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Welt unter Sechs: Erzählungen
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eBook166 Seiten2 Stunden

Welt unter Sechs: Erzählungen

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Über dieses E-Book

"Manchmal will er innehalten, im Trotz des treulosen Mannes die Weisheit freien." So steht der Mann in der Welt. Unbehaust und verirrt. Hartherzig und tändelnd. Wie kann er heil werden? Wie kann er entdecken, wer er wirklich ist?

Drei Erzählungen von Beile Ratut: von Männern, die fehlgehen, zerbrechen und sich auf die Suche machen nach ihrer Bestimmung als Mann, als Liebender, als Vater. In bestechender Sprache, poetisch und eindringlich erzählt Ratut von zerstörerischen Irrtümern und der Weigerung, dem sanften Ruf zu folgen, von Anmaßung, Zorn und Ausflüchten, aber auch vom Wiederfinden des Paradieses, von Versöhnung, Überwindung und Gnade. Ein zeitloser Band über die herausragende Rolle des Mannes in dieser Welt.

"Mannsein, das war seine Formel der Unterwerfung, das war die Aufforderung zur Täuschung. Mannsein, das war das Missgönnen des Empfindens, das war irregeleitete Gier und vergoldete Verächtlichkeit. Mannsein, das war etwas, das man erringen musste, doch er hatte nur eine Täuschung errungen."
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum1. Okt. 2015
ISBN9783885091226
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    Buchvorschau

    Welt unter Sechs - Beile Ratut

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    DAS SCHANDMAL

    Der Tag, an dem er bemerkte, dass mit seinem Gesicht etwas geschah, war unerwartet heiß und still. Mattei saß am geöffneten Fenster, trank Eistee und arbeitete an der Predigt, die er am Sonntag halten wollte. Seine Frau war nicht im Garten, sie war zum Friedhof hin-übergegangen. Er war allein im Haus.

    Er stützte die Stirn auf die linke Hand und bemühte sich, konzentriert zu arbeiten. Immer wieder spannte er sich an, zog die Schultern hoch und lauschte auf seinen Atem. Dieses Lauschen hatte ihm oft geholfen, die treffenden Worte zu finden. Und wenn ihm das nicht gelang, so gelang ihm wenigstens, sich zu sammeln.

    An jenem Tag standen über dem Tal dichte Wolken. Von den Tannen am Waldrand drang Nadelduft. Kinder waren nicht zu sehen, und es gab auch keine Spaziergänger, die sonst jeden Tag über den schmalen Weg von der Schafweide an dem hübschen Pfarrhaus vor-überkamen.

    Unruhig saß er da. Ein Vagabund der Gedanken, ein Wegelagerer des Gefühls.

    Unzählige Male hatte er versucht, sich zu sammeln. Vergebens.

    Die letzten Wochen hatten ihn viel Mühe gekostet. Die Gespräche waren aufreibend gewesen, die Besuche hatten sich in die Länge gezogen. Zu viele Menschen waren mit ihren Fragen an ihn herangetreten.

    Er musste ihnen von Gott erzählen. Er musste ihnen sagen, dass es ein Himmelreich gab. Dass man es erreichen konnte, wenn man nur an den Christus glaubte.

    Ein Reh war bis an die Malven, die seine Frau gepflanzt, herangekommen und hatte vorsichtig zu ihm herübergeblickt. Er hatte es nicht bemerkt, hatte sich angespannt und leise geschimpft.

    Er hatte Angst bekommen, die alte Angst, er könnte die Fähigkeit verlieren, seine Gedanken in Worte zu fassen, die das Publikum fesselten.

    Diese Fähigkeit war sein Ein und Alles. Er war Pfarrer geworden, weil er, wenn er zu den Menschen sprach, etwas empfand, das er sonst nicht kannte. Durch seine Worte hatte er gelernt, die guten Kräfte in der Welt als etwas zu sehen, das man würdigen und von dem man zu den Menschen sprechen musste. All das, was den Menschen zu sich selber rief. Alles, was ihm half, über sich hinauszuwachsen. Im Sprechen hatte er ein unzugängliches Reich des Geistes entdeckt, ein verwildertes Reich, in dem man sich verbergen und wo man verbotene Früchte finden konnte. Er pflegte zu sagen, er habe Gott im Wort gefunden.

