Mann, da würde ich auch gern mal hin fassen.» Kevin Lüthi grinst der errötenden Mathilda zu.

    Kevin sieht ganz gut aus, er ist gross und gut gebaut, aber er hat einen unsympatischen Zug um den Mund und die Hosen sitzen immer etwas zu tief, die Aufschrift auf seinen Shirts ist zu auffällig und das Haar zu gestylt. Trotzdem stehen viele Mädchen auf ihn. Luana ist derart verknallt in ihn, dass sie sich heimlich jeden Tag aufs Neue seinen Namen in die linke Hand – die Herzhand – schreibt. Sie sitzt im Unterricht, starrt verträumt in ihre Hand, den Mund leicht geöffnet und sieht aus wie eine Bekloppte.

    Kevin rechnet offenbar damit, dass Mathilda laut aufkreischt oder sauer wird, was er als Erfolg verbuchen könnte.

    Nina kommt dem zuvor. «Du hast ja echt kleine Hände, Kevin», sagt sie. «Du weisst ja sicher, was man über Jungs mit kleinen Händen sagt.»

    Nina und Alisar prusten los, Mathilda fällt etwas zögerlicher ein. Zwei Mädchen, die in der Nähe stehen und alles mitbekommen haben, beginnen ebenfalls zu lachen. Das Gelächter schallt über den Pausenplatz. Kevin wird rot und hasst Nina noch mehr dafür.

    «Schlampe», knurrt er zwischen zusammengebissenen Zähnen und stampft davon. Das Gelächter folgt ihm.

    Luca Tanner steht etwas weiter vorne bei der Mauer, die den Pausenhof begrenzt, er trägt einen grauen Kapuzenpulli, grau vor grauem Himmel. Er schaut sich nach der Quelle des Gelächters um, seine Augen bleiben einen Moment an Mathilda hängen. Sein glänzendes braunes Haar ist etwas länger und nach vorne gekämmt, wie es gerade angesagt ist, es fällt ihm ständig in die Augen. Mit einer ungeduldigen, aber eingeübten Handbewegung kämmt er es nach hinten. Dann wendet er sich wieder Sebastian zu, mit dem er sich gerade gebalgt hat wie ein junger Hund, den Mund zu einem weiten Lachen geöffnet.

    2  «Was hast du heute bei ihrem Anblick empfunden?» James rückte seine Hornbrille zurecht und sah mich aufmerksam an.

    «Dasselbe wie immer», sagte ich bockig. Irgendwie hatte ich heute keine Lust auf diese Unterhaltung. Ich hatte mehr Lust auf ein Glas Wein. Obwohl – darauf hatte ich immer Lust.

    «Und das wäre?» James liess sich nicht beirren. Er war zu lange als Psychotherapeut tätig, als dass so eine kleine Verstimmung meinerseits ihn aus der Fassung hätte bringen können. Und er war auch schon zu lange mein Therapeut. Wir waren bereits vor einigen Jahren dazu übergegangen, uns zu duzen, so oft hatte ich mich in seinem Therapiezimmer aufgehalten. Eigentlich hatte ich die Sitzungen bei ihm schon längst einstellen wollen, aber jedes Mal, wenn ich mein Leben ohne Stützräder angegangen war, war etwas Folgenschweres passiert: Erinnerungen an meine spurlos verschwundene Schwester suchten mich heim; mein Vater, der meine Mutter, meine Schwester und mich vor einer halben Ewigkeit verlassen hatte und zurück nach Nigeria gegangen war, trat wieder in mein Leben, oder ein einst geliebter Mensch wurde getötet – irgendwas war immer. Im Moment nahm ich James Dienste in Anspruch, weil ich in unregelmässigen Abständen Norah Krüger im Gefängnis besuchte. Besuchen musste.

    Norah hatte Jan Krüger, meine erste Liebe, geheiratet – und einige Jahre später hatte sie ihn ermorden lassen. Dafür hockte sie nun für ziemlich lange Zeit in Hindelbank, dem Frauengefängnis.

