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Flamingo
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eBook410 Seiten4 Stunden

Flamingo

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Über dieses E-Book

Von seiner Verlobten verlassen und von seinem Vermieter grund- und fristlos gekündigt, steht Daniel Berry eines Morgens buchstäblich auf der Straße; das einzige Überbleibsel seines eben noch intakten Lebens ist ein kleines Keramikschaf. Die plötzliche Heimatlosigkeit lässt Daniel in ein bodenloses Loch fallen – bis eine zufällige Begegnung mit einer Fremden ein Bild in ihm wachruft: von drei rosafarbenen Flamingos auf einem grünen Vorstadtrasen in Norfolk.
Im Haus hinter dem Rasen lebt Sherry Marsh, die gern laut und schräg Foreigner-Songs zum Besten gibt und deren Tochter Rae sich über eine App namens FAZ (Fremde auf Zeit) Gesellschaft zum Ausgehen bucht, weil sie die Gesellschaft ihrer Familie nicht erträgt. Doch für Daniel birgt das Haus der Marshs vor allem eins: das Gefühl, einmal glücklich gewesen zu sein und es vielleicht wieder werden zu können, wenn er sich nur traut, dorthin aufzubrechen.
SpracheDeutsch
Herausgebermareverlag
Erscheinungsdatum14. Feb. 2023
ISBN9783866488205
Flamingo
Autor

Rachel Elliott

Rachel Elliott took her first drawing class at age eight at a neighbor's farm in Oklahoma. She now teaches writing and comics classes in Kentucky, where she lives with her partner. The Real Riley Mayes is her first book. You can learn more about Rachel at www.rachelelliott.me.

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    Buchvorschau

    Flamingo - Rachel Elliott

    Zerbrochen, aber nichts verbrochen

    Daniel – Somerset, England – Mai 2018

    Er sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden der Stadtbibliothek, Abteilung Kochbücher; seine Hände umklammern ein Buch mit alten Rezepten, seine Tränen tropfen den Morsecode seiner Verlassenheit auf den ausgeblichenen Umschlag.

    Er ist sanfter Regen.

    Er ist ein schmutziges T-Shirt.

    Er ist zwei Nächte auf einer Bank, eine Nacht in einem Hauseingang, zwei Nächte unter einem Baum, nach vielen Jahren Matratze und Bettzeug.

    Das Buch in seinen Händen heißt einfach Obst. Es ist hart und schwer, ein Buch zum Benutzen und Weitergeben, unverwüstlich. Auf dem Umschlag ist ein Stillleben abgebildet: ein Tisch mit Decke, ein Tonkrug, ein Teller mit Äpfeln und Birnen.

    Einen Moment lang kommt er sich vor wie ein Junge, der mit einer Bibel in der Hand in der Kirche sitzt.

    Er ist noch nie in der Kirche gewesen.

    Und sein eigener Küchentisch, sein Krug und seine Teller, wo sind die jetzt?

    An diesem Morgen ist es ruhig in der Bibliothek. Stiller, papierner Zeitlupenraum.

    Es ist niemand in der Nähe, doch Daniel Berry ist nicht allein. Die Körper dieser Bücher haben breite Rücken und buttrige Fingerabdrücke. Man kann schlechtere Gesellschaft haben als Köche und berühmte Küchenchefs, und er stellt sich vor, wie sie mit ihren Gaben vor ihm stehen: ein Becher starker Kaffee, Schalen mit Brühe und Nudeln, Brot und Flapjacks frisch aus dem Ofen.

    Er schließt die Augen, aber das macht ihm Angst, und so öffnet er sie wieder.

    Ihm ist, als wäre er im Schlafanzug draußen.

    Manchmal kann man nichts anderes tun, als vollkommen stillzuhalten.

    Er erinnert sich daran, wie er letztes Jahr vom Fahrrad gestürzt ist, wie er lange auf der Straße lag und sich nicht zu rühren wagte, voller Angst, dass es ihn schlimm erwischt haben könnte. Nach einer Weile fand er es fast angenehm, in den Himmel zu blicken und aus seiner Schockblase den Wolken zuzusehen.

    Seine Reglosigkeit jetzt ist ganz ähnlich.

