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Nachhall
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eBook455 Seiten6 Stunden

Nachhall

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Über dieses E-Book

In ihrem zweiten Roman führt uns Beile Ratut nicht nur an die Grenzen ihrer Heldin, sondern auch an die Grenzen der menschlichen Existenz. Sprachgewaltig deckt sie die Täuschungen durch falsche Stimmen auf und zeigt, dass die alles entscheidende Frage ist, auf welche Stimme wir hören.

Espen Barthelemy, Tochter eines einflussreichen Politikers, hat inmitten einer scheinbar erneuerten, aber innerlich zerberstenden Welt eine Reise angetreten, auf die sie alles setzt und die an der Grenzstation bei einer fremden Stadt ungeplant unterbrochen wird. Um an ihr Ziel zu gelangen, muss sie sich dem Stimmengewirr der Welt stellen und, im Zerbrechen der Sprache, ihre Stimme und damit die eigene Geschichte finden.

Ratut erschließt dem Leser mit ihrer eindringlichen und bildhaften Sprache den zaghaften und doch unbeugsamen Überlebenskampf ihrer Heldin, ihr Ringen um Zugehörigkeit und Würde und ihre unermüdliche Suche nach einer Stimme, der sie sich bedingungslos und ungeschützt preisgeben kann.

Ein kompromissloses Buch über die Einflüsterungen, die die aufgeweckte Siebenjährige in den zerstörerischen Bann eines pädophilen Nietzsche-Anhängers lockten, Stimmen, die immer um uns und in uns sind und die jene zersetzen, die sie nicht mehr von den Stimmen, die uns ins Leben rufen, zu unterscheiden wissen.
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum1. Sept. 2014
ISBN9783885091127
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    Buchvorschau

    Nachhall - Beile Ratut

    Kindern

    I. 

    DIE STIMME

    Was hat es mit dem Wort auf sich? Was hat es mit der Zeit auf sich? Was hat es mit dem Reden und Schweigen, dem Erzählen und Verheimlichen, dem Wissen und Leugnen auf sich?

    In der Nacht versinkt Allewelt. Du wirst sie suchen, endlich suchen. Du wirst das, was du kennst, hinter dir lassen. Du wirst Gesten, Stimmen und Bilder zurücklassen. Das riesige Haus deiner Erklärungen wirst du nicht mehr betreten. Frost wird durch die Flure gehen, die Zimmer schmücken und die Fenster und Türen. Die Kälte wird alles erstarren lassen. Nichts wird dir bleiben. Du wirst lange wandern, von den Deinen fort, von deinem Blut und deiner Sicherheit.

    Endlich wirst du dich weinend in einem öden Land wiederfinden, sprachlos und ohne Begriff. Weil du nichts siehst, wirst du die Sterne sehen. Weil du nichts spürst, wirst du den Duft des Nachtwinds spüren. Und weil du nichts mehr weißt, wirst du alles erkennen. Dann wirst du zu den Menschen zurückkehren.

    Die Nächte werden dich an die Tage erinnern, das Schweigen an die Worte, die Worte an das, was nicht gesagt werden kann. Du wirst durch die Gärten gehen und das sehen, was hier nicht blüht. Du wirst durch die Schriften gehen und das lesen, was keiner niederzuschreiben vermag. In ihren Taten wirst du Wünsche spüren, in ihrem Eifer Angst und in ihren Herzen den Widerschein meines Geistes. Dann wirst du in der Zeit innehalten. Und du wirst wissen: Ich bin mit dir.

    II. 

    AN DER GRENZE

    Wie ihre Schritte durch die Dunkelheit eilten. Wie die Gerüche des Waldes in ihre Ungeduld stürzten. Wie ihr der Atem stockte. Unmöglich zu beschreiben. Was eilte sie so? Welche Ungeduld? Warum der schwere Atem?

    Hatte jemand sie gesehen? Sie hatte die Stadt erreicht. War sie blind, war sie taub? Hastige Schritte in Schuhen, die sie drückten. Weshalb die Hast? Wie ein Kind dachte sie: Blind bin ich, taub bin ich, dafür sieht man mich nicht. Denn ich sehe und höre nicht.

    Es hatte stundenlang geregnet. Espen hatte nicht mehr geglaubt, heute noch die Stadt zu erreichen. Schon lange war es Nacht, schon lange, und in den Schöpfen der Bäume verrauschte der Regen. Es gab keinen Mond, keine Sterne, und aus irgendeinem Grund waren die Laternen dunkel geblieben, so dass die Straße, auf der sie hierher gelangt war, nun wie eine vorsichtige Ahnung erschien. Hatte sie sich in der Finsternis, aus der sie kam, gefürchtet? Was war in ihr vor sich gegangen, als sie die seltsamen Geräusche hörte, die der Wald formte? Wenn sich die Blätter im Regen und in den nächtlichen Lichtschimmern schüttelten. Wenn krachend der alte Baum fiel, den die Schmarotzer nagten. Wenn sich irgendwo dröhnend der Wind wälzte. Wusste sie, dass es nur der Wald war? Wusste sie, dass der Wald um sie war, nicht in ihr, nicht in ihrem Atem, in ihrer Ahnung, ihrem Sinn?

