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Tod an der Hase
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eBook260 Seiten3 Stunden

Tod an der Hase

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Über dieses E-Book

Die Osnabrücker Polizei tappt im Dunkeln, als ein stadtbekannter Unternehmer eines Morgens nackt am Ufer der Hase gefunden wird. Die Leute hatten den Tod des Unsympathen diskutiert – fand sich nun tatsächlich jemand, der die grausame Aufgabe übernahm? Eine junge Frau gerät ins Visier der Ermittlungen, aber Hero Dyk glaubt an ihre Unschuld. Als erfolgreicher Autor kennt er sich aus mit Recherchen und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Doch selbst seine Phantasie reicht nicht aus, der Strategie des Mörders zu folgen.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmons Verlag
Erscheinungsdatum21. Apr. 2016
ISBN9783863587093
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    Buchvorschau

    Tod an der Hase - Heinrich-Stefan Noelke

    Heinrich-Stefan Noelke wurde 1955 in Versmold in Ostwestfalen geboren und erlernte zunächst den Beruf des Metzgers. Es folgte ein Studium der Betriebswirtschaft, unter anderem in England und Frankreich. Als Unternehmer war Heinrich-Stefan Noelke in der Fleischwarenbranche tätig, längere Zeit davon in Spanien. Er wohnt seit drei Jahren mit seiner Familie in Osnabrück. »Tod an der Hase« ist sein erster Kriminalroman im Emons Verlag.

    www.hsnoelke.de

    Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Vieles kommt dem Autor sehr bekannt vor, aber wie in jeder guten Geschichte ist nichts davon wirklich geschehen.

    Die Livemusik in dem Kulturcafé Erdbeerblau hat mich zu vielen Ideen inspiriert, die in diesem Roman eine Rolle spielen. Das Café musste zum 31. 12. 2009 geschlossen werden, die Musiker sind umgezogen ins big Buttinsky in der Johannisstraße. Es gibt in Osnabrück weitere Lokale, die Musikern eine offene Bühne bieten. Ihnen verdankt die Stadt eine ganz besondere Atmosphäre.

    © 2014 Hermann-Josef Emons Verlag

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlagfoto: Lena Gartner

    Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch

    eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

    ISBN 978-3-86358-709-3

    Niedersachsen Krimi

    Originalausgabe

    Die im Text aufgeführten Zitate von Rainer Maria Rilke entstammen dessen Duineser Elegien (erste, dritte, sechste und siebte Elegie; Reclam 1997).

    Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:

    Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

    MONTAG

    Tondokument von Montagnachmittag, dem 1. Januar

    Niederschrift durch Kommissar Karl Heeger

    Der Zeitstempel der Datei markiert den Beginn der Aufnahme um 16.56 Uhr. Zunächst ist zaghaftes, leises Atmen zu hören. Entfernte Stimmen im Hintergrund, unverständlich.

    Mein Mädchen.

    Pause. Ein paar Sekunden Stille, dann ruhiges Atmen.

    Mein Mädchen,

    ich schlafe jetzt etwas besser und beruhige mich ab und zu. Die Tabletten nehme ich nicht mehr, denn zunehmend lehne ich es ab, solche Hilfe zu akzeptieren.

    Eine Frau im Hintergrund ruft laut: »Kaffee kommt gleich!« Lachen. Ein Stuhl wird energisch zurückgestoßen. Schritte entfernen sich vom Mikrofon. Eine Tür wird zugeworfen. Die Stimme klingt jetzt ärgerlich und weiter weg, nähert sich aber sofort wieder. Jemand geht hin und her. Ein leichter Hall liegt über dem Ton, wie aus einem kahlen Raum.

    Ich fürchte oft, verrückt zu werden, aber das sind sicher die Jahre. Nur die Angst bleibt ständig bei mir. Erinnerst du dich an meine Angst? Ich stecke voller Furcht. Und Wut natürlich, diese blinde Wut, die mir viel besser gefällt. Sie hat schwarze Segel, die man setzen und in den Wind zerren kann. Furcht und Wut sind nun ein fester Teil meines Wesens. Nur manchmal noch spüre ich eine halb verschüttete Freude.