    Komisch, was die Gedanken so machen. Wie sie von Küchenchefs zu Flapjacks, Schlafanzügen, Fahrradstürzen und Wolkengucken springen, ohne dass er auch nur einen Muskel bewegt.

    Und er ist nicht tot. Das ist sein nächster Gedanke. Er ist nicht der Tote in der Bibliothek wie bei Agatha Christie.

    Immerhin etwas, Daniel.

    Nein, er ist ein warmer, lebender, feuchter Körper in einer öffentlichen Bibliothek. Er hat seinen nassen Sumpf hier reingeschleppt, und niemand hat ihn daran gehindert.

    Als Junge war er oft in der Bibliothek. Manchmal kam seine Mutter mit, aber meistens setzte sie ihn dort ab, wenn sie Besorgungen machte – das war die Geschichte, die sie immer erzählte, eine Geschichte von Rechnungen, die bezahlt, Briefen, die zur Post gebracht, und Sachen, die auf dem Markt gekauft werden mussten. Wenn sie ihn auf dem Rückweg wieder abholte, war er der stolze Kurzzeitbesitzer eines Bücherstapels und hatte die Möglichkeit, seine Stunden zu füllen und der Rotte von Jungs aus dem Weg zu gehen, die Neuankömmlinge nicht mochten. Er hatte Angst vor diesen stämmigen Jungen, aber sie faszinierten ihn auch. Wie sie stundenlang auf einer Mauer sitzen konnten, träge und lässig und kurzärmelig in der Sonne. Bei ihnen sah das Zeitvertreiben einfach aus. Und das Jungesein auch.

    Gerade wenn sie anfingen, ihm mit Freundlichkeit statt Misstrauen zu begegnen, ihm sogar ab und zu ein Wie geht’s, Dan zuriefen, wenn er vorbeiging, war es wieder an der Zeit weiterzuziehen.

    Gibt es dort auch eine Bibliothek?, fragte er dann seine Mum.

    Und Eve Berry antwortete: Ja, keine Sorge, ich habe mich erkundigt, da gibt es auf jeden Fall eine Bibliothek.

    Was würde sie wohl sagen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte? Wenn sie ihn jetzt riechen könnte?

    Hauptsächlich riecht er nach Angst.

    Er streckt die Hand aus und streicht über zwei Buchrücken, als wären sie ein Holzobjekt, das er gerade fertig geschliffen hat, gute Arbeit, glatt und sauber und ganz real.

    Das hilft immerhin ein wenig, er kann es fühlen.

    Er lauscht auf die Geräusche um ihn herum, versucht, etwas anderes wahrzunehmen als seine Gedanken.

    Achtung, Sicherheitswarnung an alle Bibliotheksbesucher an diesem Morgen: Passen Sie auf, dass Sie nicht über den armseligen Kerl auf dem Fußboden in der Kochbuchabteilung stolpern oder in seine Kummerpfütze treten. Wir bemühen uns, den Schlamassel so schnell wie möglich zu beseitigen.

    Wie hartnäckig der menschliche Geist sich gegen sich selbst wendet. Als Spezies halten wir uns für so hoch entwickelt und überlegen, doch in der Höhle unserer Gedanken dreschen wir alle mit Knüppeln auf uns ein.

    Wieder kommen Tränen.

    Er ist ein leerer Magen.

    Er ist der Drang zu stehlen.

    Er ist der nervöse Tick eines Jungen, ein Zucken der Nase, das längst verschwunden sein sollte.

    Entschuldigen Sie, sagt eine Stimme.

    Daniel sieht auf.

    Neben ihm steht eine Frau. Sie geht in die Hocke, legt ihre Hand auf seine Schulter.

    Ich will Ihnen nur sagen: Was auch immer Ihnen gerade Kummer bereitet, es wird nicht ewig andauern.

    Er blickt sie nur mit offenem Mund an.

    Vertrauen Sie mir, sagt sie.

    Und das Gewicht ihrer Hand auf seiner Schulter.

    Er wird es durch diese schmutzigen Kleider spüren.

    Er wird es durch einen Schlafanzug spüren.

    Er wird es durch ein sauberes T-Shirt, einen weichen Pullover spüren.

