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Die dunkelgrüne Jacke: Düstere Geheimnisse im Harz
Die dunkelgrüne Jacke: Düstere Geheimnisse im Harz
Die dunkelgrüne Jacke: Düstere Geheimnisse im Harz
eBook298 Seiten4 Stunden

Die dunkelgrüne Jacke: Düstere Geheimnisse im Harz

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Über dieses E-Book

Sonja erwacht mitten in der Nacht von einem
Geräusch vor ihrem Blockhaus. Ein Geräusch,
das sich nicht einordnen lässt. Ebenso wenig wie
das geheimnisvolle Kind, der monströse Wirt, die
zwielichtigen Gestalten auf dem Campingplatz.
Ihre Hoffnung, während der Weihnachtsferien
ihre Ehekrise und andere schlimme Ereignisse
vergessen zu können, erfüllt sich nicht. Stattdessen
findet Sonja eine dunkelgrüne Jacke, die sie zwingt,
sich mit der düsteren Gegenwart des Gasthofs,
mit Tod, Verderbnis, Liebe und ihrer eigenen
Vergangenheit auseinanderzusetzen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum13. März 2022
ISBN9783754959138
Die dunkelgrüne Jacke: Düstere Geheimnisse im Harz
Autor

Leonie Freymann

Die dunkelgrüne Jacke ist der zweite Roman, mit dem Leonie Freymann (Pseudonym) an die Öffentlichkeit tritt. Als Autorin von Erzählungen, Gedichten und ihrem letzten Roman Noras Vermächtnis erfreut sie sich bei ihren Lesern wachsender Beliebtheit. Gegenwärtig arbeitet sie an einem dritten Roman.

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    Buchvorschau

    Die dunkelgrüne Jacke - Leonie Freymann

    Leonie Freymann

    Die dunkelgrüne Jacke

    Kriminalroman

    Text: © Copyright by Leonie Freymann

    Coverfoto: © Copyright by Karl F. Schöfmann

    Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

    Alle menschlichen Verfehlungen sind das Ergebnis eines Mangels an Liebe.

    Alfred Adler, Psychoanalytiker

    Sonja erwachte mitten in der Nacht, von etwas, das ein Geräusch gemacht hatte. Es war nur kurz und auch nicht sehr laut gewesen, eine Art Heulen oder Wehklagen, das nach dem ersten abgerissenen Ton sofort verstummt war. Das Echo klang noch in ihrem Kopf nach, aber sie war sicher, sie hatte nicht geträumt. Und ebenso sicher war sie sich, dass es ein menschlicher Laut gewesen war, nicht etwa ein klappernder Mülleimerdeckel oder ein herab-gefallener Dachziegel. Sie lauschte angestrengt, zwei, drei Minuten lang. Alles, was sie hörte, war der singende Ton der zur Nacht heruntergeschalteten Speicherheizung. Das Geräusch kam nicht wieder. Die Stille in dem kleinen Blockhaus, in dem sie gegenüber dem Hotel wohnten, wirkte wie erstickt, fast, als ob wieder Schnee gefallen wäre. Sie tastete mit der Hand nach rechts, auf die andere Seite des Doppelbetts. Fühlte die Körperwärme unter der Bettdecke, spürte die Umrisse eines Armes. Roland schlief meist sehr fest, scheinbar atemlos, so dass sie früher oft befürchtet hatte, er wäre gestorben, neben ihr, einfach so. In letzter Zeit kam es allerdings vor, dass er unruhig war, manchmal aufstöhnte oder im Schlaf redete. Er war seit sechs Wochen arbeitslos. Sein Arbeitgeber, ein großer Industriekonzern, hatte viertausend Leute entlassen, da-runter auch Roland, einer der Geschäftsführer und leitenden Ingenieure. Roland war 55. An eine vergleichbare Stellung in einem anderen Unternehmen war nicht mehr zu denken. Zum Glück hatten sie Ersparnisse, aber sie würden sich einschränken müssen, wenn sie ihren Lebensabend – das war besonders in ihrem Fall ein merkwürdiges Wort – unter einigermaßen angenehmen Umständen verbringen wollten. Sie selbst hatte schon seit vielen Jahren keine feste Anstellung mehr, seit der Geburt ihres Kindes nicht. Damals war sie 34 gewesen. Jetzt war sie 41. Sie glaubte das nicht. Sie glaubte, sie wäre immer noch 34, und das Kind wäre immer noch in ihrem Bauch und würde bald geboren werden. Das Kind war nach sechs Wochen gestorben. Plötzlicher Kindestod im Schlaf, hieß es. Es hatte einfach aufgehört zu atmen. Wollte wohl nicht an diesem Leben teilnehmen, obschon es doch gar kein schlechtes Leben gewesen wäre. Zumindest hatte sie es sich als gutes Leben für das Kind vorgestellt.