    Die Person nimmt offenbar Platz am Tisch, auf dem das Tonband steht: lautes Rumpeln und Räuspern.

    Sie benötigt stets einen Anlass, diese Freude, um sich bemerkbar zu machen. Das entlarvt sie als falsch. Aufgesetzt. Es fällt mir schwer, fröhlich zu sein. Die Furcht dagegen braucht nie einen Grund. Ich kann sie spüren wie ein Sediment, das stets in mir treibt.

    Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr.

    Die Stimme klingt zunächst zögernd, dann flüssig, fast hastig.

    Heute Nachmittag hielt vor mir das Auto einer Sozialstation an einer Ampel. Das sind die, die die Alten und Kranken pflegen. Sie sind auch an Neujahr im Dienst, das macht man sich gar nicht klar. Das Firmenlogo fiel mir auf: In der Mitte sieht man eine aufrechte Person, die beide Arme ausstreckt. Ihre Rechte reicht sie jemandem, der im Rollstuhl sitzt. Die Linke stützt einen anderen Menschen, der sich voller Dankbarkeit verneigt. Das Bild gibt mir Orientierung. So jemand weiß, wohin er gehört.

    Mit diesem Eindruck beginnt für mich das neue Jahr. Hast du jemals Rilke gelesen? In den Duineser Elegien zeigt er Engel, aber wir können nichts mit ihnen anfangen. Sie strahlen viel zu hell. Es macht mich traurig, so nutzlos zu sein.

    Im Hintergrund ist deutlich das Schlagen einer Turmuhr zu hören. Fünf Schläge.

    Ich muss aufbrechen, hörst du? Aufbrechen. Aber nicht ohne meine Tochter.

    Dieser Reporter bat mich, seinem Forum beizutreten, weil ich wertvoll sei für die Gemeinschaft dort. Stell dir vor, man ruft nach mir! Ein ganz neuer Horizont. Ich kann einen Computer bedienen, man kennt mich jetzt als »Pocahontas«. Wie gefällt dir der Name? Ist mir eingefallen. So hieß die Tochter eines Indianerhäuptlings, die sich im sechzehnten Jahrhundert schützend vor einen englischen Kapitän warf. Man hat sie nach England entführt, wo sie elend starb. Es sind gute Menschen, von denen ich im Netz erfahre, und es sind so viele. Sie zeigen sich empört über die Mächtigen dieser Stadt und das mit Recht. Manche Geschäfte machen schon zu, weil die Leute kein Geld mehr verdienen. Es heißt, dass man sich wehren soll. Kohn will seine Fabriken schließen, da man ihn verärgert hat. Er schmollt, stell dir vor. Wenn ich an all die Arbeitsplätze denke, über die er herrscht, und die vielen Tiere, die er schlachtet.

    Mein Gott, wie sehr ich mich fürchte! Aber ich habe verstanden! Ich bin ruhiger geworden, glaub es mir. Nur wehren will ich mich.

    Bei Rilke las ich Folgendes: »Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zu Hause sind in der gedeuteten Welt.«

    Klingt das nicht herrlich? Die gedeutete Welt. Man müsste wissen, was gemeint ist! Ich höre dich rufen, mein Kind. Ich lasse nicht los!

    Laut Zeitstempel wurde die Aufnahme um 17.05 Uhr gestoppt.

    ***

    Das neue Jahr begann an einem Montag, und der Tag war fast vorüber, als Gerda Lottenburger sich durch den Osnabrücker Bürgerpark schlich. Sie hielt ihre blutende Hand und sah sich mit weit geöffneten Augen um, dabei stolperte sie mehr, als dass sie ging. Ihre leichten Schuhe fanden auf dem gefrorenen Rasen keinen Halt, das helle Blouson war blutverschmiert und viel zu dünn für die Nacht. Sie sah entsetzlich aus, das Gesicht stark aufgedunsen. Auf Nase und Wangen ließen rote Kapillaren auf Alkohol schließen. Ihre Haare hingen strähnig und verklebt bis auf die Schultern.