    Norah war aber auch die beste Freundin meiner verschwundenen Schwester Maria gewesen. Maria war auf dem Weg zu Norah verschwunden und nie wieder aufgetaucht – weder tot noch lebendig. Das war nun über 25 Jahre her. Hier lag der Hund begraben. Norah behauptete, sie wüsste mehr über das Verschwinden von Maria. Sie hatte es zur Bedingung gemacht, dass ich sie regelmässig besuchte und so ihre Einsamkeit linderte. Im Gegenzug würde sie mir Stück für Stück Informationen zum Verbleib meiner Schwester liefern. Hindelbank, das bedeutete zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Ein ganzer Tag fiel diesen Besuchen zum Opfer, die bisher ziemlich ergebnislos verlaufen waren. Das Hauptthema von Norah war sie selber, und auf meine Schwester war sie lediglich am Rand zu sprechen gekommen. Bis heute.

    «Wut. Ungeheure Wut empfinde ich», beantwortete ich James Frage.

    «Nur Wut?», hakte James nach. Erst wollte ich die Frage als überflüssig abtun. Plötzlich hatte ich aber Norah vor Augen, wie sie da sass im Besucherzimmer, die langen, in Jeans gekleideten Beine übereinandergeschlagen, die blonden Haare im Nacken zusammengefasst, ein rosa Angorapullover unterstrich ihre Zartheit, die sich aber nicht in den blauen Augen widerspiegelte. Die waren hart, stählern.

    «Wut. Und Hilflosigkeit», ergänzte ich.

    «Du bist Norah ausgeliefert.»

    Ich nickte und ballte dabei meine Hände unbewusst zu Fäusten.

    «Hat sie dir heute etwas erzählt?»

    Ich liess mein Gespräch mit Norah vor meinem inneren Auge Revue passieren. Die meiste Zeit redete Norah, beklagte ihre Einsamkeit, weinte.

    «Aber jetzt zu dir», sagte Norah plötzlich. «Lenk mich ab, Moira. Erzähl mir etwas von deinem gutaussehenden Bekannten, von diesem Guido Béjart.» Sie zog die Silben genüsslich in die Länge. Ihre Augen waren nicht länger tränenverschleiert, sondern funkelten raubtierartig.

    Ein flaues Gefühl beschlich mich. «Geht dich nichts an.» Meine Stimme war nur mehr ein raues Flüstern.

    «Nein?» Norah musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem derart süssen Lächeln, dass ich ihr am liebsten mit der Faust ins Gesicht geschlagen hätte. «Bist du dir da ganz sicher, Moira?»

    Ich hatte keine Wahl. Wollte ich etwas über den Verbleib meiner Schwester erfahren, musste ich spuren. Ich musste tun, was Norah verlangte. Norah genoss dieses Spiel, sie genoss die Macht, die sie über mich hatte.

    «Du hasst mich, nicht wahr, Moira?», sagte Norah und zuckte neckisch mit den Schultern. «Kein Problem. Wir können gern hier abbrechen. Du brauchst nicht wiederzukommen.»

    Ich lauschte ihren Worten mit gesenkten Augen. Ich brachte es nicht fertig, sie anzuschauen. Norah war eine feingliedrige Schönheit mit grossen blauen Augen. Aber im Innern, da war sie reines Gift. Narzisstisch und gleichzeitig ungemein bedürftig. Ihre Launen konnten von einer Minute zur anderen wechseln, mal schmeichelte sie, dann drohte sie.

    «Aber wenn du nicht mehr kommst, dann wirst du dich dein Leben lang fragen, wo deine Schwester geblieben ist. Du wirst nie zur Ruhe kommen. Ist es nicht so, Moira?»

    Ich schaute sie mit einem mörderischen Blick an.

    Sie bedachte mich mit einem siegessicheren Lächeln. «Moira, Moira», ihre Stimme klang nun ganz sanft, «wir kennen uns wirklich schon eine Ewigkeit.»

    James räusperte sich, und ich fand in die Gegenwart zurück. Ich war Norah ausgeliefert, wie James richtig erkannt hatte.

    «Sie hat mir erzählt, dass Maria Drogen konsumiert hat. Ich wusste nicht einmal, dass sie gekifft hat. Den ganzen Rest – Speed, Kokain, sogar Heroin soll sie geraucht haben.»