    Manchmal waren Lastwagen an ihr vorübergerauscht. Mit der Plötzlichkeit einer ungewollten Bosheit. Die Regennacht spie sie aus und verschlang sie wieder. Hatte Espen sich erschreckt? War sie wie ein Tier in das Unterholz geflohen? Eine schmächtige Frau in einem durchnässten Mantel, sie wusste nicht mehr, ob sie ein Mensch war oder ein Tier. Hatten ihre schmerzenden Füße sie vom Weg abgedrängt? Oder war sie unbeirrbar weitergelaufen? Hatte sie geantwortet, als das Paar aus einem Wagen ihr anbot, sie mitzunehmen? Eine leise Stimme, ohne viele Nuancen, sie hatte sich bemüht, angemessen zu sprechen, ohne zu wissen, was angemessen war. Ihr feines Gesicht wirkte unscheinbar. Die nassen Haare hatten sich in dicken Strähnen um ihre Wangen gelegt. In einer unbedachten Bewegung hatte sie ihnen, als sie weiterfuhren, gewunken. Wem hatte sie gewunken? War da mehr als Nacht?

    Eine Straße unter schwarzem Himmel. Eine Stadt mit schlichten Häusern, efeubewachsen. Kleine Vorgärten, gusseiserne Tore, die Fenster abgedunkelt. Wie spät war es? War es Zeit? Doch es war nicht Zeit.

    Auf allen Seiten der Stadt breitete der Wald sich aus. Ohne Ende vielleicht. Sie konnte ihn riechen, die Luft trug den herben, dunklen Duft. Sie konnte es spüren, die Weite, die Ferne, sie wusste, dass sich der Nachhall wie Tau über die Felder und Wiesen gelegt hatte, heute, war es heute gewesen? Ja, in den Mandelfarben des Nachmittags hatte die Würze eines Gewitters gelegen. Dann hatten die Geister zu glimmen begonnen. Espen kannte den Dämmerhimmel, wenn die Sonne irgendwo in diese Ebene hineingestürzt war, sie kannte das sengende Purpurlicht, das die düsteren Wolken dann trugen. Eine träumende Frau. Eine unscheinbare Gestalt, die zwischen den Welten verlorenging. Ein fragendes Kind, das keine Antwort fand.

    Diese monotone Landschaft war es nicht wert, durch die Hand eines Malers gewürdigt zu werden. Was die Ferne betraf, so war sie nicht anders als die Nähe. Nur wenn man die Augen schloss und ganz ruhig atmete, konnte man sich darauf besinnen, in dieser Stadt zu sein. Die Düfte von Unkraut, das im Mauerwerk wuchs, hier und da das Rauschen der Kanalisation. Das Summen elektrischer Leitungen. Ein Hund, der irgendwo anschlug. Lichter in den Schaufenstern, ihr Flackern hallte auf der Haut wider. Die Gischt menschlichen Verlangens auf der anderen Seite einer Mauer. Die Ferne, die in der Nähe brannte.

    Espen öffnete die Augen, wischte sich die Nässe vom Mantel und blickte sich um. Sie war an eine Brücke gelangt, die über einen Bach führte, zu einem Platz. Dort stand eine schlichte Kirche.

    Bald musste die Turmuhr schlagen, bald war die Stunde voll. Espen lehnte sich an das Geländer und blickte hinab in das Wasser, das vorüberfloss. Laternenlicht glitzerte darin, die Nacht zerrte die Splitter von Licht, die Espen sekundenschnell entgegenblinkten, mit sich fort. Wie eilig der Strom durch die Schneise in die Finsternis wirbelte. Weit konnte ihr Blick dem Lauf des Wassers aber nicht folgen, bald schon war er in der Dunkelheit verschwunden.

    Ein plötzlicher Wind wühlte durch die Schneise und sprühte feine Funken auf ihre Haut. Espen war so müde, so weit gereist. Kaum konnte sie atmen. Hatte sie geglaubt, überhaupt so weit zu kommen? Doch noch war sie nicht am Ziel, lange nicht.

    Die Stunde war voll, aber es blieb still. Und doch schien es ihr, als könnte sie hinter den lichtlosen Fenstern Stimmen hören. Ihr geschah, wie es ihr meistens geschah. Im Mauerwerk öffnete sich ihr ein Gesicht, dann noch eines. Die Nacht besaß eine schöpferische Kraft, Espen fühlte sich beobachtet. Die Stadt erweckte in ihr den Eindruck, als tummelten sich hier unzählige Geister. Selbst sie war nun kaum mehr als ein Geist. Keine menschliche Gestalt. Nur ein bleicher Reflex, umringt von bedrohlichen Wesen. Jedoch wo waren all die Wesen? Espen konnte ihr Flüstern hören.

    Ein Radfahrer kam aus der Finsternis. Hatte er schon existiert, bevor sie ihn bemerkte? Er fuhr über die Brücke. Noch ehe Espen etwas rufen konnte, so schnell, war er auch schon über den Platz und in einer Gasse verschwunden. Die Finsternis hatte ihn wieder verschlungen.

    Ein Fensterladen schlug irgendwo gegen eine Hauswand, immer wieder. Doch mit einem Mal war es still. Einer kam, zu Fuß, und schob sein Rad neben sich her.

    Espen straffte sich und ging auf ihn zu. Er blickte sie nicht an, sah zum Kirchturm hinauf und murmelte etwas, das sie nicht verstand. Espen begann, zu ihm zu sprechen, doch er schien sie nicht zu hören. Da fasste sie seinen Arm.

    Er blieb stehen, blickte sie aber nicht an. Er schien verärgert.

    „Was willst du?", sagte er. Leise, beinahe flüsternd. Seine Stimme erweckte den Anschein, von weit her zu kommen, als habe die Zeit sie mit Rost überzogen. Sie war tief und hinterließ in ihrem Innern einen eigentümlichen Klang. Wie die Übereinstimmung mit einer Stimme, die schon lange da war und die ihr an einem längst untergegangenen Tag etwas zugeflüstert hatte. Hatte sie den Atem gespürt, der lockend und verächtlich zugleich ihren Hals hinabrann? Eine Stimme, nicht wiedergutzumachen, die selbst die Gegenwart verfärbte.

