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Das schwarze Buch der Gier
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eBook260 Seiten3 Stunden

Das schwarze Buch der Gier

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Über dieses E-Book

Der Debütroman von Beile Ratut ist ein Wirbelsturm, unerschrocken und von schillernder Kraft. Eine zutiefst ehrliche Geschichte über die finsteren Irrgänge des Menschen, endgültig und zärtlich, vehement und erschütternd - vom der ersten bis zur letzten Seite.

So zeitlos wie meisterhaft verdichtet erzählt Ratut die Geschichte von Alba Schleyer, deren älterer Bruder an ihrem sechsten Geburtstag spurlos verschwindet. Von der anschließenden Sprachlosigkeit der Familie und der Reise der erwachsenen Alba durch diese Welt. Von ihrer unermüdlichen Suche und von dem Unaussprechlichen, das in der Harmlosigkeit der Menschen flimmert.

Ratut gelingt mit dieser verblüffenden Geschichte, was heute kaum einem Autor gelingt: Vor dem Hintergrund der Ausweglosigkeit des Menschen die Sehnsucht nach einer alle Zeiten überdauernden Antwort zu wecken.
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum25. Aug. 2014
ISBN9783885091103
Das schwarze Buch der Gier

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    Buchvorschau

    Das schwarze Buch der Gier - Beile Ratut

    Gleichgültigkeit.

    BESUCHER

    Wir Menschen erzählen einander Geschichten. Wir tun das, weil wir dadurch zueinanderfinden. Wir erzählen Geschichten, weil zwei Menschen durch sie etwas vor Augen haben, das sie verbindet.

    Unsere eigene Geschichte erzählt davon, wie sich Freundschaften und Niederlagen, Liebe, Meisterzüge und Fehltritte ereignet haben. Es ist auch unsere Geschichte, dass der Held in einem Film zu Boden geht, am Ende aber siegt. Es ist unsere Geschichte, wie Kinder in einem Märchen dem bösen Zauberer entkommen und wie unsere Vorfahren Notzeiten und Kriege überlebten. Wir erzählen davon, was uns berührt, fasziniert und aufwühlt und was uns widerfahren ist. Etwas, wodurch wir wurden, wer wir sind.

    Wenn man erzählt, dann tut man es, weil man glaubt, dass es etwas enthält, das wahr ist. Etwas, das über uns hinausragt und bleibt, etwas, das uns sagt, wer wir wirklich sind. Wenn man eine Geschichte anhört, dann tut man es, weil man sich danach sehnt, an etwas teilzuhaben, das größer ist als wir selbst.

    Eine Geschichte kommt aus dem Inneren des einen Menschen und berührt das Innere eines anderen Menschen. Doch das Innere eines Menschen bleibt ein Geheimnis. Die Geschichten, meine Geschichte bleibt ein Geheimnis. Wer hält denn inne, um einem Menschen zu begegnen, der ihm nichts nützt, und sei es nur einen Augenblick, um ihm eine Frage zu stellen, deren Antwort er nicht schon längst vorweggenommen hat? Wer wendet sich einem Fremden zu? Einen Augenblick nur.

    Ein Lächeln. Erkennen.

    Ewigkeit.

    Ich sitze in einem kleinen Raum, weit fort von den Orten, an denen ich gelebt habe. Draußen höre ich das Rauschen des Waldes. Gleich wird es regnen. Gleich wird die Nacht kommen, am Himmel ist der zinnoberrote Schein.

    Ich bin eine zurückhaltende Frau. Wenn ich einen Raum betrete, blickt keiner auf. Ich habe schöne Augen und einen klaren, ruhigen Blick, der die Menschen anerkennt. Doch das ist kaum je einem aufgefallen, denn sie achten auf die Frauen, die um ihre Aufmerksamkeit buhlen, nicht auf ein Wesen wie mich.