    «Glaubst du ihr?»

    Ich zuckte mit den Schultern: «Es gibt keinen Grund, weswegen Norah mich deswegen belügen sollte.»

    Ich dachte an die Szene zurück. Norah hatte ihr Haar nach hinten geworfen und wie nebenbei erwähnt, dass sie und meine Schwester verschiedene Drogen ausprobiert hatten. «Wir wollten eine andere Realität kennenlernen», hatte sie gesagt. «Fliehen. Unser Scheissleben vergessen. Such dir aus, was dir am besten passt. Alles trifft zu.»

    Ich sah James an. «Sie haben zusammen experimentiert.»

    «Was hat das in dir ausgelöst?»

    Ich dachte an Norah, wie sie mir von den Drogen berichtet hatte. Wie sie mir die Gelegenheiten aufgezählt hatte, bei denen sie und Maria sich zugedröhnt hatten.

    «Es hat mich traurig gemacht. Ich war – ich bin – Marias Schwester. Ich habe nichts gemerkt. Ich fühle mich schlecht. Schuldig. Ich bin nicht für sie da gewesen.»

    «Trauer und ein schlechtes Gewissen. Und was noch?»

    «Was meinst du?»

    «Da ist doch noch etwas. Du hältst etwas zurück, Moira. Lass es raus.»

    Ich zögerte. «Angst», flüsterte ich schliesslich. «Ich habe fürchterliche Angst.»

    «Angst wovor?»

    Ich schwieg eine Weile. Ich dachte wieder an Norah in ihrem rosa Pulli. Ich dachte an meine kleine Schwester mit ihrer dunklen Haut, den wilden Haaren und dem kindlichen Schmollmund. Ich dachte daran, dass in Marias Zimmer noch immer ihr zerschlissener Teddy aus Kindertagen auf dem Bett lag und darauf wartete, dass sie zurückkam. Meine Mutter hatte das Zimmer in den ganzen Jahren nicht angerührt.

    «Maria war fünfzehn. Sie hatte kein Geld», sagte ich mit gesenktem Blick. «Von Taschengeld kann man sich nicht solche Mengen an Drogen kaufen.» Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich hob den Blick und sah James direkt an. Er schaute nicht weg. «Was hat Maria wohl als Gegenleistung für die Drogen geboten?»

    3  Ich sass in einem bequemen Sessel, mir gegenüber Willy, der in seine Zeitung vertieft war. Willy Morgenroth ist mein Vermieter und ein Freund. Mit seinen 76 Jahren ist er noch immer rüstig, was er wohl nicht zuletzt den langen Spaziergängen mit Charlie, seinem treuen Golden Retriever, zu verdanken hat. Ich nippte am Rotwein, den Willy mir gebracht hatte und sah aus dem Fenster. Es war Mitte April und der Frühling war endlich voll im Gang. Im März hatte es nicht danach ausgesehen, es hatte noch einmal heftig geschneit, nachdem sich bereits die ersten Schneeglöckchen gezeigt hatten. Nun grünte alles. Ich kuschelte mich enger in meine Strickjacke. Ich war mehr als bereit für den Frühling. Es war ein harter Winter gewesen, in doppelter Hinsicht. Im Februar hatte die Temperatur sich vier Wochen lang unter dem Nullpunkt bewegt, selbst tagsüber. Hinzu kamen die sporadischen Besuche bei Norah, die an meinen Kräften zehrten. Ich seufzte und trank noch einen Schluck Wein. Willy hob den Kopf und musterte mich. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich nach den Besuchen im Gefängnis zu bemuttern. Er wusste, wie schwer das für mich war. Anstatt viele Worte darüber verlieren, kümmerte er sich um mein Wohlergehen, liess mich teuren Rotwein trinken. Wenn ich doch einmal reden wollte, dann hörte er zu.

    Heute wollte ich nicht reden. Also hatte Willy eine seiner geliebten Jazz-Platten aufgelegt und den «Landboten», die Lokalzeitung von Winterthur und Umgebung, zur Hand genommen.

    «Haben Sie von diesem Jungen gehört?» Willys Stimme liess Charlie hochschrecken, der zu unseren Füssen gedöst hatte.