    Vor der Schwangerschaft hatte sie als eine Art Kreativberaterin in der Werbeabteilung von Rolands Fabrik gearbeitet und davor, in den Achtzigern, als Vorzimmerdame ihres Vaters, im Bürgermeisteramt. Sie hatte diese Jobs nur aus reiner Verlegenheit ergriffen, mangels einer anderen besseren Idee, nach einem kurzen Kunststudium. Ihre ganze Leidenschaft war das Fotografieren. Sie hatte nie etwas „daraus gemacht, wie Roland es nannte. Dabei hatte er gar keinen Bezug zu jedweder Kunst, er bezeichnete moderne Malerei als „Gekleckse, Klavierspiel als „Geklimper und Schriftstellerei als „Geschwafel. Und Fotos hatten für ihn nur einen Sinn, wenn man sie im technischen Bereich verwerten konnte. Sie fotografierte auch jetzt noch, aber ihre Ausrüstung war veraltet, und die Konkurrenz war zu groß.

    Sie steckte die Arme unter der Bettdecke aus, zog die Decke hoch, bis zur Nasenspitze. Still und kalt, dachte sie, eisig kalt, wie in einem Leichenschauhaus oder in einem Kühllager. Ein absurder Gedanke, der mit der Behaglichkeit, die das Harzer Blockhaus ausstrahlte, in keiner Weise übereinstimmte. Ein riesiges Mühlrad, das mit der Aufschrift „Hotel Waldmühle" in der Kurve der Einfahrt stand, wies auf die ursprüngliche Nutzung des weiträumigen Areals hin. Jetzt stand draußen nur die Nacht, kalt, dunkel und unbesiegbar, schob sich wie ein gestalt- und gesichtsloses Wesen über den Vorplatz, umlagerte ihr Haus.

    Sie wollte morgen Feuer in dem kleinen Kaminofen, der im Wohnzimmer stand, anzünden, die Speicherheizung schien ihr nicht ausreichend. Außerdem gab es einen mit Holz gefüllten Korb neben dem Ofen und eine Blechkanne mit Briketts. Der Wirt, ein gewaltig großer und dicker Geselle, hatte ihnen gestern ihre Unterkunft, in der sie eine Woche bleiben wollten, gezeigt. Er hatte die Brikettkanne hochgehoben und hineingeschaut und mürrisch „reicht noch", gemurmelt. Sie mochte ihn nicht. Er hatte stechende Augen, fast so schwarz wie die Briketts. Seine ebenfalls sehr große und massige Frau hatte eine Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen und war viel netter gewesen, ein bisschen schüchtern. War später noch mal vorbeigekommen und hatte sie gefragt, ob sie noch was brauchen würden. Im Schuppen nebenan würden sie noch mehr Brennholz finden. Und sie fragte freundlich, ob sie zum Abendessen ins Hotel kommen wollten. Aber Roland hatte keine Lust dazu. Er behauptete, die Küche im Hotel wäre laut Speisenkarte sicher nicht wert, getestet zu werden. Außerdem mussten sie sparen. Das, so befürchtete Sonja, würde nun den Rest ihres Lebens so weitergehen. Schon diese Unterkunft lag unter dem Niveau ihrer sonstigen Reisequartiere. Aber es machte ihr nichts aus. Es machte eher Roland was aus, auch wenn er das nie zugeben würde.

    Am Morgen war der Himmel strahlend blau, Sonnen-schein fiel auf das runde Tischchen in der kleinen Küche, wo sie ihr Frühstück aßen. Der Honig funkelte in seiner Plastikdose wie ein goldener Ball, als wäre die Sonne in den Honig gefallen. Aber auf ihrem Wagen draußen, der fast unmittelbar vor dem Küchenfenster parkte, lag eine dünne Eisschicht. Es war noch immer Rolands E-Klasse-Mercedes, sein Firmenwagen, den sie erst im neuen Jahr abgeben mussten. Vor den anderen Hütten standen keine Autos, sie waren bis jetzt nicht bewohnt. Die anderen Mieter der Blockhäuser würden erst am Silvestertag, also übermorgen, anreisen, hatte ihnen die Wirtin erzählt. Weiter hinten auf dem weitläufigen Gelände, da, wo das Wäldchen anfing, gab es noch ein paar Wohnwagen, aber sie standen außerhalb der Sicht ihres Fensterplatzes. Sie wusste nur, dass dort Leute waren, und das beruhigte sie. Sie hatten gestern Abend Licht gesehen und Autos gehört, die an ihrem Häuschen vorbeirumpelten.