    Er wird es durch alle Jahreszeiten spüren, während sie sich um ihn herum offenbaren, im Himmel und auf der Erde, in Blüte und Geburt, in Überwinterung und Erwachen, in der Luft, in Schnee und Sonnenlicht, in Beständigkeit und Vergehen, in Leuchten und Verblassen, in den vielen Gestalten eines alten Baums, in allem, was lebt.

    Mit der Zeit verändert sich die Geschichte.

    Manchmal ist sie in seiner Vorstellung gar keine Frau.

    Sie ist eine stille Wasserfläche.

    Sie ist ein kurzes Aufblitzen von Farbe.

    Wie ein Eisvogel, da und schon wieder weg, den niemand außer ihm gesehen hat.

    Somerset, England – Mai 2018

    Ich fand ihn in der Bibliothek, mit Karohemd, im Schneidersitz.

    Ich wollte mir einen Roman holen, etwas Hartes, Schnelles, Krasses, möglichst überwältigend.

    Ich fand ihn in der Bibliothek, ein Häufchen aus Salz und blauen Augen.

    Silbrig-braune Stoppeln auf sonnenverbrannter Haut.

    Mausbraunes Haar, raue Hände.

    Er starrte auf ein Buch, als wäre es eine Landkarte oder ein Foto von einem geliebten Menschen.

    Doch der Mann war nicht das Erste, was mir auffiel.

    Es war sein kleiner Gefährte, neben ihm auf dem schmutzigen Teppichboden.

    Ein Porzellanschaf.

    Er blickte immer wieder darauf, als würde es leise mit ihm reden, als führten sie ein wichtiges Gespräch.

    Rae – Norfolk, England – April 2018

    Anders als heute vor einem Jahr hat niemand mit Imprägnierspray, einem Feuerzeug und einem Mantel ein Feuer im Garten gemacht. Es hat keine körperliche Gewalt gegeben. Niemand hat jemand anderem die Vergangenheit um die Ohren gehauen, zumindest soweit Rae weiß. Für diese Familie ist es also vergleichsweise eine gelungene Party.

    Und jetzt läutet eine Glocke. Eine alte Messingglocke, die einst einem Stadtschreier gehört hat. Und zu der ihre Mutter gerne greift, wenn sie Aufmerksamkeit will.

    Wir sollen alle ins Wohnzimmer kommen, sagt eine Stimme.

    Es ist hoffentlich nicht das, was ich denke, oder?, fragt eine andere Stimme.

    Doch, leider. Ich hoffe, du hast deine Ohrstöpsel dabei.

    Als Geschenk zu seinem achtzigsten Geburtstag wird Sherry für ihren Mann ihre spezielle A-cappella-Version von I Want to Know What Love Is von Foreigner singen.

    Bitte nicht, nicht schon wieder, würde Leslie am liebsten sagen. Musst du das jedes Jahr an meinem Geburtstag singen? Es ist kein Geschenk, sondern eine Qual. Da war selbst der Große Schnitt amüsanter, falls du dich noch daran erinnerst. Ja, genau, das meine ich. Mir meine Samenleiter durchschneiden und versiegeln zu lassen war angenehmer, als hier vor unserer gesamten Familie zu stehen, mit deren Partnern und Ex-Freunden und all den anderen Leuten, die du immer einlädst, und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie gucken mich an, du guckst mich an, alle gucken mich an – das ist die reinste Folter. Du weißt doch, dass ich eher von der ruhigen Sorte bin, Sherry, ich war schon immer zurückhaltender als du. Willst du wissen, was das perfekte Geschenk zu meinem Achtzigsten wäre? Dass du nicht I Want to Know What Love Is singst.

    Bitte nicht schon wieder, würde Rae am liebsten sagen. Ehrlich, Mum, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber deine überaus spezielle Coverversion verfolgt mich regelrecht, sie überflutet mein Gehirn in den denkbar unpassendsten Momenten, zum Beispiel wenn ich versuche einzuschlafen oder wenn ich arbeite und, ob du’s glaubst oder nicht, manchmal sogar beim Sex, obwohl da in letzter Zeit nicht viel gelaufen ist. Du musst aufhören, es zu singen, Mum. Du musst endlich damit aufhören.

    Doch wer wäre so egoistisch, einen gefangenen Vogel zum Schweigen zu verdammen, dessen Lied seine einzige Freiheit ist? Eine Frau, die sich wie ein gefangener Vogel fühlt, das sagt sie zumindest oft zu ihrem Mann.