    Gerda Lottenburger wirkte nicht wie eine routinierte Obdachlose. Die Auflösung ging über das übliche Maß hinaus, an das man sich gewöhnt hat. Aus Versehen schien sie in eine falsche Ordnung geraten zu sein, mit der sie nicht zurechtkam.

    Der Bürgerpark liegt oben auf dem Gertrudenberg. Man hat ihn allen Bewohnern der Stadt gleichermaßen gewidmet, den guten wie den schlechten. An seinem Rand stehen die uralten Gebäude des Niedersächsischen Landeskrankenhauses. Von dort war sie entkommen, aus der Aufnahme in die Psychiatrie. Die geschlossene Abteilung ist weit offener, als man meint. Es handelt sich nicht um ein Gefängnis. Gerda entkam, noch bevor sie registriert werden konnte, weshalb ihre Flucht zunächst nicht auffiel.

    Sie wurde gehetzt von einer Angst, die sie selbst kaum begriff. Man hatte ihr helfen wollen, aber das ließ sie nicht zu. Brave Menschen aus Osnabrück fanden sie am späten Nachmittag in den Straßen nahe beim Bahnhof. Sie hatte sich an den Scherben geschnitten, in denen sie lag, wehrte sich, als man ihr helfen wollte, ein völliger Absturz.

    Wohin sollte sie sich nun wenden? Sie kannte mal ein Haus, gar nicht weit weg und älter selbst als das Krankenhaus. Sie wusste noch, wo das war!

    Gerda stolperte zu Tal, geriet bald aus dem Park hinaus, drückte sich an Steinmauern vorbei und fand sich schließlich im Norden des Geländes wieder. Sonnenhügel wird das Viertel genannt. Die Nässe der vergangenen Tage war tiefgefroren. Es hatte aufgeklart, der Himmel lag offen und zeigte seine funkelnden Sterne. Einzelne Schneeflocken hingen in der Luft, obwohl es kaum Wolken gab. Es war die Art Flocken, nach denen man gerne lachend schnappt. Kalte Hauswände reflektierten das Schaben ihrer Schritte.

    Gerda blieb stehen und sah sich um. Sie sollte sich links halten, nach links, dann wären es nur ein paar Schritte. Doch sie zögerte. Man durfte sie nicht finden. Gerda ging nur selten noch den geraden Weg.

    Um diese Zeit waren kaum andere Leute unterwegs. Erst zehn Uhr am Abend, doch wenig Verkehr in den dunklen Gassen. Ein lachendes Paar, beide etwas jünger als Gerda. Sie gingen vorbei, drehten sich zwar um, neugierig, ließen sich aber nicht lange stören.

    Gerda spannte ihren dürren Körper und schien neuen Mut zu fassen. Sie staunte über ihre blutende Hand, als ob sie nicht wüsste, wo sie sich verletzt hatte.

    Es gellte ein Pfiff durch die Nacht, als sie die Ziegelstraße erreichte. Köpfe drehten sich im Dunkeln, jemand sprang auf die Füße. Mit knappen Gesten lösten sich einzelne Gestalten aus dem Dunkel heraus. Junge Leute trafen sich hier. Selbst im Winter scheint das attraktiver zu sein, als zu Hause zu hocken.

    Gerda schreckte zurück und duckte sich in den Schatten einer Mauer. Sie kannte das junge Mädchen dort, das ganz in Weiß gekleidet war. Es stand breitbeinig mitten auf der Straße und wartete, dass man ihr den Grund für den Pfiff nannte. Einer der Jungen informierte sie flüsternd, das Mädchen nickte kurz und entließ ihn. Sie sah sich um, fast protzend mit dem Weiß ihrer Kleidung in der dunklen Nacht, dann nickte sie erneut, und die Jugendlichen um sie herum entspannten sich.

    Gerdas Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, als spürte sie jetzt erst, wie kalt es war. Sie zog sich zurück und schlich einen Weg entlang, der außerhalb der alten Klostermauern verlief. Ein Umweg durch die Schrebergärten. Links biegt nach hundert Metern ein weiterer Weg ab, der zu Terrassen hinunterführt, über die sie die Ziegelstraße von der nordwestlichen Seite her erreichte.