    Er hatte nicht glauben können, dass dieses Reich real war. Doch dann hatte er gespürt, dass sich die Begeisterung, die er empfand, mit jedem Wort vervielfachte. Er konnte sehen, wie sehr die Menschen ihn brauchten. Er sah, dass sie an ihm hingen, dass seine Worte sie ereilten und es niemanden gab, der es ihm hätte gleichtun, der ihm hätte ebenbürtig sein können. Ihm, einem Mann von fünfundfünfzig Jahren, mit blondem, schütterem Haar, grauen, durchdringenden Augen und einem forschen und vertrauenerweckenden Händedruck. Nun saß er am geöffneten Fenster und rieb sich immerfort die Schläfe.

    Gegen drei Uhr wurde die Hitze unerträglich, er ging in die Küche, um sich zu erfrischen, kam zurück ans Fenster, nahm wieder Platz.

    Mit dem Zeigefinger strich er sich über die Stirn, nah bei der Schläfe, dort, wo die Augenbraue endet. Er fühlte eine seltsam weiche Kruste, pfenniggroß, mit zackigen Rändern. Er dachte sich nichts dabei und beschäftigte sich weiter mit den Worten, die er am Sonntag sprechen wollte.

    Wie herrlich wäre es doch, wenn ihm die Worte zufallen würden, wenn trotz der Hitze jeder seiner Gedanken zu einem treffsicheren Satz würde! Er aber tat sich schwer.

    War es dieser Tag, der ihn hinderte? Die Schwüle?

    Er arbeitete einige Stunden. Dann kam seine Frau zurück. Er hatte sie nicht kommen sehen, hörte nur das leise Klicken des Schlosses. Niemand betrat dieses alte Haus so leise wie Malessa. Und hätte nicht jede andere Frau aus ihrer Rückkehr einen rauschenden Auftritt auf der Bühne seiner Aufmerksamkeit gemacht?

    Geräuschlos kam Malessa den Korridor entlang. Flüchtig nahm er ihren Geruch wahr, ihre Gegenwart, diesen unergründlichen Blick, der ihn erforschte.

    Hatte er ihr nicht unzählige Male gesagt, dass er es nicht mochte, wenn sie ihn bei der Arbeit störte? Hatte er ihr nicht erklärt, dass es wichtig war, an diesen Abenden mit seinen Gedanken alleine zu bleiben?

    Er glaubte, ihren Atem zu hören, dann einen Laut, wie ein Seufzen.

    Verärgert wandte er sich um. Doch sie war nicht dort.

    In der Nacht, als er sein Gesicht wusch, sah er über seiner linken Braue deutlich eine Erhebung. Er rieb daran, und eine bräunliche Kruste löste sich von seiner Haut. Er rieb weiter, bis die Stelle ganz glatt war. Ein wenig Blut drang aus einer Wunde, die er nicht sehen konnte.

    Er wusch sein Gesicht erneut, trocknete es ab und betrachtete die Haut an dieser Stelle, die nun ganz unauffällig schien. Beruhigt löschte er das Licht und ging schlafen.

    Was träumte er?

    Träumte er noch?

    Am folgenden Tag konnte er sich nicht mehr da-ran erinnern, aber in dieser Nacht träumte er von der dunklen Frau.

    Er stand allein auf dem Feld, nah bei seinem Geburtshaus. Schon seine Vorväter hatten dieses Feld bestellt. Seine eigensinnige Großmutter hatte eines Nachts heimlich beim Jesuskreuz den Apfelbaum gepflanzt; immer hatte man in seiner Familie darüber getuschelt, doch er hatte nie erfahren, was es damit auf sich hatte.

    Niemand hatte geglaubt, dass der Baum wachsen würde, denn er war zaghaft und kümmerlich gewesen. Doch er wuchs. Höher und höher. Und er lieferte die reichste Ernte von allen, vielleicht gerade weil er so abgesondert dastand.

    Mattei konnte sich nicht bewegen. Er war in einem Schreckzustand, warum, das hätte er nicht sagen können. Er spürte den Schrecken im ganzen Leib, das Zetern, das Dräuen, das Haschen. Klamm stand er da, nah beim Jesuskreuz.