    Lass mich raus, lass mich raus, lass mich raus, schreit sie.

    Schatz, du weißt doch, wo die Tür ist, sagt Leslie.

    Ich muss nur mein Gefühl des Eingesperrtseins in Töne fassen, das genügt mir. Das allein ist schon befreiend.

    Niemand sperrt dich ein, Liebes. Du kannst gehen, wann immer du willst.

    Das Leben ist nicht nur Schwarz und Weiß, sagt Sherry. So einfach sind Gefühle nicht.

    Für mich schon, sagt er.

    Tja, vielleicht ist es genau das, was mich einengt.

    Was?

    Dass du so schlicht gestrickt bist.

    Leslie lächelt und widmet sich wieder seinem Sudoku. Er ist ein geduldiger Mann mit einem nervösen Zucken im linken Ellbogen, wenn er gestresst ist. Einmal hat er, nachdem er bei der Post eine Dreiviertelstunde warten musste, versehentlich einem Teenager seinen Ellbogen gegen den Kopf gerammt und wurde der Körperverletzung bezichtigt.

    Die Familie Marsh und ihre Gäste drängen sich in dem gemütlichen – sprich kleinen und fürchterlich vollgestellten – Wohnzimmer auf Sofa, Sesseln und Fußboden und warten.

    Halb so wild, sagt Rae sich. Diese Zusammenkunft ist fast vorbei. Bald kann sie sich ihre Turnschuhe schnappen, in einen Bus springen und vergessen, dass es diese Leute gibt – bis zur nächsten unerwünschten Erinnerung.

    Wer hat denn die Briefträgerin eingeladen?, fragt ihre Schwester.

    Die Antwort geht in einer Power-Ballade unter.

    Sherry legt einen theatralischen – man könnte auch sagen: experimentellen – Start hin, halb Song, halb gesprochenes Wort. Wenn Sie je eine A-cappella-Version von I Want to Know What Love Is gehört haben, werden Sie verstehen, wie seltsam faszinierend das ist: eine Explosion angestauten Gefühls, eine Preisgabe intimsten Seelenlebens, durchsetzt von gespenstischen Pausen.

    Jetzt wird sie lockerer, groovt sich ein, gibt alles.

    Sie singt von Herzschmerz, falls man das als Singen bezeichnen kann. (Kann man nicht.)

    Rae blickt zu dem Fremden neben ihr, der offenbar weint. Sie muss lachen, nicht weil sie grausam oder gefühllos ist, sondern weil sie in diesem Moment traumatisiert ist.

    Sie zieht ein sorgsam gefaltetes Taschentuch aus ihrer Jackentasche und hält es ihm hin.

    Er heißt Rufus. Sie weiß nicht, ob es sein richtiger Name ist, wahrscheinlich nicht, aber wer weiß.

    Rufus nickt langsam und sagt lautlos Danke, während er das Taschentuch auseinanderfaltet, als wäre es eine Geheimbotschaft. Er ist der Inbegriff von Ernsthaftigkeit, aber nicht die Art, die Rae an einem Menschen mag, die konzentrierte, aufmerksame Art. Seine Ernsthaftigkeit hat etwas Sentimentales, Verunsicherndes, wovon ihr übel wird.

    Und jetzt kommt der beste beziehungsweise schlimmste Teil, je nachdem, wie gut man es erträgt, der Verzweiflung anderer beizuwohnen:

    Mit einem breiten Lächeln streckt ihre Mutter die Arme aus und beginnt, mit den Händen zu wedeln, wie ein Popstar, der seine Fans zum Aufstehen und Mitsingen auffordert. Aber sie ist kein Popstar. Sie ist die fünfundsechzigjährige Sherry Marsh in ihrem bewährten Hosenanzug mit Seidenbluse, die auf einem purpurroten Teppich vor einem Gaskamin steht, dessen unechte Briketts zur Hälfte auf dem Fußboden liegen, die meisten davon vor Jahren zerkaut von einem Golden-Retriever-Welpen aus der Nachbarschaft. Der von ihrer Jacke verborgene Blusenärmel hat immer noch einen Riss von damals, als sie nach zu viel Portwein im Dog and Duck an einem Stechpalmenbusch hängen geblieben ist.

    Wie immer reagiert niemand darauf.