    Auf dem großen Vorplatz vor dem Hotel lag Raureif, der von weitem wie Schnee wirkte. Die Tannen auf dem Hügel hinter dem Hotel sahen fedrig aus, wie mit Engelsflügeln bestück. Sie täuschten etwas vor, von dem ihr nicht sofort einfiel, was es war. Märchenland, dachte sie dann, ein Märchenland. Sie waren im Harz, einem Märchenland. Ihre Stimmung hob sich.

    „Ich werde nachher Feuer im Ofen machen", verkündete sie Roland, der auch im Urlaub in die Zeitung gucken musste.

    Er sah besser aus, seitdem sie hier waren, ruhiger, gelassener, als all die Wochen davor. Sein schmales Gesicht war nicht mehr so verspannt, er presste seine Zähne nicht mehr so oft zusammen, ließ nicht mehr so häufig seine Kiefermuskeln spielen. Auch wirkte er jünger, jedenfalls nicht so alt, wie sie ihn in der letzten Zeit empfunden hatte. Und das lag nicht an seinen plötzlich ergrauten, borstigen Haaren, die er alle 14 Tage sorgsam schneiden ließ, und auch nicht an der Brille mit dem Silberrand. Das hatte sie nicht gestört. Früher hatte sie seine Aufrichtigkeit, seine Treue zu sich selbst und auch sein souveränes Auf-treten bewundert. Jetzt schien er ihr nur noch besserwisserisch, oberlehrerhaft und zu einem gewissen Grad auch streitsüchtig.

    Manchmal fragte sie sich, ob das erst seit dem Tod des Kindes so war. Ob er sie insgeheim doch dafür verantwortlich machen würde ... Er war es gewesen, der an jenem Morgen zuerst am Bettchen war, der sich über den kleinen Körper gebeugt hatte, der die eiskalte Wange des Kindes als Erster berührt hatte. Sie war gerade im Bad und hörte seinen Schrei. Und konnte seitdem das Bild, wie er mit dem toten Kind im Arm dastand und herzzerreißend schluchzte, nicht mehr loswerden.

    „Dann musst du noch Holz aus dem Schuppen neben-an holen, die paar Scheite im Korb reichen nicht."

    Er hatte nun meistens irgendwelche Einwände, Verbesserungsvorschläge, wenn sie eigene Ideen entwickelte. Selten fand etwas seine unmittelbare Zustimmung. Begeistert zeigte er sich über ihre Einfälle so gut wie nie, selbst dann, wie sie sich als gut erwiesen. Es war beinah so, als würde er sie ihr nicht gönnen.

    „Dann nehme ich eben die Brikett", erwiderte sie trotzig. Sie hatte keine Lust, in den dunklen, eiskalten Schuppen zu gehen und dort nach Holz zu suchen. Das erinnerte sie an etwas.

    „Ich habe heute Nacht ein Geräusch gehört!" Sie hielt gerade ihr Honigbrötchen in der Hand. Die Brötchen sahen altbacken aus und schmeckten auch so, wie vom Vortag. Sie hielt das Brötchen schief, und der Honig tropfte auf Rolands Zeitung und auf das Tischchen.

    „Pass doch auf!" , herrschte Roland sie an.

    „Ach Goooott! Sie stand auf und holte ein Schwämmchen. „Stell dich doch nicht immer gleich so an!

    „Immer, immer" , höhnte Roland. Sie waren nach dem Tod des Kindes in einer Paartherapie gewesen und hatten gelernt, dass solche Verallgemeinerungen für den Ehe-frieden nicht förderlich waren. Allerdings, so überlegte Sonja, war die stete Verhöhnung fast noch schlimmer.