    Ich bin weder durch meine Erscheinung noch durch meine Aufgaben besonders aufgefallen. Habe ich Wert darauf gelegt aufzufallen? War mir daran gelegen, gesehen zu werden? Mir war nicht einmal daran gelegen, dass man sich an mich erinnert. Vielleicht bin ich eine langweilige Person, aber wer kann das schon beurteilen? Ich habe mir nie etwas aus Komplimenten gemacht, und wer glaubte, mich durch lobende Worte auf seine Seite ziehen zu können, täuschte sich.

    Wer aber sollte auf den Gedanken kommen, mich auf seine Seite ziehen zu wollen? Wem hätte meine Freundschaft etwas nützen können? Ich habe nie über Einfluss oder Besitz verfügt. Was ich besaß, reichte für ein anspruchsloses Leben. Mehr wollte ich nicht.

    Ich bin eine Frau, die anderen Menschen den Vortritt lässt und nicht an der Krankheit leidet, zu Wort kommen zu müssen. Ich bin klein, von zierlicher Statur. Mein Gesicht ist schmal, und meine Wangen sind immer ein wenig blass gewesen. Obwohl mein Herz still bleibt, erröte ich, wenn man mich beleidigt. Ich habe mir immer gewünscht, dass der Frieden mein ganzes Sein einnehmen und meinen Körper bedecken würde, doch ich habe erkennen müssen, wie verwundbar ich bin und wie schnell die mich umgebenden Bollwerke einstürzen können.

    Ich fürchte mich immer noch vor bösen Menschen, obwohl ich weiß, dass ich mich nicht fürchten muss. Ich habe mich ein Leben lang gefürchtet und mit der Furcht gelebt. Wie dumm von mir, mich aufzugeben, nur weil mein Körper sterblich ist.

    Heute bin ich in Sicherheit, aber ich kann die Furcht spüren. Sie ist wie ein Gift, das seine Wirkung verloren hat. Doch in all den Jahren hat sie sich an mir festgekrallt. Sie hat sich an mir gesättigt. Wenn ich es zulasse, meldet sie sich zu Wort. Sie drückt meinen Magen und tippt frech gegen mein Herz. Dann spüre ich Übelkeit und Enge, Schweiß bricht mir aus. Doch ich lasse die Furcht nicht mehr zu.

    Wir leben in den letzten Stunden der Geschichten. Sie könnten uns verbinden, doch sie erlöschen. Die Geschichten, die uns helfen zu erkennen, wer wir wirklich sind, werden madig. Sie stören und irritieren. Bald wird es nur noch Geschichten geben, die uns zeigen, wer wir gerne sein wollen. Geschichten, die uns erklären, dass unser Wollen richtig ist, egal, was es will.

    Der Körper aber. Er hat seine eigene Geschichte. Er erinnert sich an alles, was geschehen ist, an Berührungen und Schrecken, an Anstrengungen und Freuden. Er erinnert sich an das Leben unserer Vorfahren. Die Geschichte meiner Mutter, die Geschichte meines Vaters und die Geschichte all der Menschen, die vor ihnen waren: Heimlich leben sie in mir weiter. Wie sonst könnte ein einziges Leben wie das meine so ausgefüllt sein? In meinem Körper ist alles. In meinem Leben hallen die glücklichen Momente und die Irrtümer meiner Vorfahren wider. Alles ist da, alles wird weitergegeben, die Liebe, aber vor allem die Lieblosigkeit. Es sind die Verstöße und die Verletzungen, die Fehltritte und die Entgleisungen, die mir die Freiheit verwehren. Sie halten mich in einer dubiosen Bindung, die ich nicht erkennen kann, solange ich sie für ein natürliches Erbe halte. Doch ich habe mich aus der Umklammerung befreit.