    Bis plötzlich Rufus aufspringt und mitzusingen beginnt.

    Sherry strahlt. Sie ist die Glückseligkeit in Person. Seit 1988 hat sie ihre Familie und ihre Freunde jedes Jahr dazu eingeladen, aufzustehen und dieses Lied mit ihr zu singen. Ihr Lied. Und nie hat es jemand getan.

    Es gibt verschiedene Arten, dies zu beschreiben, je nachdem, wie Sie das Leben sehen, ob Ihr Glas halb voll oder halb leer ist.

    1. Törichte Hartnäckigkeit.

    2. Wunderbare Hartnäckigkeit.

    3. Ein rührendes Zeichen von Liebe und Optimismus.

    4. Ein Hilfeschrei.

    Und jetzt steht Rufus neben ihr und sieht ihr in die Augen.

    Sie greift nach der Messingglocke und läutet sie, ohne mit dem Singen aufzuhören.

    Manchmal ist ein Moment der Freude so überraschend, so überwältigend, da muss man einfach eine Glocke läuten, zumal wenn man eine zur Hand hat.

    Das Wort Kakophonie trifft es nicht richtig. Misstönend ebenso wenig. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie wenig Sherrys Gesang mit dem Original von Foreigner zu tun hat, wie durch diesen Freudenausbruch in ihrer Stimme etwas Rohes anklingt, das einem regelrecht Angst machen kann – und das Ganze begleitet vom Läuten dieser alten Glocke und Rufus’ übereifrigem Bariton …

    Rae muss an den riesigen Kopfhörer denken, den sie als Kind oft stundenlang getragen hat, um alle auf Abstand zu halten, den Stecker in der Tasche ihrer Kordhose versenkt. Sie hat diesen Kopfhörer geliebt, und die Kordhose auch – sie war goldfarben, mit einem viereckigen Flicken auf dem linken Knie, den Eve Berry, die Freundin ihrer Mutter, ihr daraufgenäht hatte. Eve hatte versucht, eine Wonder Woman auf den Flicken zu sticken, und ja, diese Superheldin auf dem Breitkord hätte im Prinzip jede beliebige Frau mit langen braunen Haaren sein können, aber für Eve und Rae war sie Wonder Woman, und das war alles, was zählte.

    Sticken ist eine unterschätzte Kunstform, denkt Rae. Sie ist sehr geschickt im psychologischen Geländefahren, nutzt jeden Seitenweg, der sich ihr bietet, denn wie sonst sollte sie Momente wie diesen überstehen? Das ist viel besser, als den furchtbaren Gefühlsmix zu ertragen, den ihre Mutter in ihr auslöst: Ekel, Angst, Mitleid und Verachtung, eingerollt in die schäbigste Art von Liebe, und das ist nur die Vorspeise.

    Rae sieht zu dem seltsamen Duo, das vom ursprünglichen Song abgewichen zu sein scheint, die Köpfe in dissonanter Anarchie in den Nacken geworfen.

    Sie wendet den Blick ab, betrachtet stattdessen das Bild, das an der Wand hängt, eines der wenigen Dinge in diesem Haus, die sie tatsächlich mag. Es zeigt eine blaue Küche, ein helles Fenster und einen langen Tisch. Auf diesem Tisch liegen frisches Brot, Butter, Käse und Obst. Daneben steht ein Krug mit Wasser und eine Flasche mit etwas Spanischem, Süßem, zutiefst Alkoholischem; so hat Rae es zumindest immer gesehen. Es ist ein Stillleben, aber für sie ist es alles andere als still. Als Kind hat sie oft stundenlang auf dem Sofa gelegen und dieses Bild angeschaut, sich vorgestellt, wie alle möglichen Leute in die Küche kommen, Kerzen anzünden und sich um den Tisch versammeln. Diese Leute aßen und tranken bis in die frühen Morgenstunden. Sie sprachen über all die Vorteile der menschlichen Existenz, wie Kino, Meer und Wälder. Sie rückten zusammen, verliebten sich.

    Sie merkt, dass Pauline zu ihr sieht. Ist das Hass in ihrem Gesicht? Ach, komm. Woher hätte sie denn wissen sollen, dass Rufus mitsingen würde? Dass er ihre Mutter anfeuern und bestärken würde?