    „Ich bin fremd hier …", begann sie.

    Da unterbrach er sie und sagte unwirsch: „Ich weiß. Na und! Ich möchte nur wissen, weshalb die Uhr nicht schlägt!"

    Der Mann schwieg nun, blickte kurz zu Boden und dann wieder zum Turm der Kirche empor. Espen tat es ihm gleich. Das Schweigen war ihr unbehaglich, sie wusste nicht, was es bedeutete. Wieder hörte sie das Klappern von Fensterläden, und irgendwo ganz nah verriegelte jemand ein Tor.

    Espen wagte nicht, den Mann nach dem Ziel ihrer Reise zu fragen. Vorsichtig sagte sie: „Wie komme ich weiter nach Norden? Können Sie mir das sagen?"

    Jetzt wandte er sich ihr zu. Seine rechte Hand trommelte auf den Fahrradsitz. Sie wollte sofort etwas sagen, wollte es ihm erklären, irgendwie. Diese Anstrengungen, die Reise. Sie musste es ihm erklären. Nur nicht diesen Blick, nur nicht das Schweigen, das sie prüfte. Diese Anstrengungen, das vage Ziel, von dem niemand mit Gewissheit sagen konnte, dass es existierte, sie musste ihn danach fragen. Fragen, Klopfen, Pochen. Diese Hitze.

    Da sagte er: „Du hast es nicht gehört, nicht wahr?"

    „Aber nein", rief sie bestürzt. Was sollte sie auch sagen.

    „Ich werde mich bei dem Geistlichen beschweren, knurrte er. „Schon wieder! Aber das verstehst du nicht. Weißt du nicht, dass das nicht das erste Mal geschieht?

    „Nein, sagte sie, „ich bin nicht von hier.

    Er betrachtete sie eine Weile, er schien erstaunt. „Du schwindelst mich an, sagte er dann. „Ich kenne dich, bist du nicht die Kleine von den ehrenwerten Herrschaften? Es ist lange her. Ja. Lang!

    „Nein, ich bin fremd hier."

    Mit einem Mal begann er zu lachen, er konnte sich gar nicht wieder fassen. Sein Fahrrad fing an zu klappern, so wild lachte er. Doch es war kein schönes Lachen. Hörte sie darin die zahnende Stadt? Aber nein, gewiss täuschte sie sich.

    So lachte er eine Weile, Espen sagte nichts. Dann hustete er, wurde still und schwang sich auf sein Fahrrad.

    Er nickte ihr zu, rief: „Zum Haus der Freude, nicht wahr? Weite Reise, Mädchen. Weiter Weg."

    Wieder lachte er, tief und ohne Heil, dann fuhr er davon und ließ sie stehen.

    Die Stadt überließ sie völlig dem Eindruck der Leere. Die Häuser, wenngleich bewohnt, schienen unbewohnt. Espen konnte sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die hier lebten, die aus ihren Fenstern blickten und in den Höfen und den Straßen wimmelten. Menschen, die an den Wegrändern die Blumen pflückten und im Schatten der Bäume lachten. Nein, Geister waren es, nichts als Geister.

    Doch was wusste sie schon. Wer war sie denn. Sie wusste es nicht. Sie wusste auch nicht, wohin sie hätte gehen können, wen sie hätte fragen können. Einfach an einer Tür schellen, pochen, die Geister versuchen. Sie war wie ein Kind, das nicht unterscheiden kann zwischen den Geistern, die sie sieht, und der nüchternen Welt, die sie zu sehen hat. Sie dachte, dass der Mond ihr folgte. Sie dachte, dass die Sterne sich verbargen, weil sie nicht genug war. Es waren nicht die Menschen, die die Welt beseelten. Es waren die Geister. Es waren ihre Worte, ihre Stimmen.

    An einer Tür schellen, pochen, die Geister versuchen. Aber wenn ihr überhaupt jemand öffnen würde, so wäre es eine mürrische Frau. Der Geruch der Stube würde über die Schwelle dringen. Die Süße einer unbekannten Pflanze und der Geruch der gegen die Nächte verschlossenen Bündnisse.

    Die Frau würde nichts sagen, nichts, und sie nur anblicken. Was sah sie? Ein weitgereistes Mädchen, ein dreistes Kind, ein vergrämtes Weib. Ein schändliches Geschöpf in durchnässter Kleidung, das den Weg nicht kannte. Das zu unsittlicher Stunde um Rat bat. Eine überwältigte Stimme, eine Hand, unsicher, zaghaft, sie streckte sie ihr entgegen. Doch die Frau würde die Tür verschließen. Die Nacht gehörte den Geistern.

    Espen konnte plötzlich Stimmen hören. Männerstimmen, aufgeheitert und melodiös. Sie mussten ganz nah sein, kaum einen Straßenzug entfernt. Sie sangen ein Lied, das Espen noch kannte. Es wurde lauter, kam näher, dann verwirrten sich die einzelnen Stimmen, der Chor brach auseinander, floh in verschiedene Richtungen und löste sich in auseinanderstrebendem Geflüster auf.

    Ein Mann kam aus der Gasse auf Espen zu, die Stirn gesenkt, das Gesicht verborgen, als hätte er an einer Verschwörung teilgenommen. Ohne Espen zu beachten, eilte er vorüber und verschwand. Dann war es wieder still. Eine Katze saß auf einer Fensterbank und blickte sie an, ohne sich zu rühren.