    Hübsche alte Häuser gibt es dort am Hang, vor allem die mit dem Gesicht zur Stadt. Die auf der anderen Straßenseite wirken weit weniger ansprechend, man hatte die meisten von ihnen nach dem letzten Krieg neu bauen müssen. Gerda sah zu den hell erleuchteten Fenstern hoch und zu der Wärme, die sie versprachen. Da saßen Menschen an Kaminen und lasen in Büchern. Sie füllten Lottoscheine aus, redeten miteinander und liebten sich lauthals, geschützt von all dem Licht um sie herum, von Fensterscheiben, die das Dunkel fernhielten. Die Welt dort drinnen lässt sich von außen nur ahnen. Das Leben hält sich nachts gern in solch hellen Löchern auf. Die im Dunkeln sehen zu.

    Gerda machte sich klein vor Angst und schlich einen dunklen Feldweg hinunter, dann über ein brachliegendes Gelände hinter dem Hasetor-Bahnhof. Über den Nonnenpfad, eine helle, breite Straße, wollte sie den Gertrudenberg wieder hinaufgelangen, in weitem Bogen um die Jugendlichen herum, bis zu dem Haus, das sie suchte.

    Sie hatte das Licht noch nicht wieder erreicht, als von oben, von dort, woher sie kam, der Pfiff gellte, den sie schon kannte. Auch hier lagen die Posten der Lumpen, auf Zerstreuung lauernd, auf einen Zeitvertreib. Der Zufall hatte die Aufmerksamkeit auf Gerda gelenkt. Zwei der Jugendlichen, halbe Kinder noch, hatten gesehen, dass jemand den dunklen Weg nahm. Sie riefen nur zum Spaß die anderen herbei, man könnte ihnen dafür kaum eine böse Absicht unterstellen.

    ***

    Die kleine schwarze Frau lag auf dem Sofa und schlief. Sie schnarchte leise, was seltsam beherrscht klang. Sie hatte sich in eine Wolldecke eingewickelt, der Fernseher lief. Er war auf einen spanischen Satellitenkanal eingestellt, der vornehmlich Berichte aus der besseren Gesellschaft brachte, Familienserien und Liebesfilme, Glanz, Glamour und Dramen, Softpornos für die weiblichen Zuschauer, vierundzwanzig Stunden am Tag und auch an Neujahr.

    Die kleine schwarze Frau hätte nie öffentlich zugegeben, dass sie gerne solche Sendungen sah. Sie hieß Francisca Dyk und war zweiundsiebzig Jahre alt. Ewig kalte Füße plagten sie, und ihr kräftiges Haar war ergraut, ansonsten konnte sie über ihre Gesundheit nicht klagen. Klar im Kopf, auch wenn sie ab und zu etwas eigenartig wirkte, fremd. Ihr Körper erreichte selten mehr als die Temperatur einer Leiche, und ihre Haut war bleich wie Elfenbein. Früher, als ihr Haar noch schwarz glänzte, hatte sie ausgesehen wie Schneewittchen.

    Mit einem dezenten Grunzen wurde sie plötzlich wach, so als ob es jetzt Zeit sei auf ihrer inneren Uhr. Sie blickte sich verwirrt um, starrte auf den Bildschirm, setzte sich langsam auf, ganz gerade, begriff resignierend, sammelte sich, blieb noch einen Moment so sitzen und griff sich schließlich mit der Motorik eines antiken Roboters ein Tablett, das auf dem Beistelltisch stand, um es in die Küche zu tragen.

    Die Spülmaschine war voll, also musste sie sie leeren, da sie sonst die eine schmutzige Tasse nicht wegstellen konnte, die auf dem Tablett stand. Es schien undenkbar, dass sie die Tasse bis zum folgenden Morgen stehen ließ. Nicht vom Verstand getrieben, sondern von eisernem Willen und jahrelanger Übung, stellte sie alles an seinen Platz und löschte das Licht. Sie ging ins Wohnzimmer zurück, schlug die Kissen aus, auf denen sie geruht hatte, faltete die Decke zusammen und knipste auch hier Licht und Fernseher aus.