    Ihre Schwester macht irgendwelche Mundbewegungen.

    Was?, fragt Rae tonlos zurück.

    WAS SOLL DER SCHEISS?, brüllt Pauline.

    Rae ist fest entschlossen, sich bei Fremde auf Zeit – oder kurz FaZ –, wo sie Rufus gebucht hat, zu beschweren. Schließlich hat sie nicht um einen extrovertierten Sänger gebeten, der sich so sichtbar wie nur möglich macht, sondern ausdrücklich um eine Heimtextilie. Ich brauche diesmal einen Mann, der mich zu einer Familienfeier begleitet, für einen Nachmittag und Abend, hat sie geschrieben. Er soll für mich so eine Art Kissen sein. Sie wissen doch, dass Stoffe die Geräusche in einem Raum schlucken? Nun, ich möchte, dass er den akustischen Ausstoß meiner Familie absorbiert, quasi wie ein Schalldämpfer. Das sind die Vorgaben. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine, und freue mich auf Ihre Rückmeldung. Mit besten Grüßen, Rae Marsh. PS: Die Verbesserungen, die Sie an Ihrer App vorgenommen haben, sind ausgezeichnet, vielen Dank.

    Es verschaffte ihr Vergnügen und ein seltenes Gefühl von Wichtigkeit, das Wort Vorgaben zu tippen, jemandem Anweisungen zu geben. Und obendrein hatte sie dadurch ein Geheimnis gegenüber ihrer Familie, eine weitere Barriere, die den Abstand, und damit ihre Schutzzone, vergrößerte.

    Rae ist süchtig nach der Fremde-auf-Zeit-App. Sie findet es unwiderstehlich, sich einen Fremden zu buchen, der sich neben sie ins Kino setzt oder mit ihr durch ein Arboretum geht. Am besten gefällt ihr daran, dass der Druck wegfällt. Sie muss sich nicht anstrengen, nicht geistreich und witzig sein, sich nicht fragen, ob der andere vielleicht mehr will – und falls nicht, warum nicht. Aber vor allem gibt es dabei keinen Bumerangeffekt; das ist Raes Wort dafür, was passiert, wenn man jemand Neues kennenlernt. Du gibst etwas über dich preis, in dem Glauben, dass diese Offenbarung zu diesem Augenblick, zu diesem speziellen Gespräch gehört, und wenn ihr euch das nächste Mal trefft, dann fliegt es dir – PENG – um die Ohren, weil dein neuer Freund, deine neue Freundin plötzlich wieder davon anfängt. Jemand Neues kennenzulernen – die Kontinuität, die Unvorhersehbarkeit – ist beunruhigend, um es mal vorsichtig auszudrücken. Und bei FaZ gibt es keine Kontinuität. Keinen Bumerang. Die Person, die Rae bucht, ist einfach ein Körper neben ihr, während sie ihr Ding macht, den sie wegschicken kann, wenn sie will, und nie wiedersieht.

    Du kannst jetzt gehen, sagt Rae im Flur zu Rufus.

    Er sieht auf die Uhr. Wirklich? Ich wollte nur kurz zur Toilette. Ich muss noch nicht weg.

    Keine Sorge, ich bezahle die volle Zeit. Genau genommen habe ich schon online bezahlt, also –

    Aber ich bleibe gerne noch.

    Geh einfach, sagt sie.

    Warum? Habe ich dich enttäuscht?

    Sie erwägt zu antworten, ja, du bist genauso verrückt wie meine ganze Familie, ich weiß gar nicht, warum ich so einen Aufwand betrieben habe. Wenn ich’s recht bedenke, will ich mein Geld zurück.

    Nein, alles in Ordnung, sagt sie. Aber bitte geh jetzt.

    Ist dir bewusst, dass du kein einziges Mal gelächelt hast, seit wir hier angekommen sind?, fragt er.

    Wie bitte?

    Es ist mir egal, wenn du mir eine schlechte Bewertung gibst. Manche Leute brauchen einfach jemanden, der ihnen den Spiegel vorhält. Du hast eine wirklich interessante Familie, und trotzdem bist du die ganze Zeit muffelig. Ich wünschte, meine Familie würde singen.

    Was weißt du denn über meine Familie? Denkst du, zu einer einzigen Party zu kommen verrät dir alles?