    Der Wind fröstelte in den Straßen, es war Herbst geworden, so eilig. Vertrocknetes Laub fiel von den Zweigen herab und ging mit dem Wind, um dann, einige Sprünge entfernt, wie ein verwundetes Waldtier in einem Graben liegenzubleiben.

    Eine griesgrämige Frau würde anderntags die bunten Blätter zusammenkehren, um dann zuzusehen, wie die Kinder ihre Mühe zunichte machten. Sie sprangen in den Berg aus raschelnden, verlebten Sommererinnerungen hinein, warfen das Laub empor und gruben eine Höhle, denn eine Höhle hielt jeder Berg bereit. So glaubte das Kind, das sich lachend hineinsinken ließ, mit Händen und Füßen rührte und grub und über sich am Himmel das Laub sah. Es schleuderte die Blätter empor, die flogen, es lachte, es sang, dann kamen sie wieder, in unvorhersehbaren Kreisen, und bedeckten sein Gesicht, so dass es ganz verschwand in der Höhle, in der es umso feuchter wurde, je tiefer man sich grub. Ganz still zu sein dann, reglos. Wie herrlich. Niemand wusste um das verborgene Kind, das um sich den Geruch des Laubes spürte, niemand wusste, wie süß die Heimlichkeit war, die nur der Wind kannte, der verschwörerisch über das Laub strich. Durch die blutleeren Herbstfarben sah das Kind den Himmel, der fern war und schnell vorübereilte.

    Die Straße führte Espen an einen riesigen Garten voller Blutbuchen mit mächtigen Kronen. Inmitten des Gartens stand eine Villa. Das Völkerkundemuseum. Licht brannte in einem der Fenster, vor dem sich klamme Zweige rührten, die bereits ohne Laub waren. Espen lief in den Garten, der ihre unsicheren Schritte duldete. Das Fenster hatte keine Vorhänge, sie konnte hineinblicken. Sie sah, wie dort ein Mann auf und ab ging, in einem Raum, der Bilder und Bücher, Figuren, Erinnerungsstücke und unnennbare Einzelheiten barg. Er hatte sich ein Buch gegen die Brust geklemmt und dachte nach. Sie konnte sehen, wie er die Lippen bewegte.

    Espen seufzte. Sie hörte den Strom der Worte, die durch ihre Brust flossen, die Stimme von weit her, die Zeit hatte sie mit Rost überzogen. Die Welt war ein All von Bewegungen.

    In ihrem Innern war der eigentümliche Klang. Die Stimme, die schon lange da war und die ihr an einem längst untergegangenen Tag etwas zugeflüstert hatte. Sie trat an den Baum heran und umfasste die Rinde. Kalt war der Baum und riesengroß. Wie um auszuruhen lehnte sie sich gegen die Blutbuche, die zu pochen schien, zu pochen. Oder war es das eigene Pochen, ihre Erschöpfung, die sie hörte? – Die Welt war ein All von Bewegungen. Die Welt war die Magie des Zusammenprallens und Sichdurchdringens von Bewegungen. Nichts gab es, das war. Nichts. Es gab die Welten nicht, die dennoch waren, auch wenn der Mensch sie nicht erlebte. Es gab das Seiende nicht, das einfach da war. Es gab nur den Schein. Die Farben der Dämmerung, wenn Schatten über das Purpurlicht tröpfelten. Der Geruch der Wälder, in denen die Winde rieselten. Der raue Kuss der Kälte. Das freundliche Antlitz eines Mannes, der ihr eine Tür öffnete.

    Nichts war. Es erschien. So wie der misstrauische Denker sagte, es erscheine aufgrund der Gegenbewegung unserer Sinnesempfindungen. Wie die Dinge dem Menschen erschienen, so seien sie ihm. Ein anderes Sein der Dinge könne es als allgemeine Wahrheit nicht geben. War dies nun Absturz in Isolation und Einsamkeit oder die Überwindung des Herrschaftsanspruches einer anmaßenden Wahrheit, die den Menschen nicht mehr meinte? Hatten Meinung und Trugschluss jemals mehr Macht erhalten?

    Der Mann hatte innegehalten und das Buch zur Seite gelegt. Nun stand er mit dem Rücken zum Fenster vor einem der Regale und schien nach etwas zu suchen. Er fasste flüchtig seinen Nacken. Von irgendwoher drang ein Laut zu ihr herüber, Murmeln wie von einer sich ängstlich zusammenscharenden Gruppe Menschen, die man in die Ecke getrieben hatte.

    Espen spürte nun keinen Wind, doch die Schatten eines Strauches bewegten sich. Espen erschrak. Wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet. Aber gab es die von Bosheit erfüllten Wesen, die in den Nächten Wache hielten und auf das Mädchen warteten? Gab es die Verdammten, die durch die Wälder schlichen, auf der Suche nach dem Kind, das sich so sehr ängstigte, dass es mit seiner Angst diese Unversöhnlichen zum Leben erweckte?

    Hell und freundlich strahlte das Fenster des Völkerkundemuseums in die Nacht und erleuchtete den Schopf der Blutbuche. Der Raum war erfüllt von der Sammlerleidenschaft und der Geschäftigkeit eines fremden Mannes. Ein Zimmer der Gedanken und Erinnerungen. Ein Ort, der sich ihr niemals öffnen würde. Ein Geheimnis, das niemals aufhören würde zu sein. Wie gern wäre sie dort gewesen. Wie gern hätte sie Anteil an der Geschichte dieser Menschen. Wollte sie nicht mehr sein als die in ein unaussprechliches Geschick Gestoßene, deren Namen kein Geschichtsbuch nannte?