    „War für ein Geräusch?" Neugierig war er doch, wollte auch schnell von seinem Ausbruch ablenken. Er war cholerisch und wie die meisten Choleriker reumütig. Ihren Verdacht würde er allerdings sofort abschmettern. Sie hatte schon nicht mehr die geringste Lust, ihm etwas zu erzählen, ahnte, was kommen würde.

    „Na ja, ein Geräusch eben. So unheimlich, als ob – als ob man jemandem das Genick durchhacken würde!" Das war ihr eben im Moment eingefallen, und als sie es sagte, dachte sie, genau, das war es.

    Roland ließ die Zeitung sinken. Starrte sie durch die funkelnde Brille an.

    „Das Genick? Bist du wahnsinnig? Was du dir wieder alles zurechtreimst!"

    „Wieder, wieder, konterte sie. „Ich reime mir nie etwas zu recht, das behauptest immer nur du! Hinterher hat es sich jedes Mal noch als wahr erwiesen.

    Zumindest in dem Fall der Firmeninsolvenz, dachte sie, aber darauf würde sie ihn nun weiß Gott nicht aufmerksam machen. Trotzdem brachte er ihre Aussage sofort damit in Verbindung, auch das war ihr klar, und das machte ihn noch wütender.

    „Ja, na klar. Heut’ Nacht ist hier jemand ums Haus geschlichen und hat jemand den Kopf abgehackt! Ist doch logisch!" Damit guckte er wieder in die Zeitung, mit gerunzelter Stirn, las offensichtlich kein Wort.

    Sie schwieg und blickte an Roland vorbei, auf den Vor-platz. Mitten auf dem Vorplatz war eine rußgeschwärzte Feuerstelle, kreisrund, begrenzt von großen Wackersteinen. Sogar durch die dünne Eisschicht hindurch konnte man die Schwärze sehen. Komisch, die Stelle war ihr gestern gar nicht aufgefallen. Aber es war ja auch schon dunkel gewesen, als sie abends hier angekommen waren. Am Eingang standen zwei Laternen, von denen die eine kaputt zu sein schien, und die andere ein müdes, gelbes Licht in die Finsternis warf. Jetzt war die Luft hell und klar. So klar, dass sie sehen konnte, wie eine Maus eilig über den gefrorenen Rasen huschte und unter den Lorbeerbüschen verschwand. Ihre Geschichte hörte sich ja nun wirklich sehr unwahrscheinlich an.

    „Vielleicht war es eine Maus, die in einer Falle hängen geblieben ist", meinte sie vage.

    Sie stand auf, räumte die Teller und Tassen ab, drehte den Heißwasser-Hahn auf. Sie wusste, dass es keine Maus gewesen war. Der Schrei war für ein kleines Tier viel zu laut gewesen. Grell und spitz. Sie glaubte an eine Frauen-stimme. Oder an ein Kind. Oder an einen Mann mit einer hohen Stimmlage.

    „Wer hat dir vorhin die Brötchen gegeben?", fragte sie, als Roland ihre Auseinandersetzung wegen dem Schrei schon vergessen hatte. Er hatte die Brötchen vom Hotel geholt, die Wirtsfrau hatte ihnen angeboten, für sie ein paar bereitzustellen. Der nächste Bäcker oder Einkaufs-laden war für einen schnellen Fußmarsch zu weit weg. Sie hätten bis in die Stadt fahren müssen, die am anderen Ende des Tales lag, etwa drei Kilometer entfernt. Als Roland mit den Brötchen zurückgekommen war, hatte sie bereits die Kaffeemaschine in Gang gesetzt, und Kaffeeduft hatte die ganze Wohnung erfüllt. Da war ihrer beider Laune noch gut gewesen, sie hatten sich auf den Tag, auf den ersten Tag des Urlaubs gefreut. Das Geräusch in der Nacht, ihr Streit darüber, hatte alles verdorben. Besser, sie hätte nichts erzählt.

    „Der Wirt. Der Wirt hat sie mir gegeben, die Brötchen. Wieso willst du das wissen?, erwiderte Roland und guckte verständnislos ins Nichts. Meist konnte er ihren „verqueren, wie er es nannte, Gedankengängen nicht folgen. Und das war manchmal ganz gut so. Sie antwortete nicht, tat so, als wäre sie mit dem Einräumen des gespülten Frühstücksgeschirrs beschäftigt. Roland holte seine graue Winterjacke vom Haken, wickelte sich seinen roten Schal zweimal um den Hals, blieb in der Küchentür stehen.

    „Was ist jetzt, willst du mitkommen, einkaufen?", fragte er. Er hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und sah sie an.