    Kleiner Streit unter Liebenden?, fragt Pauline, die sich an ihnen vorbeizwängt, um sich noch ein Glas Bacardi-Cola zu holen.

    Er ist nicht mein Freund, erwidert Rae.

    Allerdings nicht, sagt Rufus. Kein Wunder, dass du jemanden dafür bezahlen musst, damit er dich begleitet.

    Was dann passiert, wird Rae noch jahrelang verfolgen, trotz aller Verdrängungsversuche. Zahllose Male hat sie miterlebt, wie die Mitglieder ihrer Familie wütend geworden sind, Türen zugeknallt, lautstark gestritten, sich wichtiggemacht und herumgezetert haben – alle, bis auf ihren Vater. Die ganze Zeit war sie überzeugt, dass sie anders ist. Ein schwarzes Schaf auf einer separaten Wiese, würdevoll und intelligent, das besseres Gras frisst. Eine Frau, die wenig trinkt und ihre Gefühle im Griff hat. Die niemals rüpelhaft oder gewalttätig ist. Die niemals auf die Idee käme, die Hand zu erheben und im Flur ihres Elternhauses einen Fremden zu ohrfeigen –

    Beide taumeln erschrocken zurück.

    Großer Gott, sagt Rufus, die Hand auf seiner linken Wange.

    Scheiße, sagt Rae. Das tut mir leid. Ich habe noch nie jemanden geschlagen, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es war wie ein Reflex. Es tut mir wirklich furchtbar leid.

    Jetzt weint Rufus, murmelt, dass er diesen verdammten Job hasst, dass er besser bei Sainsbury’s geblieben wäre, warum muss immer alles schiefgehen.

    Rae ist ein offener Mund, eine zugeknöpfte Strickjacke, ein gesprungener Spiegel.

    Rufus war voller Gesang, und jetzt ist er verstört.

    Wie sich das Leben in einer Sekunde verändern kann.

    Du darfst mich nicht verurteilen, sagt sie.

    Was?

    Du musst neutral und gleichgültig sein.

    Gleichgültig?

    Ja. Das bedeutet –

    Ich weiß, was das bedeutet.

    Du hast mich beleidigt.

    Rechtfertigt das Gewalt?

    Gewalt kann man das ja wohl nicht nennen.

    Wenn ich eine Frau wäre, und du wärst ein Mann, würdest du es dann Gewalt nennen?

    Rae verzieht das Gesicht. Weil er recht hat.

    Brauchst du eine Umarmung?

    Eine Umarmung?

    Sie nickt.

    Nein, brauche ich nicht, sagt er, tritt aber trotzdem auf sie zu und schluchzt an ihrer Schulter.

    Sherry kommt aus dem Wohnzimmer und sieht, wie ihre Tochter einen Mann umarmt. Was für ein Anblick! Wie die Morgensonne, die zwischen ihren schlecht schließenden Vorhängen hindurchscheint. Wie die Entdeckung einer wertvollen Antiquität, die jemand auf dem Flohmarkt ahnungslos für fünfzig Pence verkauft. Sie eilt zu ihnen und wirft die Arme um Rufus.

    Und dann sind sie zu dritt.

    Gruppenumarmung, sagt Sherry.

    Herrgott noch mal, sagt Rufus und fährt herum.

    Oh, Sie weinen ja, sagt Sherry. Warum denn? Was hat meine Tochter Ihnen getan?

    Ich fürchte, sie hat mich geschlagen.

    Rae?

    Ganz recht.

    Unsere Rae?

    Sie hat mir eine Ohrfeige verpasst.

    Und deswegen weinen Sie? Was sind Sie denn für ein Mann? Gütiger Himmel, am liebsten würde ich Ihnen gleich noch eine verpassen. Sie haben es geschafft, Leidenschaft in einer Frau zu wecken, die normalerweise so fade ist wie ein Butterkeks, und da fangen Sie an zu heulen?

    Er weckt keine Leidenschaft in mir, sagt Rae.

    Ach, sei still, sagt Sherry.

    Sag mir nicht, dass ich still sein soll.

    Ihr jungen Leute weint wegen allem und jedem. Siehst du mich vielleicht weinen? Dabei würde ich mir manchmal auch gerne die Augen ausheulen.

    Schweigen.