    Während sie noch bewegungslos in der Kälte stand, hatte sich der Fremde einen Ruck gegeben, einen Mantel vom Haken genommen und, nachdem er das Licht gelöscht hatte, das Zimmer verlassen. Eine Zeitlang war es ganz still. Dann hörte sie eine Tür ins Schloss fallen, ein Riegel wurde gesichert, und sie sah den Mann, der ein wenig gebeugt und manchmal leise zu sich selbst sprechend über einen unsichtbaren Weg ging, den Lichtkegel einer Laterne durchschritt und zwischen den Häusern der Stadt verschwand.

    Auf die Nacht lauschend, tastete sich Espen durch den Garten. Am nördlichen Ende des Grundstücks angelangt, entdeckte sie eine weitere Kirche, der ersten ähnlich, aber um einiges kleiner, schmucklos und dunkel. Daneben lag ein kleiner, moosüberwachsener Friedhof. Wenige Gräber waren zu erkennen, doch unzählige Windlichter leuchteten in der Finsternis.

    In einem großen Bogen ging sie um die Kirche herum. In einer Gasse fand sie ein Wirtshaus. Sie trat ein und verschluckte sich an der wüsten Luft. Schrille Musik und Gemurmel, Übellaunigkeit und Dusel. Einen Augenblick war sie wie gelähmt. Hitzige Aufmerksamkeit wollte sie fassen, sie durchdringen, sie schloss die Augen. – Blind bin ich, taub bin ich, dafür sieht man mich nicht. Denn ich sehe und höre nicht.

    Ihre Stirn pochte. Sie spürte einen Windzug, die Tür fiel hinter ihr zu.

    Sie öffnete die Augen und fand einen kleinen, schmutzigen Tisch in der Ecke. Sie setzte sich und bestellte bei der hageren Wirtin mit der fleckigen Schürze eine Mahlzeit. Wann hatte sie zuletzt etwas zu sich genommen? Sie aß, kam aber nicht zu Kräften. Erschöpft kauerte sie da. Der Raum um sie her schien weit in die Ferne gerückt.

    Der Mann am nächsten Tisch war eingeschlafen, den Kopf in den verschränkten Armen. Sie sah seinen Nacken, den unregelmäßigen Haaransatz. Eine Hautfalte, die sich seitlich zu seiner Kehle zog und in deren Rötung Feuchtigkeit glänzte. Espen spürte den Geruch seiner Haut, seine Wärme, seine Verstimmtheit. Sie spürte ihn um sich, in sich, seinen Schweiß, seinen Atem, seine Gleichgültigkeit. War es Schein? Waren es ihre Sinne, die sich irrten? Espen fasste sich an die Stirn, die heiß war und pochte, pochte vor Schmerz, wann würde es endlich aufhören, dieses Pochen, das ihren ganzen Körper wund machte? Vielleicht war es nur die Müdigkeit, nur der Hunger. Reisefieber womöglich. – Die Träume sind in der Nacht, die Namen sind in der Luft. Wovon man spricht, ist in der Luft, im Raum um uns her. Die Namen sind in der Luft und überall, wenn man von ihnen spricht. Die Träume sind in der Nacht, sie sind überall und nirgends.

    Espen umfasste sich, ihr Körper war matt und schwer, ihr Inneres von gleißenden Bildern erfüllt. Eine leichte Erkältung vielleicht. Müdigkeit womöglich. Erschöpfung. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Heute würde sie ausruhen, heute kam sie nicht mehr weit. Doch gab es die Nächte nicht, in denen sie zur Ruhe kam, stattdessen aufrührerische Ahnungen, fremdartige Laute. Das Böse. Niemandem konnte sie davon berichten, keinem erzählen, was es war, da war niemand. Stille. Taubheit. Träume, die sie erschütterten. Da waren auch keine Worte mehr, die ihre Bestürzung fassten, die sie aus Espens Mund in die Wirklichkeit eines anderen Menschen hätten tragen können. Keine Worte, nicht ein einziges. Gab es denn etwas Seltsameres als eine Frau, die schrie, obwohl da nichts war, überhaupt gar nichts, das wirklich war, das da war und sie bedrohte? – Die Träume sind in der Nacht. Die Träume sind in meinem Bett.

    Manchmal war es nicht einmal ein Traum, der ihr entgegenkroch, manchmal war es kaum mehr als ein Schatten ohne erkennbare Form, der sie dennoch erschreckte, weil sie nicht wusste, was sich dahinter verbarg. Wenn der Schrecken dann vorüber war, schlief sie wieder ein. Aber dieser Schlaf erschöpfte sie. Kaum wusste sie sich noch am Leben. Die Leere zerrte an ihr, und wenn sie erwachte, musste sie lange kämpfen, um sich aus der Betäubung zu befreien, nach Luft rang sie, nach Luft, kaum konnte sie atmen.

    Ohne ihren Durst stillen zu können, trank Espen von diesem Schlaf, sie gehörte ihm, den Träumen und den Bildern. Wie hätte sie denn leben können? Wie hätte sie ihr Dasein mit Freude füllen können?