    Ich kraulte ihm beruhigend den Nacken. «Welcher Junge?»

    «Dieser Fünfzehnjährige, der tot aufgefunden worden ist. Massive Kopfverletzungen.» Willy schüttelte bedauernd den Kopf. «Der arme Junge. In was für einer Welt wir leben …» Er brach ab und schüttelte noch einmal den Kopf.

    Neugierig geworden streckte ich die Hand nach der Zeitung aus. Willy reichte sie mir. Luca T., ein fünfzehnjähriger Oberstufenschüler, war gestern am frühen Morgen tot auf dem Pausenplatz des Schulhauses St. Georgen aufgefunden worden. Sowohl Todesursache als auch allfällige Täterschaft war bislang unbekannt. Ich liess die Zeitung sinken. Willy hatte Recht. In was für einer Welt leben wir, wenn bereits Fünfzehnjährige getötet werden?

    Kurz darauf ging ich zu mir nach oben. Es war ein langer Tag gewesen. Ich öffnete das Fenster in der Küche, setzte mich auf die Fensterbank und zündete mir eine Zigarette an. Ich legte den Kopf in den Nacken und liess kleine Rauchkringel emporsteigen. Ich dachte an den toten Jungen. Fünfzehn Jahre. So alt wie meine Schwester gewesen war, als sie spurlos verschwand. Fünfzehn Jahre. Ein gefährliches Alter.

    4  «Vielen Dank», sagte die schüchterne junge Bedienung und schaute mich ungläubig an. Ich hatte den zu bezahlenden Betrag grosszügig aufgerundet. Zu grosszügig, wie mir jetzt schien. Aber egal. Mir war wohlig warm, und ich hatte gut gegessen. Ich erhob mich, schlüpfte in meinen Mantel und verliess das «Dimensione», ein kleines Restaurant am oberen Ende der Altstadt.

    Zuvor hatte die Sonne geschienen, aber mittlerweile nieselte es. Ich sah zum Himmel hinauf, vereinzelte Tropfen trafen mich. Ich mag den April. Er ist wie mein Leben: Ich weiss nie, was mich im nächsten Moment erwartet. Ich zog eine Packung Zigaretten aus meiner Manteltasche. Missmutig beäugte ich sie. Nur noch eine übrig – schon wieder. Irgendwie war mir in letzter Zeit der Zigarettenkonsum etwas entglitten. Es war Frühling. Zeit, meine guten Vorsätze fürs neue Jahr endlich umzusetzen. Weniger Alkohol. Weniger Nikotin. Mehr Zeit für Musse im Alltag.

    Ich zündete mir die Zigarette an. Morgen würde ich damit anfangen.

    Kaum hatte ich den ersten Zug getan, läutete mein Handy. Ich seufzte, zog es aus der anderen Manteltasche.

    «Ich … Hier ist Behrens am Apparat, Beatrice Behrens.» Nach diesem zögerlichen ersten Satz herrschte erst einmal Stille. Das war nicht ungewöhnlich. Einen Anwalt anzurufen, kostet Überwindung. Ich wartete.

    «Meine Tochter. Ich brauche einen Anwalt für meine Tochter.» Frau Behrens klang verzweifelt.

    Was die Tochter wohl ausgefressen hatte? Wieder wartete ich.

    «Es geht um diesen Luca Tanner.»

    Luca Tanner. Luca T. Der tote Junge. «Was ist mit ihm?», fragte ich vorsichtig.

    «Meine Tochter. Nina. Sie sagt … Sie sagt, sie war es.» Frau Behrens Stimme brach. «Sie sagt, sie hat Luca umgebracht.» Nun schluchzte sie unterdrückt.

    Ich biss mir auf die Lippen, überlegte. Der tote Luca. Die geständige Nina. Wahrscheinlich waren sie im selben Alter. Soviel ich mitbekommen hatte, war bislang noch kein Tatverdächtiger festgenommen worden. «Wo ist Nina?», fragte ich.

    «Nina? Sie ist hier, bei mir. Ich weiss nicht, was ich … Ich …» Die Stimme verlor sich. Die Frau schien fix und fertig zu sein.