    Die Furcht lässt die Dinge anders erscheinen, als sie wirklich sind. Ich aber kann meine Hände in den Schoß legen und die Furcht in Empfang nehmen wie einen ungebetenen späten Gast. Ich schaue ihn an. Ich sehe, er ist mein vertrauter Begleiter. Wir kennen uns schon lange, fast mein ganzes Leben, seit ich sechs Jahre alt bin. In all den Jahren war er oft bei mir. Meist kam er unangemeldet, doch es gab auch Jahre, da schickte ich nach ihm. Meist blieb er nur wenige Augenblicke, manchmal auch einige Stunden oder einen halben Tag. Aber es gab Zeiten, da lebte er bei mir. Er hatte sich meine Freundschaft erschlichen. Dieser ungebetene Gast wusste alles über mich, über mein Herz, über meine Familie, er wusste mehr als ich selbst, und dieses Wissen benutzte er gegen mich. Er ist ein findiger Zuhörer. Doch er hat mich unterschätzt. Denn ich bin eine noch viel findigere Zuhörerin. Ich kenne seine Schliche. Ich habe ihn beobachtet, ich habe ihn erforscht. Ich habe aus seinen Schritten gelernt und bin über ihn hinausgewachsen.

    Auch heute empfange ich ihn, ich mache ihm keine Vorhaltungen. Wenn er mich besucht, ist es, wie wenn man sich alte Fotografien ansieht. Er bleibt einen Augenblick, erkennt, dass er seinen Einfluss verloren hat. Dann geht er seines Weges, denn er weiß, dass es unzählige Menschen gibt, die ohne ihn nicht leben wollen. Vor verschlossenen Türen bleibt er gewiss nicht stehen.

    Es ist Nacht geworden. Feiner Regen weht gegen mein Fenster. Die tiefe Stimme eines Vogels ruft. Ich schließe das Fenster, durch das der Geruch des Waldes hereinströmt. Es ist schon kalt. Der Sommer hat sich wacker gehalten, doch seine Tage sind gezählt.

    Im Haus ist es still. Dennoch höre ich ihn, er hat die Tiere versorgt und mein Fahrrad gerichtet. Nun fegt er den Kamin aus und bereitet Tee. Er schiebt den Riegel vor, weil ich ihn darum gebeten habe. Doch es gibt keinen Grund dafür. In tausend Jahren hat es in diesem Landstrich keinen Anlass zur Sorge gegeben. Nicht einmal der letzte große Krieg hatte diese Region erfasst. Die Gewalt macht einen weiten Bogen um die riesigen, feuchten Wälder und den langen, zähen Winter. Der Sommer ist zu kurz, um Gier zu wecken, und die Menschen sind zu ehrfürchtig und leben zu verstreut, um einander gefährlich zu werden.

    Eines Tages werde ich es ihm sagen. Ich werde ihm sagen, dass es nicht mehr nötig ist, die Tür zu verriegeln. Dass es keinen Grund zur Furcht mehr gibt. Er wird sich darüber freuen.

    Unser Haus ist klein und einfach. Wir holen Wasser von dem Brunnen am Waldrand und waschen uns in der Küche. Wir haben Ziegen, Schafe und Gänse. Einmal in der Woche kommt ein Wagen vorbei und verkauft uns Eier, Papier, Seife und was wir sonst zum Leben benötigen. Es ist ein gleichmäßiges Leben in der Stille, das mir bekommt.

    Von der körperlichen Arbeit bin ich kräftiger geworden, meine Haut hat Farbe bekommen. Ich arbeite härter als je zuvor. Am Abend bin ich erschöpft, doch diese Erschöpfung ist eine Form der Zufriedenheit. Wenn ich mich nicht um die Tiere oder den Garten kümmere, brenne ich Kacheln, die ich einmal im Monat in der nächsten Stadt auf dem Markt verkaufe. Inzwischen schätzen die Menschen meine Kacheln. Sie sind nicht perfekt, weil ich sie mit der Hand fertige und bemale. Sie sind wie das Leben eines Menschen: brüchig, uneben, einzigartig, jede auf ihre Weise schön. Ich werde kein Vermögen daran verdienen, doch von den Einnahmen kann ich mir die Dinge leisten, die wir uns sonst nicht leisten könnten.