    Sie war eine matte Gesellschafterin, eine träge Freundin, eine langsame Leserin, eine unfreudige Denkerin. Eine Frau von drei Jahrzehnten. Sie hatte ein Leben gelebt, in dem es keine Wagnisse, kein Überwinden und kein Versöhnen gab. Eine Tochter aus gutem Hause, dessen Erbe sie gerecht wurde, indem sie nie etwas gewagt hatte, das den Anschein hätte erwecken können, nicht etwa auch gut zu sein, anderes als das Kind zu sein, das der Mahnung des Vaters folgte, die Welt zu begreifen, weil die Welt sich ja nicht die Mühe machen würde, das ungeduldige Mädchen zu begreifen.

    Vielleicht hatte er sogar recht. War sie denn klug, war sie denn schön? Sie sah andere, die klug waren, die schön waren. Sie selbst aber konnte nie jemanden dazu verleiten, aus seiner Wirklichkeit herauszutreten, um die ihre zu erkunden.

    Hatte es in ihrem Leben Verzauberung gegeben? War sie Menschen begegnet, denen sie angehören wollte? Wie blickten ihr feines Gesicht, diese vorsichtigen, braunen Augen, wenn sie verzaubert war? War sie großzügig gewesen? Hatte sie gewagt, die Sanftmut, den Eigensinn und das Lachen, zu dem sie fähig war, zu verschenken? Hatte sie Zärtlichkeit empfunden? Oder hatte sie nachgegeben, aufgegeben, hatte ihre Zärtlichkeit verleugnet und ihre Sehnsucht auf Menschen geworfen, die fern waren, viel zu fern, um sie je zu erreichen? Menschen, die gebunden waren, an andere Menschen, an Erinnerungen und Verstrickungen, Menschen, die sich nicht nach ihrer Zärtlichkeit sehnten und die ihr niemals angehören würden. Hatte sie dieses Leben gelebt? Hatte sie dieses Nachtlied gesungen?

    Die Menschen glaubten, es sei ein Instinkt, der sie dazu verleitete, den Schmerz zu vermeiden. Doch konnte man Schmerz tatsächlich vermeiden? Existierte ein solcher Wille, der fähig wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen? Oder war es Zynismus zu behaupten, es gäbe ihn nicht, es gäbe das Subjekt im Angesicht des Schmerzes nicht? Das Subjekt selbst war Schmerz.

    Der Schmerz verwüstete die Räume der Erinnerung und zerstörte das riesige Haus der Erklärungen, so dass all jenes, das sich der Beurkundung widersetzte, hervortrat. Er war eine verquere, unartikulierte Sprache, die den menschlichen Leib, das Dasein, die Existenz durchströmte.

    Espen hatte ihre Rechnung beglichen. Die Wirtin hatte sie dazu gedrängt, sie hatte sich über sie gebeugt, so dass Espen ihren scharfen Geruch spürte.

    „Es hat geschmeckt, will ich hoffen", hatte sie gesagt und Espen angelächelt. Einer ihrer Schneidezähne war vergoldet, sie schien mit Absicht zu lächeln, wie um es Espen zu zeigen.

    Espen nickte und rückte ab. „Sagen Sie mir, ich will nach Norden, weiter nach Norden, so schnell wie möglich."

    Ihre Stimme war kaum zu hören. Jedes Wort schmerzte. In ihrem Hals dröhnte es. Dennoch bemühte sie sich, klar und deutlich zu sprechen.

    „Wer kann mir helfen? Gibt es jemanden, der mich dorthin bringen kann? Jemanden, der die Anstrengung auf sich nimmt, auch wenn der Weg noch weit ist? Natürlich werde ich dafür bezahlen, ich werde niemandem etwas schuldig bleiben."

    Die Wirtin schien einen Augenblick nachzudenken, dann setzte sie sich neben Espen, ganz nah, dieser Geruch, betäubend, kreisend. Sie blickte Espen an und lächelte. Der Zahn funkelte.

    Dann wurde sie vertraulich. Über ihr glänzendes Gesicht kam ein ernster Ausdruck, sie fasste Espens Arm und sagte: „Ist es nicht so, mein Kind, dass ein Lächeln immer seinen Kavalier findet. Der wird dich an alle Orte bringen. Schau dich nur um, schäm’ dich nicht! Schau nur all die Blicke, die dich suchen! Nie wirst du frei sein von diesen Blicken. Weshalb solltest du daraus nicht etwa Profit schlagen? Eine Hand wäscht die andere. Ein Kuss entzündet den nächsten. Es sind schon Mädchen an weniger zugrunde gegangen als du, gar keine Frage! Schau dich nur um, schäme dich nicht. Findest du nicht einen in dieser Stadt, der dein Tänzer sein wird?"

    Espen rückte ab: „Nein, nein. Doch die Wirtin drängte: „Haben doch sonst nichts zu geben, diese übelriechenden Leute, lassen wir sie also bezahlen, durch die eine oder andere Gefälligkeit.

    „Ich werde bezahlen, flüsterte Espen. „Ich werde jeden Aufwand entschädigen.

    „Was ist mit dir!, fuhr die Wirtin auf. „Was ist! Kaum bietet man dir Hilfe, wirst du störrisch! Kennst du keine Dankbarkeit? Dann wurde sie sanfter, zeigte ihr blinkendes Lächeln und flüsterte: „Hast du vergessen, wie viel Verheißung in einem Kuss steckt? Hast du vergessen, dass zum Glück zwei gehören: zwei Menschen, die einander angehören und ihr Geheimnis wahren?"

    Sie drückte Espens Hand, so dass es schmerzte. Ihr Atem blähte sich gegen Espens Wange. Sie wagte nicht, sich zu rühren. Schweigend saß sie da, was sollte sie auch sagen. Dann lächelte die Frau, ohne Wärme, und sagte: „Dir ist wohl nicht zu helfen, Kind! Geh zur Grenzstation! Am Waldrand im Norden. Die Stadt scheint schon zu Ende, und man glaubt nicht, dort noch ein Haus zu finden. Doch du gehst weiter, hundert Schritt durch den Wald. Dann findest du sie. Frag in der Grenzstation, wenn du meinen Rat nicht befolgen willst!"