    „Nö, geh mal alleine. Vergiss den Einkaufszettel nicht, er liegt auf dem Regal im Wohnzimmer. Wenn du kein ganzes Hähnchen kriegst, nimm einfach ein paar Hähnchenteile, für den Coq au Vin kann ich beides brauchen. Und vergiss den durchwachsenen Speck nicht, der ist wichtig."

    „Sonst noch was?" Er klang schon wieder wütend. Er ließ sich äußerst ungern was sagen, selbst dann, wenn es nur ein sachlicher Hinweis war.

    „Schreib auch noch Anzünder auf, für den Ofen. Ich will in der Zwischenzeit mal versuchen, ihn in Gang zu bringen, sonst frier ich mich zu Tode, bis du zurück-kommst", sagte sie trotzig.

    „Aber pass auf, dass es nicht so qualmt! Mach die Fenster auf! Nicht, dass du hier noch an Rauchvergiftung hops gehst."

    Sie ließ ihn reden, sagte kaum „Tschüss, als er durch die Haustür verschwand. Sie wusste, es war ihm lieber, er ginge alleine einkaufen. Im Moment war er überhaupt lieber allein, jedenfalls lieber ohne sie. Ob er sich wohl insgeheim wünschte, dass sie „hops ginge? Ausgeschlossen war es nicht. Sie hing ja wie ein Klotz an seinem Bein. Allerdings er auch an ihrem. Aber eine Scheidung kam nicht mehr in Frage, für zwei ordentliche Haushalte reichte das Geld jetzt nicht mehr. Sie hatten das vor sieben Jahren, nach dem Tod des Kindes, auch schon mal in Erwägung gezogen. Da wäre es rein finanziell noch gut möglich gewesen. Dann machten sie die Paartherapie und ließen sich überzeugen, dass ihre Ehe einen weiteren Versuch wert war. In der Zwischenzeit zweifelten sie beide an diesem Entschluss, sprachen das Thema aber nie mehr an. Aber sie konnte nicht mehr mit ihm schlafen, es ging einfach nicht. Sie wusste nicht, wie er damit zurecht kam, vielleicht besuchte er hin und wieder entsprechende Etablissements. In letzter Zeit hatte sich zwei- oder dreimal eine Frauenstimme am Telefon gemeldet, die ihren Namen mit ‚Kutschenreuther’ angab und mitteilte, dass sie in Rolands Buchhaltung beschäftigt war. Das war sie tatsächlich, aber irgendwie kamen ihr diese Anrufe seltsam vor. Warum rief sie ihn deswegen privat, zuhause an?! Zu der vorgeschobenen, angeblich dringenden Angelegenheit wollte sie nichts weiter sagen, und Sonja fragte sie auch nicht danach. Sie hatte den Eindruck, dass die Frau ihr das ganz absichtlich beibringen wollte, dass es eben gar keine dringende Angelegenheit gab. Dabei wollte sie es gar nicht wissen.

    Sie würde am 15. Januar eine neue Stelle als Vertriebsassistentin antreten, in einer noblen Firma, einem Chemiekonzern, der mit Granulaten handelte. Eine Ganztags-stelle, gut bezahlt, ein schöner, großer Büroraum für sie alleine, mit Originalgrafiken an der Wand. Es graute ihr davor. Sie hatte weder vom Vertrieb noch von Granulaten eine Ahnung und hasste Zahlen und alles Technische. Man hatte sie nur wegen ihrer guten Zeugnisse genommen und wegen ihres gespielten, selbstsicheren Auftretens, sicher auch wegen ihres Aussehens. Sie zog Männer immer sehr schnell an, musste gar nichts dafür tun. Sie beförderte das nicht bewusst, aber wenn es geschah, fühlte sie sich geschmeichelt, fast glücklich, und täuschte Zuneigung vor. Auch das, diese Vortäuschungen, konnten Zeichen einer narzisstischen Persönlichkeit sein, soviel hatte sie in der Therapie verstanden ... So sehr unterschied sie sich also nicht von Roland, vielleicht waren sie beide Psychopathen, vielleicht passten sie ja wenigstens in dieser obskuren Persönlichkeitsstruktur zusammen. Das Gute an der Sache war, dass sie sich von nun an Roland überlegen fühlen konnte. Schließlich wäre sie diejenige, die nun allein ein regelmäßiges Einkommen zum Lebensunterhalt bei-steuern würde. Auch wenn es nur etwa einem Viertel von Rolands früheren Gehalt entsprach.