    Dann zog sie mithilfe zweier Kordeln die Vorhänge vor dem Panoramafenster auf, welches die gesamte Hausfront zum See hin einnahm. So blieb sie einen Moment stehen und sah in die Dunkelheit, schließlich zog sie die Vorhänge wieder zu. Ihr Haus war aus Holz gebaut und nicht sehr groß, aber es stand in einer exklusiven Lage in Lembruch am Dümmer See, genau dort, wo die Lohne herausfließt, sich kurz teilt, eine Insel bildet und hinterher wieder zusammenfindet, als sei alles nur ein verzeihlicher Scherz gewesen. An einer im Winter kahlen Trauerweide vorbei kann man von hier die Lohne entlangsehen bis zum See. Rechts und links der verwilderten Flussufer hat ein Segelklub vorsichtig Stege aus Holz und einen kleinen Hafen in das Schutzgebiet gebaut. Von den Stegen bleiben im Winter nur Gerüste übrig, alles andere wird weggepackt.

    Doña Francisca hätte niemals zugelassen, dass das Haus so blau gestrichen wurde, wie es nun einmal war. Sie hatte es nach der Scheidung zugesprochen bekommen, und da war es bereits blau gewesen. Ihr Mann, ein strohblonder Arzt aus Bramsche, der als junger Mann in den Gassen ihrer Heimatstadt um sie warb, hatte schon als Kind mit seinen Eltern die Ferien hier verbracht. Für ihn hatte das Haus Bedeutung gehabt, jetzt gehörte es Doña Francisca. Sie lebte seit dreißig Jahren am Dümmer, im Winter meist allein, da die Nachbarn während der kalten Monate woanders wohnten. Der Ort war ein schaler Ersatz für die Sandbuchten der spanischen Nordküste, an denen Doña Francisca aufgewachsen war. Santillana del Mar, so heißt der Ort, an dem sie zur Welt kam. Die Häuser dort sind aus Holz gebaut, ähnlich wie die am Dümmer. Auch dort sind die Bäume im Winter schwarz vor Nässe. Hier wie dort gibt es Segelboote wie auf jedem Wasser, obwohl sie das nicht interessierte, denn Doña Francisca würde nie eines betreten.

    Die Häuser am Dümmer See erinnern an Vogelnester. Sie sind klein und versteckt. Im Winter kann man sie durch die kahlen Hecken sehen, im Sommer gleichen sie Inseln. Zuflucht oder Gefängnis, wie man es nimmt. Wie die Vögel kehren die Leute im Frühling zurück und machen erst einmal alles sauber.

    Doña Francisca gab einen missbilligenden Laut von sich, eine Art Brummen, das allumfassend gehalten war, und nahm sich einen Wischmopp aus dem Schrank im Flur. Rückwärts zur Treppe in die oberen Räume gehend, wischte sie hinter sich her in dem Versuch, ein Ende zu finden. Die Welt mit ihrer Unordnung anzuhalten, und sei es für einen Augenblick.

    Oben öffnete sie die Tür zum Zimmer ihres Sohnes. Hier pflegte er zu arbeiten. Er schrieb Bücher, die sie nicht mochte. Tagelang trieb er sich in der Gegend umher, sah den Leuten zu und schrieb Geschichten über sie. Sein Vater hatte das nicht verstehen wollen, daran war die Ehe gescheitert, denn sie hielt zu ihrem Sohn.

    Sie hatte ihm den Blick auf den Seglerhafen gelassen, da sie selbst sich meist im Wohnzimmer aufhielt. Doña Francisca hatte aufgeräumt, so gut sie es vermochte, als Hero nach Osnabrück gezogen war. Auf den Schreibtisch hatte sie ein Foto von sich selbst gestellt, denn all die anderen Fotos und Bilder, auch die schmutzigen, hatte ihr Sohn mitgenommen.