    Da spürte er, dass etwas seine Schulter berührte.

    Er wandte sich um.

    Es war der Apfelbaum seiner Großmutter, er legte seine Zweige um Matteis Leib.

    Mattei versuchte, sich loszureißen, doch er konnte es nicht.

    Ein kalter Wind kam auf. Mattei spürte ihn, der Hauch glitt über seine Stirn, seinen Nacken, seinen Leib hinab, tief in sein Herz. Dann sah er die Frau.

    Er wollte fort, wollte über den Weg an seinem Geburtshaus vorbei in die Stadt davonlaufen. Doch er konnte sich nicht bewegen. Er begann, sich gegen die Umklammerung des Apfelbaumes zu stemmen, doch er vermochte es nicht. Der Schrecken zerrte an ihm, sein Atem ging so heftig, dass es ihn schmerzte.

    Die Frau kam auf ihn zu. Bei der Pferdekoppel aber hielt sie inne und beugte sich zur Erde, wie um etwas aufzuheben.

    Dann streckte sie sich, warf ihr schwarzes Haar zurück und stieg über den Zaun.

    Die Pferde scheuten und suchten das Weite. Doch die Frau hatte keine Mühe, sie zu stellen. Ihm stockte der Atem. Er sah die Frau, die sich auf die Pferde stürzte. Die Tiere brüllten vor Angst und vor Schmerz. Sie zerrte sie zu Boden, eins nach dem anderen, und riss ihnen mit bloßen Händen die Kehle auf. Er hörte die Frau, sie spie Worte des Zornes aus, die er nicht verstand. Er sah sie, sie brauste und hasste und überbot jede andere Macht.

    Als die sieben Pferde tot waren, stieg sie wieder über den Zaun, kam auf ihn zu.

    Auf ihrem Weg den Hügel herauf brach sie die Apfelbäume nieder, die dort standen. Trotz ihrer zierlichen Gestalt bewies sie eine ungeheure Kraft, einen unbändigen Zorn; mit festen Schritten ging sie ihm entgegen, er wollte schreien, wollte fliehen, doch er konnte sich nicht rühren.

    Er glaubte, dass sie kommen würde, um auch ihm die Kehle zu zerreißen. Doch die dunkle Frau ging an ihm vorüber zu seinem Geburtshaus. Sie hieb gegen die Fenster, hieb gegen die Türen, hieb gegen die Mauern. Sie brauste und hasste. Dann wehklagte sie.

    Das Haus bebte, er konnte Risse sehen, die sich durch das Mauerwerk furchten. Dann fiel es langsam, Stein um Stein, in sich zusammen.

    Die dunkle Frau stand daneben und sah schweigend zu. Ihr schwarzes Haar hing ihr über die Schulter, berührte beinahe den Boden. Sie lächelte, doch es war ein verzweifeltes Lächeln. Der Staub des zusammenstürzenden Hauses fiel überall um sie her zu Boden und schluckte die Farben. Nur sie stand da, eine blendende Gestalt. Lächelnd, unheildräuend.

    Sie blickte zu ihm herüber. Die dunkle Frau, in Zorn gekleidet.

    Wie oft war sie ihm begegnet, wie oft hatte er sie gescheut. Er zitterte, wollte schreien, wollte fliehen, doch er konnte sich nicht rühren.

    Da erwachte er.

    Sein Körper war starr. Er fror nicht, doch ihm war schwindelig.

    Er blickte sich um.

    Von draußen drang das Zirpen der Grillen zu ihm herein. Der Duft des Gartens wehte durch das geöffnete Fenster.

    Auf dem Tisch lag Malessas silbernes Halsband, er hatte es ihr geschenkt, doch sie trug es nur an den Sonntagen in der Kirche.

    Er blickte sich zu ihr um. Sie schlief fest, ihm zugewandt, die rechte Hand zu ihm herübergestreckt, als wolle sie prüfen, ob er noch dort war. In einem Anflug von Gereiztheit erhob er sich, bewusst heftig, wie um sich der Berührung zu entziehen, die ihn doch gar nicht erreicht hatte.