    Ich fasste einen Entschluss. «Geben Sie mir Ihre Adresse», sagte ich. «Ich komme zu Ihnen.»

    Frau Behrens schien erleichtert. Ich machte mit ihr ab, dass ich vorbeikommen und mir ein Bild von Nina und ihrer

    Aussage machen würde. Danach würden wir entscheiden, wie weiter.

    «Nina soll bleiben, wo sie ist», sagte ich. Dann legte ich auf.

    Meine Zigarette war mittlerweile bis auf den Stummel abgebrannt. Ich warf sie weg, tastete nach einer neuen, erinnerte mich an die leere Packung. «Mist, verdammter», murmelte ich und meinte damit nicht nur die Zigaretten. Wie es schien, hatte ich mir soeben einen neuen Fall eingehandelt. Und was für einen. So viel zu etwas mehr Musse. Aber ich war nicht unglücklich über die Wendung, die mein Tag genommen hatte. Meine Neugier war geweckt. Und die Büroarbeit, die ich am Nachmittag hatte erledigen wollen, lief nicht weg.

    Ich machte einen kurzen Abstecher zum Kiosk am Obertor und holte mir neue Zigaretten, bevor ich mich zu der Adresse begab, die Frau Behrens mir angegeben hatte: Friedensstrasse Nr. 1. Wie passend.

    5  Mathilda schreibt einen letzten Satz ab, dann klappt sie das Heft zu.

    «Fertig?», fragt Frau König lächelnd.

    Mathilda nickt. Die Lehrer mögen Mathilda. Sie ist eine von den Ruhigen, eine, die keinen Ärger macht.

    «Dann kannst du jetzt auch in die Pause gehen.»

    Wieder nickt Mathilda.

    Die Sonne blendet, als sie unten aus der Tür tritt. Sie bleibt einen Moment stehen, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. Es ist ein goldener Herbsttag und ausserordentlich warm für Oktober. Die Clique von Julia macht sich das gleich zunutze. Mit tiefsitzenden Jeans und bauchfreien Tops sitzen und liegen die Mädchen in möglichst vorteilhaften Posen auf der Mauer, räkeln sich träge im Sonnenschein. Ein paar Jungs stehen vor ihnen. Jedes Mal, wenn einer der Jungs etwas sagt, kreischen die Mädchen vor Lachen.

    Mathilda rümpft angewidert die Nase. Suchend schaut sie sich nach Nina und Alisar um. Sie ist so froh, hat sie die beiden. Sie ist mit ihrer Mutter vor wenigen Monaten nach Winterthur gezogen. Die Mutter wollte in der Nähe ihrer Kirche sein, in der Nähe der Gemeinde.

    «Ich gebe dir einen Keks für deine Gedanken.»

    Mathilda schreckt auf. Vor ihr steht Luca, grinst sie verschmitzt an und hält ihr eine Packung Oreos hin. Mit der anderen Hand streicht er seine vorwitzigen Haare zurück.

    «Du stehst seit fünf Minuten hier und starrst vor dich hin.»

    «Oh.» Mathilda spürt, wie sie errötet. Schnell senkt sie den Kopf, damit ihre Haare das heisse Gesicht verdecken. Mathilda hat wundervolle Haare, eine rotgoldene lockige Mähne, die sich über ihren Rücken ergiesst. «Ich habe nachgedacht.»

    «Was du nicht sagst.» Luca verspottet sie, aber es klingt liebevoll. Links hinter ihm kann Mathilda Kevin ausmachen und noch weiter hinten sieht sie endlich Nina und Alisar.

    «Ich muss …», sagt Mathilda und geht um Luca herum.

    «Und was ist mit dem Keks?»

    Mathilda schüttelt den Kopf. Es hat ihr die Sprache verschlagen. Was für ein unbeholfener Trampel sie ist.

    Sie sieht nicht, wie Luca ihr hinterherblickt, die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen geschürzt. Sie sieht nicht, wie Kevin sie über den Schulhof hinweg anschaut, Sehnsucht in den Augen.

    6   «Du bist also Nina.»