    Ein Lächeln zog drohend über ihr Gesicht, als sie den alten Wäschekorb sah. Dort hatte Hero oft nackt und rührend verschämt vor ihr gestanden, wenn sie an Waschtagen auch die Unterwäsche von ihm verlangte, die er am Leib trug, denn da sie sich darum kümmerte, sollte alles … wirklich alles … sauber sein. Ausschließlich in solchen Augenblicken, wenn all die Arbeit getan war, gelang es ihr, sich völlig zu entspannen.

    Wieder ließ sie dieses Brummen hören, dann zog sie die Tür zu. Es war kalt, und der Junge wohnte nicht mehr hier. Er lebte jetzt in Osnabrück. Doña Francisca seufzte, obwohl es ihr eigener Wunsch gewesen war, dass er ging. Sie hatte ihn vor die Tür gesetzt. Freiwillig wäre er nie gegangen.

    Auf wackligen Beinen stehend streifte sie sorgfältig ihre Kleider ab, löste den Haarknoten und putzte sich die Zähne. Sie zog ein weißes Nachthemd an, füllte eine Wärmflasche mit heißem Wasser aus dem Hahn, legte sie ins Bett, schlüpfte selbst dazu und lag schließlich wach bis zum Morgen, denn schlafen konnte sie nur vor dem Fernseher.

    ***

    Hero Dyk war ein stattlicher Mann mit heftigen, ausladenden Bewegungen, die dennoch etwas Ungelenkes und Verschämtes an sich hatten, wie man es oft bei großen Menschen findet oder bei solchen mit schlechten Zähnen. Trotz der kalten Jahreszeit war er braun gebrannt, seine Gestalt lang und sehnig, der Kopf etwas zu groß für den schmalen Körper, das Gesicht zu klein. Sein Schädel wirkte fast kahl geschoren, so kurz trug er die Haare. Sehnsucht lag in seinen ernsten Augen, der Mund war verkniffen und schmal.

    Er hatte zu viel getrunken und befand sich auf dem Weg nach Hause. Ein guter Freund begleitete ihn, Karl Heeger, Kommissar der hiesigen Polizei. Sie hatten sich dicke Mäntel angezogen. Der, den Hero Dyk trug, war lila, mit Daunen gefüttert und reichte ihm bis zu den Waden. Eine braune Bommelmütze wärmte seinen Kopf, den von Heeger zierte ein schwarzer Hut. Die beiden kamen aus dem Erdbeerblau, einer Musikkneipe in der Wachsbleiche. Es gibt mehrere solcher Lokale in der Stadt. An festen Wochentagen stehen die Bühnen offen für jeden, der ein Instrument beherrscht.

    Sie gingen an den großen Plakatwänden vorbei, die in der Bahnunterführung zum Nonnenpfad hängen. Manche davon waren ungenutzt. Weißes Papier. Jemand hatte etwas daraufgeschrieben.

    »Siehst du, was dort steht?«, fragte Hero Dyk.

    »Was?«

    »Yes we’re able to go without those stupid capitalists!«, las Hero Dyk lallend vor. »Das steht da auf Englisch.«

    »Wieso auf Englisch?«

    »Was?«

    »Warum steht das da auf Englisch?«

    »Man könne auf die Kapitalisten verzichten, steht da.«

    »Das ist Aufruf zum Mord«, schimpfte Karl Heeger. »Man sollte es herunterreißen.«

    »Dann schreiben sie es neu.«

    »Wieder runterreißen. Immer wieder runterreißen.« Heeger begann, kleine Fetzen Papier abzuziehen, bis er genug hatte. Dem Plakat konnte er keinen ernsthaften Schaden zufügen.

    »Lass das doch«, nuschelte Hero Dyk und hielt sich an seinem spindeldürren Freund fest. Die letzten Jahre seiner Schulzeit hatte er am Dümmer verbracht und mit Karl Heeger zusammen das Gymnasium besucht, so lernten sie sich kennen. Täglich gemeinsam mit dem Zug nach Diepholz und zurück, so wurden sie Freunde. Der eine wuchs ohne Vater in einem Ferienhaus auf, der andere stammte aus einer ortsansässigen Großfamilie. Hero Dyk bildete einen Farbklecks in der ländlichen Gegend, den Heeger in die örtlichen Jugendcliquen zu integrieren wusste, bis man den

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