    ‚Geld. Immer das blöde Geld. Geld regiert die Welt’, murmelte sie geistesabwesend vor sich hin, während sie die Wohnung aufräumte. Auf der Couch lag ihr Fotoapparat, eine Nikon, die sie vor vielen Jahren bei einem Amateurwettbewerb gewonnen hatte, und die natürlich nicht über die neuesten technischen Raffinessen verfügte, aber immer noch hervorragende Bilder machte. Mittlerweile besaßen ja fast alle Digitalkameras, aber sie hing an ihrem Apparat, würde ihn so schnell nicht beiseite legen. Bald würde sie keinen Fotoladen mehr finden, der ihre Filme entwickelte.

    Auf einem Beistelltischchen hatte Roland seinen Laptop abgestellt, daneben mehrere Plastikordner mit Konstruktionszeichnungen. Alle Gegenstände sahen so aus, als gehörten sie nicht hierher. Jedes Mal, bei jeder Reise, nahm sie sich vor, das Zimmer unberührt zu lassen, praktisch jungfräulich. Es gelang ihr nie. Sogar das runde Couchtischchen war befleckt, eine zerknüllte Erdnusstüte verunzierte das kleine Weihnachtsgesteck, das die Wirtsleute spendiert hatten, ein Tannenzweig mit zwei Fliegenpilzen und einer roten Stumpenkerze. Roland machte sich sofort darüber lustig, über diesen billigen Kitsch, aber sie fand diese Geste rührend. Eine Erinnerung an Kindertage. Genauso wie der grüne, altmodische Telefonapparat mit Schnur, der auf einem kleinen Ständer im Windfang stand, ein Relikt, das sie an ihre Zeiten im Bürgermeisteramt erinnerte.

    Auch das kleine Duschbad war nach der einmaligen Benutzung bereits unsauber. Sie reinigte das Waschbecken, putzte die mit Zahnpasta besprenkelten gelbbraunen Fliesen, klaubte die langen Haare vom Fußboden auf. Piccobello, dachte sie belustigt, das hatte ihre Schwiegermutter immer gesagt. Im Schlafzimmer war sie schneller fertig, die Betten waren rasch aufgeschlagen, die Bücher geordnet, das Wasserglas in der Küche entsorgt. Furcht-bares Wort, dieses „entsorgt", dachte sie. Es machte sie kurz würgen, sie spritzte sich schnell etwas kaltes Wasser ins Gesicht, legte die Stirn einen Moment gegen das kühle Glas des Küchenfensters.

    Danach ging es ihr wieder besser. Sie blickte auf, sah auf den Hügel mit den Märchentannen, den weißen Vorplatz mit der schwarzen Feuerstelle in der Mitte, ein hübscher Kontrast. Sie holte rasch ihre Kamera und stellte verärgert fest, dass sie einen Farbfilm eingelegt hatte. Dabei war die ganze Gegend hauptsächlich schwarz-weiß. Jetzt gab es an Farben nur den fahlblauen Himmel, über den sich von Westen eine geschlossene Wolkendecke schob. Egal, dachte sie, sie wollte den Film nicht verschwenden, und machte ein paar Fotos durch das Küchenfenster, da sie noch im Morgenmantel war und nicht nach draußen gehen wollte. Sie drückte immerzu auf den Auslöser, klick, klick, klick, in wilder, aufschäumender Freude, machte ein Foto nach dem anderen. Es war ihr egal, ob das Glas spiegelte, das konnte manchmal recht reizvolle Bilder geben.

    In diesem Moment tauchte das Kind auf. Es kam von rechts, von der Einfahrt her. Lief dicht an ihrem Fenster vorbei, sie konnte es genau durch das Okular sehen. Es war ein ziemlich kleines Mädchen, ungefähr zwei, nicht älter als drei Jahre, angezogen mit einer dunkelgrünen Teddyjacke und einer gelben Strickmütze mit Bommeln. Sie ließ die Kamera sinken. Das Kind lief schnell, unsicher, auf kurzen Beinchen, hielt den Kopf gesenkt, war ganz vertieft in den Weg, den es vor sich hatte, lief so gedankenverloren, wie kleine Kinder meistens laufen. Aber es ging zielstrebig in Richtung der Wohnwagen. Gleich werden die Eltern auftauchen, dachte sie und schaute gebannt nach rechts, versuchte mit ihren Gedanken Erwachsene herbeizulocken, die gleich schimpfend und rufend um die Ecke kommen würden. Gleich neben der Einfahrt, an dem Schild mit dem Mühlenrad, war ein kleiner Parkplatz, das hatten sie gestern gesehen. Aber da kam niemand.