    Sie erhob sich und verneigte sich vor Espen, als wäre sie jemand, der zu nichts imstande ist. Dann war die Frau fort.

    Hinaus in die Nacht hastete Espen, in die Nacht, die sie mit eisigem Atem empfing. Sie eilte durch die Straßen, eine glich der anderen, sie eilte durch die Gassen, tiefe Gassen, in denen sich die Stille in ihren Atem grub, die Finsternis in ihren Sinn. Hatte man hier je eine zweifelhaftere Gestalt gesehen?

    Der Wind, der ihr entgegenschlug, wollte sie hindern. Vom Wald kommend war er dunkel und erddufttragend, sie musste die richtige Richtung eingeschlagen haben. Bald öffnete sich die Gasse und führte in eine weite Allee. Espen gelangte in ein herrschaftliches Wohnviertel. Großzügige Steinhäuser in Gärten, die flüsternde Bäume beherbergten. Abweisend hüllten sich die Häuser in die Abgeschiedenheit der Nacht. Nirgends brannte Licht, nirgends erklangen Stimmen, in keinem der Fenster die Mutter, die in die Nacht spähte und auf das Kind wartete, dem sie ihre Tränen vorenthielt. In keinem Tor der Vater, der sich hinter Ermahnungen verbarg, wenn er die hinreißende Tochter erblickte, die ihm am Rand eines mit Abenteuern gewürzten Tages strahlend und erschöpft entgegeneilte. Nur hohe Mauern, abwartende Alarmanlagen, lauernde Wachhunde.

    Sie kam an einem Spielplatz vorüber, ein abschüssiges Gelände. Die Schaukel bewegte sich noch. Hatten die Kinder sich im Gebüsch vor ihr versteckt? An einer rostigen Kette, die ganz kalt war, hing ein schwarzer Reifen. Doch da, wo die Kinder sie umklammert hatten, klebten ungestüme Hitze und Schweiß.

    Die Kinder hatten sich vor ihr verborgen, sie mochten ihre Trauer nicht, ihre Schweigsamkeit war ihnen unheimlich. Espen konnte sie hören, aus dem Gebüsch drang Wispern. Sie sah Zweige, die sich bewegten. Welke Blätter rieselten herab. Warum aber hatten die Kinder diesen Wall aus Eingeweihtheit um sich errichtet? Warum hatten sie nicht, als sie das Mädchen sahen, auf sie gewartet, um sie in ihren Kreis zu lassen, damit sie ihre Rätsel mit ihnen teilen konnte? Hatte sie nicht ein ebenso helles Lachen, hielt sie nicht ebenso viele Rätsel bereit?

    Espen trat an das Gebüsch heran, sie zitterte. Ein Schritt in das Unterholz, das nach ihr griff. Dann sah sie es: Auf einer Bank krümmte sich ein halb entblößtes Liebespaar. Espen sah den Mann, jung war er nicht mehr, eine allzu heftige Bewegung verriet seine Ungeduld. Ungeduldig auch der Stoß, der allerletzte, sie konnte ihn spüren, diesen Schlag, mit dem er die Frau drosch, wie man Roggen drosch, sie konnte seinen Geruch spüren. Es war diese Ungeduld, die sich nach dem Ende sehnte, aber es gab kein Ende. Die Frau, die diesen Mann umfasste, sie hatte ihr Leben aufgewendet, um dieses Umfassen nicht offenbar werden zu lassen. Was hatten sie aber hier gesucht, gerade hier? Gab es nicht bessere Orte? Aber wo paarte man sich, wenn man im Verborgenen bleiben und die Unschuld besudeln wollte? Spürten sie doch den Willen, die Individuation des Menschen rückgängig zu machen. Trotz und Zorn des an seiner Vereinzelung zerbrochenen Menschen, Espen konnte es sehen.

    Die Nacht war lang und tief. Die Nacht hatte sie nicht vor Espen verborgen, doch die Nacht hatte Erbarmen mit den vergessenen Kindern, die im Verborgenen bleiben wollten.

    Sie ging weiter. Eine Siedlung mit schlichten, einstöckigen Häusern, ein Teich neben der Silhouette eines Denkmals, Wege von feinem, knirschendem Kies. Überall waren kleine, hübsche Gärten angelegt, in denen bei Tage ein Kind die Blätter zusammenrechen würde. Die Mutter würde lächelnd zusehen und die Blumenbeete für den Winter vorbereiten. Nun, in der Nacht, verschlossen sich diese Gärten vor ihr in ihrem schweigsamen Duft, und die Erde taumelte durch den dichter werdenden Nebel.

    Endlich fand Espen die Landstraße. Bald waren keine Häuser mehr zu sehen, und der Wald, der sie nun umgab, tauchte sie in Finsternis. Der Wind ging durch die Zweige, rührte im knarrenden, schabenden und ächzenden Geäst. Der Wald zitterte in unheilvollen Lauten. Wie ein Märchenwald, der gegen die Verwünschungen eines allmächtigen Zauberers anbrüllte. Zweige, die sich krachend in Stein verwandelten. Wuchtige Stämme, die sich zornig gegen dieses Geschick wehrten. Die Tiere des Waldes, von den größten bis zu den allerkleinsten, längst entflohen oder ihrerseits den Verwünschungen zum Opfer gefallen.