    Malessa regte sich nicht. Sie atmete lautlos. Ihr kaum geöffneter Mund zitterte leicht.

    Er ging ins Badezimmer und trank ein Glas Wasser. Als er wieder in den Spiegel blickte, bemerkte er, dass er blutete. An jener Stelle über seiner linken Schläfe hatte sich bereits eine Kruste gebildet. Erstaunt betastete er seine Haut, die sich taub anfühlte. Er wusch sich erneut, betupfte die Stelle mit Watte, bis die Blutung versiegte.

    Die Haut war rosig und glatt, wie bei einem Neugeborenen.

    Er trank noch einen Schluck Wasser und legte sich wieder zu Bett.

    Einige Wochen verstrichen. Er ging seiner Arbeit nach, aß, trank und schlief. Nichts Ungewöhnliches erreignete sich. Nichts geschah, das ihn sonderlich rührte. Er traute ein junges Paar aus der Nachbarschaft, taufte das schreiende Balg des Bäckerehepaares und beerdigte drei Menschen, die er nicht gekannt hatte. Er tröstete die Hinterbliebenen, er wusste genau, was er sagen musste, um die Trauer der Menschen zu bannen. Er wusste, was er den zweifelnden Menschen in seiner Sprechstunde sagen musste, und den Menschen, die zufällig zu ihm kamen und tiefgründige Fragen über den Ursprung ihres Seins stellten. Menschen, die ihm begegneten und die er schnell wieder vergaß, nachdem er ihnen erklärt hatte, wie man von dem breiten Weg des Verderbens auf den schmalen Weg gelangte, wo man die überragenden Gedanken dachte, die besseren Konzepte der Liebe hatte und wo man schließlich selig werden würde.

    An den Abenden saß er am Fenster, trank Tee und ruhte sich aus. Malessa war im Garten.

    Manchmal, wenn er dort saß und las, betrachtete er seine Frau, wie sie mit versonnenem Blick in der Erde grub, als sei sie ihr Altar.

    Er musste sich eingestehen, dass ihre Mühe sich voll auszahlte. Der Garten erblühte, jedes Jahr aufs Neue, er war reich an Obstbäumen und Beerensträuchern, an üppigen Stauden, überreichen Rosen und duftenden Kräutern. Keiner kam vorüber, ohne diese Zierde zu loben. Sogar Mattei genoss den Duft der Pflanzen, der um ihn war, wenn er manchmal am späten Abend mit seinem Wein in der Hand durch den Garten ging. Dennoch, ihre Hingabe an diesen Garten, ihre Versunkenheit, wenn sie darin arbeitete, sie störte ihn. Was war es denn? War es nicht nur ein irdischer Ort, an dem sie sich verausgabte? Waren es nicht doch nur Dinge, die bald schon vergangen sein würden? Weshalb konnte sie nicht mit ihm seine Bücher lesen? Weshalb wollte sie nicht aus der schweren Erdenwelt ihres Gartens in diejenige seines Geistes treten, in der sie all das Gute, das in den Evangelien steckte, gemeinsam hätten erfahren können?

    Er schrieb gegenwärtig an einem Buch über die Rolle der Nächstenliebe in der Politik. Weshalb aber konnte Malessa seine Interessen nicht teilen? Weshalb musste sie in dieser Erde wühlen, bis ihr Gesicht von Schweiß und Schmutz verschmiert war? War es am Ende doch so, dass die Frauen keinen Anspruch auf Gleichheit stellen konnten, weil sie eben doch nicht gleich waren? War es nicht so, dass die Frauen immer in weltlichen Dingen gefangen sein würden, im Geschaffenen, Erdhaften, Vergänglichen?

    Sie waren seit beinahe zwölf Jahren verheiratet. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Er hatte sie umschmeichelt, war ihr zugetan gewesen, denn sie war immer eine sehr reizvolle Frau gewesen. Manchmal, wenn er sie betrachtete, fühlte er noch immer dieses Pochen in den Lenden, einen beinahe lustvollen Schmerz. Dann glaubte er zu verstehen, was die »heilige Hochzeit« bedeutete: die intensivste geschlechtliche Vereinigung, die man sich vorstellen konnte. Der Untergang des Ichs in

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