    Sie war zu verblüfft, um gleich zu reagieren. Stand minutenlang wie gelähmt am Fenster. Wo waren die Eltern, die Erwachsenen? Man ließ doch so ein kleines Kind nicht ganz allein auf so einem großen Areal herumlaufen, ohne Aufsicht! Sie lief ins Wohnzimmer, warf ihren Morgenrock auf den Sessel, schlüpfte hastig in den Wintermantel, öffnete die Haustür. Trat in die Kälte, spähte nach links, zum Waldweg. Sie ging sogar in Hausschuhen ein paar Schritte über den vereisten Weg, in die Richtung, in der das Kind lang gelaufen war. Es war sinnlos. Das Kind war nicht mehr zu sehen. Keine Spur davon. Es musste die Wohnwagen erreicht haben und war in einem davon verschwunden. Wahrscheinlich waren die Eltern voraus-gegangen, und sie hatte sie nicht gesehen, weil sie mit Putzen beschäftigt gewesen war. Wenn sie jetzt bei den Wohnwagen nach einem kleinen Mädchen fragen würde, würde man sie anstarren und für verrückt halten.

    Sie ging in die Küche zurück und stellte sich fröstelnd wieder ans Fenster. Das Hotel gegenüber, ein alter, hoher Fachwerkbau, hatte ein Gesicht, eindeutig. Der geschwungene, weit herabgezogene Giebel war der Haarschopf, darunter der Eingang wie ein großes Maul und seitlich, links und rechts vom Eingang, die kleinen Fensteraugen. Dazu braucht man nicht einmal viel Fantasie.

    Da öffnete sich wie von Zauberhand eine der Türen zu den Nebengebäuden, und der dicke Wirt kam heraus und fing an, den Gehweg frei zu fegen. Über seinen Schultern hatte er etwas hängen, ein Mantel oder eine lange Jacke, etwas, das aussah wie ein braunes Schafsfell. Ein zottiges Ding mit langen Ärmeln, die herabbaumelten. Sie dachte, wenn sie ihn in solcher Aufmachung irgendwo im Wald zwischen den Bäumen sehen würde, würde sie denken, da kommt ein Braunbär. Er hatte dicke Oberarme und einen dicken Oberkörper, nur die Beine waren dünn wie Besenstiele. Jedes Mal, wenn er mit dem Besen ausholte, kam eine weiße Atemfahne aus seinem Mund. Er fegte ein paar Minuten und nahm dann einen Eimer mit Sand, den er in ruckartigen Bewegungen über den Weg streute. Einmal drehte er sich in Richtung ihres Blockhauses um und sah kurz zu ihr herüber. Sie erinnerte sich, dass er gestern Abend nicht gerade begeistert über ihre Ankunft war. Eher so, als würde er sie zum Teufel wünschen. Oder bildete sie sich das im Nachhinein nur ein? Dann verschwand er mitsamt seinem Eimer und dem Besen wieder im Haus.

    Ihr war immer noch eiskalt, sie zog sich rasch gefütterte Jeans und den neuen, hellblau-schwarz gemusterten Norweger-Pullover an, den sie sich selbst zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie hatte noch Ersparnisse von Vaters Erbe und ein bisschen Geld vom Verkauf ihres Schmucks. Sie war froh, dass sie das hatte, es machte sie unabhängig. Zumindest unabhängig von Roland.

    Ihr fiel ein, was sie ursprünglich hatte tun wollen. Sie kniete sich vor dem Kaminofen nieder, schichtete zerknülltes Zeitungspapier und ein paar Holzscheite hinein, hielt ein Streichholz daran. Das Papier loderte hell auf, verbrannte, es qualmte noch ein bisschen, dann war das Feuer wieder aus. Sie hatte es ja gleich geahnt. Die Holzscheite waren nicht abgelagert. Ohne Anzünder war das nichts. Aber bis Roland damit zurückkam, konnte es noch dauern. Und sie würde bis dahin in einem kalten Zimmer hocken und sich unbehaglich fühlen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie würde doch in den dunklen

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