    Das Mädchen, das mir gegenüber sass, zeigte keine Regung. Sie war klein und ziemlich kurvig für ihre fünfzehn Jahre, mit dunklem, lockigem Haar, das sie zu einem losen Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie war nicht hübsch im klassischen Sinn – das Gesicht war zu rundlich, der Mund zu breit und das Kinn zu energisch. Aber sie hatte wunderbare Augen, grün-braun, mit langen Wimpern und hellwach.

    «Ich will keine Anwältin», sagte Nina. Sie hatte eine angenehme tiefe Stimme, die sie älter klingen liess.

    «Deine Mutter denkt aber, du brauchst eine.» Fünfzehn Jahre und Mord – bei dieser Kombination wäre ich als Mutter auch im Dreieck gesprungen.

    Ich warf Frau Behrens, die im Türrahmen stand, einen Blick zu. Sie starrte ihre Tochter von der Seite her mit geröteten Augen an, knetete unablässig ein Papiertas//chentuch zwischen den Fingern.

    «Es geht nicht um einen simplen Diebstahl», fügte ich hinzu.

    Nina zuckte verstockt mit den Schultern. Sie schien sich der Tragweite der Situation nicht bewusst zu sein. Sie schien sich einzig über meine Anwesenheit zu ärgern. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, dann würden mich ganz andere Sorgen plagen.

    «Rede mit mir. Erzähl mir, was passiert ist.»

    Noch immer zog Nina es vor, mich zu ignorieren.

    «Rede mit Frau van der Meer, Schätzchen. Bitte.» Frau Behrens griff nach Ninas Hand.

    «Du willst also keine Hilfe, Nina», sagte ich.

    Schweigen.

    «Nina, bitte», flüsterte die Mutter.

    Nina schüttelte ihre Hand unwillig ab.

    Ich überlegte. Ich musste eine andere Strategie fahren. Ich beugte mich vor und musterte Nina mit zusammengekniffenen Augen, verharrte so, schwieg.

    Irgendwann hielt Nina es nicht mehr aus. «Was ist?», fuhr sie mich wütend an.

    Ich schwieg weiterhin.

    Nina begann, an ihrem Pferdeschwanz zu nesteln, löste den Haargummi, arrangierte die Haare neu. Ihre Hände zittern leicht und es dauerte eine Weile, bis die Frisur sass. Ich hatte mich geirrt. Nina war nicht verärgert. Sie hatte Angst.

    «Frau Behrens», wandte ich mich an die Mutter, eine wohl ganz gutaussehende Frau Ende vierzig, die sich nun aber in einem Zustand der totalen Auflösung befand. Die Haare waren zerzaust, die Kleidung sah aus, als wäre Frau Behrens in einen Sturm geraten, selbst die feinen Falten in ihrem Gesicht schienen in Unordnung geraten zu sein. «Frau Behrens, würden Sie uns einen Moment allein lassen?»

    Beatrice Behrens schien unentschlossen.

    Ich sah sie mit einem festen Blick an, zog die Augenbrauen hoch und machte mit dem Kinn eine kaum merkliche Bewegung Richtung Nina. Frau Behrens erhob sich, begab sich zögernd Richtung Tür. Es war ihr sichtlich nicht wohl dabei, ihre Tochter mit mir allein zu lassen. Wir befanden uns im Wohnzimmer einer gemütlichen, grosszügigen Altbauwohnung mit Blick auf den Garten. Wie ich den wenigen, wirren Sätzen entnehmen konnte, die Frau Behrens bei meinem Eintreffen von sich gegeben hatte, wohnten sie und Nina allein hier. Der Vater von Nina war vor einigen Jahren verstorben. «Herzinfarkt. Dabei war er noch so jung.»

    Frau Behrens gab sich einen Ruck. «Ich bin in der Küche, Nina, ja? Du brauchst nur zu rufen.»

    Nina reagierte nicht.

    Beatrice Behrens seufzte schwer, dann verliess sie das Wohnzimmer. Als sie bereits unter der Tür stand, rief Nina ihr hinterher.

    «Es tut mir Leid, Mama», rief sie.

    Beatrice Behrens drehte sich um und suchte Ninas Blick. Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

    Ich schaute Nina an. Ihre

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