Unter dem Kornelkirschenbaum
Von Henriette Brun-Schmid und Karin Widmer
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Über dieses E-Book
Kornel Villa ist Tierarzt, Vater, Grossvater, Freund, Ehemann und ohne Vater aufgewachsen. Darum kann er auch nicht wie ein Vater handeln, sagt er.
Seine Mutter spricht nicht über den Vater und so lastet ein anhaltendes Schweigen auf der Familie. Seine Frau Carlatina wagt es nicht, das Schweigen zu durchbrechen.
Erst als Kornels Mutter stirbt, hinterlässt diese ihm einen Brief mit Antworten.
Doch die Antworten kommen für Kornel zu spät. Er ist todkrank. Er will seiner Frau, seinen Kindern, nicht als kranker Mann zur Last fallen. Sein Arzt will ihn einem Spezialisten, Doktor Blau, überweisen. Doch Kornel hat schweigend einen Entschluss gefasst.
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Buchvorschau
Unter dem Kornelkirschenbaum - Henriette Brun-Schmid
Es ist ein Streifkuss heute. Seine Streifküsse haben aufgehört. Nur ganz schnell berühren Carlatinas Lippen Kornels Wangen. Ihr Mund zittert, sein Gesicht ist schneeweiss und die Wangen kühl. Von weit her streichen ihre Fingerspitzen über das kühle Gesicht, streifstreicheln es, wie aus Versehen.
Jahrzehnte lang haben Kornels Hände so über ihre Wangen gestrichen, wie aus Versehen. Hingenommen all die Jahre, irgendeinmal nicht mehr Zärtlichkeit erwartet und es hingenommen, denkt Carlatina jetzt.
Die Aura «Rühr mich nicht an» um Kornel lässt sie zwei Schritte zurücktreten. Rühr mich nicht an, sonst springe ich auf, die weissen prall gefüllten Früchte der Nolimetangere-Pflanze, denkt Carlatina. Wenn er nur früher mal aufgesprungen wäre, der Kornel! Sie hätten es leichter gehabt zusammen. Und wenn sie mehr Berührung, mehr Zartes gegeben hätte!
Ein Gedanke, den sie mit sich trägt, schon lange.
Sonnenblumen würden hingehören, einen grossen Strauss. Kornel hat sie so geliebt, die dunklen Gesichtchen mit dem Sonnenkranz rundherum. Carlatina würde die Blumen so hinstellen, dass sie sich dem Licht und Kornels Gesicht zuwenden würden. Beidem eben. Ihm eine Blume in die gefalteten Hände legen, die Hände dafür unsanft öffnen. Ihnen sagen, was sie zu tragen hätten. Kein Darüberstreicheln, ein Zupacken würde das sein.
Langsam geht Carlatina rückwärts von Kornel weg. Ende Mai gibt es keine Sonnenblumen, Punkt. Nach diesem langen Winter nur wenig die Flussschleusen öffnen, geht ihr durch den Kopf. Schmelz wasser, viel Schmelzwasser ist zu erwarten, dosiert öffnen, wenn es denn Zeit ist dafür. Den Winter zuerst verabschieden, bevor an Sonnenblumen zu denken ist, denkt sie und ist in der Mitte des Raumes angelangt.
Nicht weinen.
Die rosa, lindgrün und lila getönten Fensterscheiben tauchen den Raum in zartfarbene Kühle. Unnahbar das Licht von draussen, und auch der Duft von feuchtem Stein und Rosenwasser. Es kommt ihr vor, als würde sie unendlich langsam rückwärtsgehen. Morgen würde sie Kornel durch Glas sehen müssen, würde mit der Hand über die Trennscheibe wischen, sein Geschlecht unter dem weissen Leinen oder sein Gesicht verdecken können. Beide Hände zu Hilfe nehmen, ihn einmal von dieser Seite, einmal von der anderen abdecken. Seinen weissen Kopfverband verdecken mit der Hand am Glas, und Kornel würde aussehen, als ob er schlafen würde. Die Hände würden zu klein und die Glasscheibe zu nah dran sein, um ihn ganz zu verdecken. Ein bisschen Kornel würde immer hervorschauen, denkt sie beruhigt. Bruchstückhaft ist ihr Denken geworden, ganz oder wenig verdecken? Die Frage kreist in ihrem Kopf, als sei das jetzt noch wichtig für sie. Ein Schwall Rosenduft streift ihre Nase. Ihre Beine und Arme sind schwer geworden, ihr Gang träge. Nicht so, wenn sie im Wald geht, da scheint sie sich jeweils selbst davonzulaufen, mit federndem Schritt. Hier ist es anders, angepflockt sind ihre schweren Beine und Arme, ihre Gedanken, die beim Hinausgehen nicht mithelfen wollen. Sie hört ihre Gummisohlen auf dem Boden, treten an Ort. Endlich bei der Türe, sieht sie zu Kornel hoch, sieht, dass er auf einfachem Leinen, Natur, gebettet ist, keine Rüschen und Spitzen für ihn, wie auch im Leben nicht, denkt Carlatina.