    Espen eilte weiter.

    Kein Licht hielt die Nacht für sie bereit, nicht ein einziges, die Landstraße war finster. Nach einigen Schritten erfasste sie Panik, sie konnte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Nur den Wald, der brüllte.

    Sie begann zu hasten, unsicher und schwankend. Ein Klagen entrang sich ihr, ein Laut, der in der tosenden Nacht unterging. Ein Laut, viel zu verloren. So alt. Es war so lange her.

    Endlich fand sie die Grenzstation. Ein Steinhaus, dessen Eingang im Kegel eines Laternenlichts stand. Ringsum tropfte die Finsternis von den Bäumen herab. Am Rand des Gebäudes fand Espen ein Schuppendach, unter dem ein alter Wagen stand. In dem Licht, das aus einem der Fenster fiel, konnte sie Rost sehen, er machte sich überall an dem Wagen zu schaffen. Dahinter stand ein Käfig, den sie zunächst nicht sah. Doch dann trat sie näher, und der kehlige, klagende Laut eines Vogels begrüßte sie. Es war eine riesige Voliere. Die Vögel saßen misstrauisch und erschöpft auf ihren Plätzen und belauschten die Nacht. Espen ging hinüber, sie wollte die Vögel und den Glanz ihres Gefieders sehen, sie wollte die zärtlichen Stimmen hören. Doch die Stimmen wollten sich nicht erheben.

    Mit einem aufgebrachten Laut sprang nun hinter ihr eine Tür auf, ein Mann kam heraus. Den Strahl seiner Taschenlampe auf sie richtend, rief er ins Haus hinein: „Verdammt noch mal, wieder eines von den Kindern, die sich an der Voliere zu schaffen machen! Wie ein Schwarm Ungeziefer sind sie. Du Lümmel, dir werde ich eins! Habe ich es euch nicht tausendmal gesagt! Es ist nur zu eurem Besten, wäre doch gelacht, wenn ihr euch aufmachtet, mit eurem armseligen Wissen die Welt zu befreien!" Er lachte. Dann wurde er still und trat einen Schritt auf Espen zu, die ihn nicht sah, nicht sehen konnte, das Licht seiner Lampe blendete sie.

    Sie sagte vorsichtig: „Verzeihen Sie, ich will nichts Böses."

    Nun schien er seinen Irrtum zu bemerken, seine Stimme wurde freundlicher.

    „Haben wir etwa Besuch bekommen? Komm herein, es ist warm bei uns hier drinnen, es ist warm, du brauchst nicht hier zu stehen und zu frieren."

    Das Licht seiner Lampe strich über den Boden, wie um ihr den Weg zu zeigen. Sie folgte ihm und trat in das Haus.

    Es war stickig. Die Wärme ihrer Körper und der Dunst der Zigaretten. Auf einem dunklen Samtsofa saßen drei alte Männer und tranken Tee aus Bechern ohne Henkel. Der vierte, der sie hereingelassen hatte, stand nun an einem Tisch, der mit Akten, Werkzeug und Holzschachteln bedeckt war. Falter schwirrten um eine grelle Deckenbeleuchtung, sie kreisten und kreisten, die späte Stunde gehörte ihnen. Sie warfen zitternde Schatten durch den Raum, in dem die Luft seit Jahrzehnten stillzustehen schien.

    Ein Hinterzimmer der Welt, durch das Glas konnte man die abgedunkelte Schalterhalle sehen. Auf einem Herd dampfte ein Wasserkessel, der Mann beachtete sie nicht weiter und goss nun Tee auf. Die stickige Luft des Zimmers hatte eine betäubende Wirkung. War sie wach? Phantasierte sie? – Die Träume sind in der Nacht, sie kommen aus dem Mund. Die Träume sind unsichtbar. Wo sind sie? Sind sie im Bett, im Kopf, sind sie nirgends? Man sieht sie, aber man kann sie nicht berühren. Wo ist mein Traum? Wo ist meine Erinnerung? Ist sie im Auge, hinter dem Auge, im Kopf? Ist sie auf der Haut? In meinem Gerippe, in meinem Blut? Ist sie im Leib, ist sie im Traum? Wo ist der Traum?

    Den Atem anhalten und bis zu einer Zahl zählen, die nur mit großer Mühe erreicht werden kann. Ins Bett schlüpfen, ohne dabei die Decke in Unordnung zu bringen. Unheil abwenden. Nach Zaubersprüchen suchen. Losungsworte, um in den Besitz des Geheimnisses zu kommen.

    Espen fühlte sich benommen. Eine erschöpfte Frau, die zwischen den Welten verlorenging. Deren Traum überall und nirgends, deren Erinnerung überall und nirgends war. Ein Kind, viel zu früh in die Welt gestürzt, ohne je zu begreifen, was geschehen war. Ein ängstliches, ein scheues Mädchen, lange schon zur Frau geworden, das doch in der Welt kindlichen Zaubers gefangen blieb, in einem Reich ohne Erinnerung, in dem der allmächtige Zauberer herrschte. Wer war er? Was war er? Scherte er sich um das kleine Mädchen?

    Sie hörte den Strom der Worte, die durch ihre Brust flossen. Das Seufzen, das gegen ihre Stirn tippte. Die vertrauten Silben, die sich gegen ihre Lippen blähten. Er hatte die Gegenwart zur Vergangenheit gemacht, die Vergangenheit zur Gegenwart.

    Zaubersprüche. Losungsworte.

    Ist sie wach?

    Phantasiert sie?

    Er kennt das Geheimnis, er kennt den Ursprung der Sterne,

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