    Rae und Rufus sehen sich an.

    Ich mag Butterkekse, sagt Rufus.

    Danke, sagt Rae. Dann stockt sie und blickt auf die Wand, auf die fliederfarbene Velourstapete, die sich ablöst. Warum hat sie ihm gerade gedankt? Du tust es schon wieder, Rae. Ordnest dich unter. Du bist kein verdammter Butterkeks!

    Sie ruft ein Taxi, und auf dem Weg in die Stadt besteht Rufus auf einem Zwischenhalt bei McDonald’s, damit sie ihm als Wiedergutmachung ein Happy Meal kaufen kann. Mit Junkfood hat sie sich noch nie entschuldigt. Das Taxi setzt ihn fünf Straßen von seiner Wohnung entfernt ab, weil er seine Privatsphäre wahren will. Womöglich, sagt er, taucht sie sonst mitten in der Nacht auf und verpasst ihm noch eine Ohrfeige. Wer weiß, vielleicht hat sie ja ein Problem, vielleicht ist sie eine zwanghafte Ohrfeigerin. Sie muss lachen und steckt ihm zwei Zehn-Pfund-Scheine in die Jackentasche, was sich verschwenderisch und aufregend anfühlt, als hätten sie den Abend mit etwas viel Anrüchigerem als einem Familienfest zugebracht. Betrachte es als Trinkgeld, sagt sie, während der Taxifahrer sie mit großen Augen im Rückspiegel beobachtet. Du machst deswegen doch keinen Ärger, oder?, fragt sie. Es tut mir wirklich sehr leid. Tja, das wirst du dann wohl abwarten müssen, erwidert Rufus, der das Gefühl von Macht genießt, das Gefühl, mehr zu wissen als sie, sie in der Hand zu haben. Dann steigt er mit seinem Happy Meal aus, und sie sitzt allein auf der Rückbank des Taxis. Alle Achtung, sagt der Taxifahrer. Wie bitte?, entgegnet sie. Schön für Sie, von wegen Frauenbewegung und so.

    Zu Hause duscht Rae und zieht sich ein altes T-Shirt an, dann kocht sie sich einen Kamillentee und liest laut vier Gedichte, um sich zu beruhigen.

    Ab morgen wird sie versuchen, das mit der Ohrfeige zu vergessen, und ihre Familie sowieso. Sie sind einfach Leute, die sie kennt und mit denen sie, bis sie achtzehn war, zu viel Zeit verbracht hat. Sie haben wenig mit ihrem täglichen Leben zu tun. Sie definieren und repräsentieren sie nicht. Und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder einen Menschen schlägt – es war ein Ausrutscher, weiter nichts, ein unwillkürliches Fehlverhalten, vollkommen untypisch und bestimmt durch irgendeinen Mangel hervorgerufen. Sie wird zum Arzt gehen und um eine Blutuntersuchung bitten, ein gutes Multivitaminpräparat kaufen und wieder Porridge zum Frühstück essen (sie ist sicher, dass sie ruhiger war, als sie noch Porridge gegessen hat). Und sie wird sich den größten Kopfhörer kaufen, den sie finden kann, mindestens so groß wie der, den sie früher hatte, und ihn so oft wie möglich aufsetzen.

    Während sie einzuschlafen versucht, denkt sie an diesen alten Kopfhörer. Oft hat sie ihn in die riesige Stereoanlage im Wohnzimmer eingestöpselt und sich danebengesetzt, aber meist hat sie den Stecker einfach in ihrer Hosentasche versenkt. Diese Kordhose war genial, denkt sie. Eve hat die Wonder Woman so toll hingekriegt. Eve hat auch Kekse gebacken und sie in einer Zellophantüte mit Schleife rübergebracht. Einmal hat sie sogar einen Rock für Raes Mutter genäht. Sie war vernünftig und großzügig, ganz anders als all die anderen Freundinnen und Nachbarinnen danach, die Zeit mit Sherry Marsh verbracht haben. Das endlose Gegacker, die Piccolo-Abende, die Dessous-Partys.

    Rae zieht sich die Decke über den Kopf.

    Sie stellt sich vor, dass sie auf einer kleinen Insel lebt, wo sie ihre eigenen Kleider und Kerzen herstellt, ihr eigenes Gemüse anbaut und eine

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