Es ist unnatürlich still im Raum. Eine Stille, die zu Kornel passte, nicht zu ihr. Er war ein schweigsamer Mensch. All die Schweigen im Leben von Kornel und in ihrem, denkt sie. Das gefüllte Schweigen, wenn ihn etwas sehr beschäftigte und er Essen und Trinken in sich hineinwürgte und so das Beschäftigtsein schnell hinunterschluckte. Das verletzende Schweigen, wenn Kornelius ein Gespräch abbrach, aufstand und still die Zimmertüre hinter sich schloss, auch wenn Türen in Kornels Familie nicht geschlossen wurden. Dann blieb Carlatina meist sitzen am Tisch, allein und etwas hilflos. Oder das belehrende Schweigen, Augenaufschlag, Fingertrommeln inmitten eines Gesprächs, und dann das Verlangen nach Zuhören im Flüsterton. Da ist Carlatina aufgestanden und gegangen, meist zu Je-suis-là, ihrem Hund, in die Küche. Und das ich-bin-nie-schuld Schweigen, das sie jeweils so wütend machte, dass sie Pfannen scheppern liess und laut herumwursteln in der Küche. So und nicht anders war das Leben mit Kornel, denkt sie und muss lachen. Und jetzt schweigt er wieder. Selbst bei der Frage: «Wie hast du das so lange ausgehalten mit mir?» schweigt Kornel beharrlich.
Nein, hatte sie dem Pfleger gesagt, nein, keine Blumen auf das Kissen. Unsere Freunde sollen den Verband am Kopf nur sehen. Ein Seche, der Turban der Tuareg, einem Karawanen-Führer gleich. Kornel hatte es schliesslich aus Liebe getan, ehrlicher sei das, den Verband zu zeigen, hatte sie gesagt. Aus Liebe zu ihr und zur Familie, da ist Carlatina überzeugt. Dass er ihr nichts sagte von der Krankheit! Wo sie es doch gewusst hatte.
Sie musste ihn nur von der Seite betrachten, seine hervorstehenden Wangenknochen, seine mageren sehnigen Hände. Hörte sein Husten, seine verworrenen Gedanken in letzter Zeit.
Über Kornels Kopfverband hat sie nicht gestrichen, zu fremd scheint er ihr auf seinem Kopf. Wäre er königsblau, hätte sie geglaubt – ein halbes Leben lang glauben wollen –, dass er ein ewig Wandernder durch weite trockene Wüsten gewesen war. Kornel, ein still Ausschreitender über das Leben hinweg. Der weisse Verband scheint durch das fahle Licht rosa.
Rosa hätte ich nicht geglaubt, Kornel, rosa nicht bei dir, denkt sie und lächelt.
Rosen? Ja, vielleicht sollte sie einen Strauss roter Rosen kaufen für den Arzt, auf dessen Vorplatz es passiert ist. Er hat Kornel Erste Hilfe geleistet, hat ihn ins Spital bringen lassen. Kornel hat noch drei Tage weitergelebt. Sie und die Kinder haben sich verabschieden können von ihm. Er hat es unterlassen, und jetzt kann er es nicht mehr. Sie hat ihm die schlaffe Hand gedrückt im Spital, ihm die nahende Geburt des zweiten Grosskindes ins Ohr geflüstert. Mit verkrampften Fingern über seine Unterarme gestreichelt. Schutzlos lagen sie da. Ihr Handrücken auf seinen eingefallenen Wangen. Einmal nur hat sie seinen Kopf in ihre Hände genommen und ihn lange auf den Mund geküsst.
Und dann, wenn alles vorbei ist, denkt Carlatina, Rosen für den Menschen, der ihr Kornel zum Abschied übergeben und ihn nicht sofort hat sterben lassen. Rosen!
Die Holztür des Aufbahrungsraumes knarrt, sie hat eine schwere Türklinke aus poliertem Messing. Carlatina tritt nach draussen, unschlüssig, ob sie nochmals zurückblicken soll in die rosa-grünliche Verschleierung. Durch die halb offene Tür schaut sie zurück, und es ist ihr, als würde Kornel seine Hand heben zum Gruss, zum letzten zwischen ihnen. Erschrocken wendet sie sich ab – es gibt kein Paradies – und lässt die Türe hinter sich ins Schloss fallen.
Am Himmel vier gleich geformte Wolkenwellen in einer Reihe, weiss vor stechend blauem Himmel. Die fünfte, zuhinterst, hat sich zu Schlieren und Fetzen verflüchtigt. Da weiss Carlatina Bescheid. Zum ersten Mal weint sie seit Kornels Tod.
Die Nacht ist da, bereit, Erinnerungen preiszugeben. Carlatina steht vor dem Spiegel. Glück! Müde, ihr Gesicht ist älter geworden, die Tränensäcke etwas weicher, schrumpeliger, und sie allein mit Kornel. Sein Kuss streift sie diesmal in den langen Haaren über dem rechten Ohr, auf der dünneren Haut über dem Jochbein. Die kleine Stelle, das bisschen Haut, das bisschen Haar scheinen sich Kornel entgegenzustrecken, blähen sich auf, werden weich und warm. Sie versuchen mehr zu bekommen. Dieses Heisse auf der kleinen umgrenzten Stelle, aufbewahren für kühlere Tage, denkt Carlatina. Das für einen Augenblick bestehende junge Verliebtsein zieht sie mit der Wolljacke abrupt aus. Gröbere Alltagsberührungen, T-Shirt ausziehen, Haarknäuel ausbürsten, Nachtcreme gegen das Alter einreiben, lösen seine Zärtlichkeit ab. Kornels Streifküsse sind so selten geworden, dass sie sich jedes Mal fragt, was wohl Besonderes vorgefallen ist, dass es für einen Kuss ausgereicht hat. Es war kein Geburtstag, kein vergessener Hochzeitstag, niemand war gestorben, kein Kind geboren worden.
Kornel neben ihr im Bett liegend, riecht weich, laugig-samt. Wie Pilze im Wald nach einem allzu kurzen, feuchten Sommer, ein neuer, ein seltsamer Geruch, erinnert sie sich.
Und auf einmal ist die Erinnerung an Mia, ihre älteste Tochter, wieder da. Jahre sind