    Das Haus ist mein Heim, der Landstrich meine Heimat. In diesem Haus lebe ich, und wer mich besucht, der ist mein Gast. Ich lasse nicht mehr zu, dass Fremde kommen, um in meinem Herzen Unruhe zu stiften.

    Als wir kamen, war das Haus in einem heruntergekommenen Zustand. Er zeigte großes Geschick darin, das Dach zu reparieren, die Wände abzudichten und zu streichen, die Fenster zu verglasen und alles in einen reinlichen Zustand zu versetzen. Seine Fertigkeit verwundert mich. Gleichzeitig schäme ich mich, wie sehr auch ich voreingenommen war.

    In der Gegend ist er beliebt. Die Leute urteilen anders über ihn. Er repariert die Traktoren der Bauern, geht ihnen bei der Ernte zur Hand und ist ihnen bei allem behilflich, was sie aus eigener Kraft nicht schaffen. Er kümmert sich um die Papiere der Händler, führt ihnen die Bücher, räumt die Ware in die Regale und bessert die Dreiräder ihrer Kinder aus. Die Leute mögen ihn, weil er anspruchslos, freundlich und zuverlässig ist. Er spricht nicht viel, darum stört er sie auch nicht.

    Auch ich störe sie nicht. Ich verlasse selten das Grundstück, das sich vom Steinbruch bis hin zur Landstraße erstreckt. Einmal kam es zum Streit, weil die Leute glaubten, ich würde ihnen einige ihrer an das Grundstück gebundenen Nutzungsrechte streitig machen. Sie nahmen an, dass die Eindringlinge sich über sie erheben würden, doch das taten wir nicht. Wir bekamen einen angriffslustigen Brief von der Gemeindeverwaltung. Ich antwortete ihnen mit einem Schriftstück, das ihre Nutzungsrechte bestätigte.

    Auf dem Markt duldet man mich, denn keiner in dieser Gegend fertigt Kacheln wie ich. Ich mache niemandem etwas streitig. In einigen Ferienhäusern und im Haus einer wohlhabenden Familie am See habe ich die Küche und das Bad mit Kacheln ausgestattet. Ich verlange nicht viel, doch die einfachen Leute tun sich schwer, bei mir zu kaufen.

    Aber ich habe Zeit.

    Eines Tages werden sie ihre Scheu verlieren und zu mir kommen.

    Es ist kurz nach sieben. Er wird heute ohne mich essen. Ich bin müde, ich habe keinen Hunger. Ich werde ihm später beim Tee Gesellschaft leisten. Den ganzen Tag war ich im Garten und habe mich um die Tiere und die Pflanzen gekümmert. Das Laub der Bäume beginnt sich zu verfärben. Am Himmel waren Vogelschwärme, die in den Süden flogen. Die wenigen Urlauber sind längst verschwunden.

    Ich bin ohne Gepäck hier eingetroffen. An Erinnerungsstücken besitze ich nichts mehr. Wenn ich darüber nachdenke, ob es ein Musikstück oder ein Buch gibt, das mir fehlt, dann bemerke ich, dass ich das Interesse daran verloren habe. Ich brauche nicht mehr viel zum Leben. Ich habe die Welt, die ich in mir trage. Ich habe die Vögel, die mich morgens wecken, den Duft des Gartens, der mich durch den Tag begleitet, die kühlen, stillen Herbstabende, die langen Wintermonate, in denen ich mich an den Kristallen erfreue, die das Küchenfenster zieren. Wenn der Frühling kommt, jubelt mein Herz. Das erste zarte Grün des Waldes ist jedes Jahr wie eine Erweckung. Es ist, als ob ein lange Vermisster heimkehrt.

    An der Welt aber, die man gemeinhin Welt nennt, habe ich kein Interesse mehr. Vielleicht habe ich zu oft erlebt, dass man mein Leben aus der Warte der Bildung, vordringlicher Notwendigkeiten und der Überlegenheit sprachlichen Geschicks abgeschmettert hat. Meine Geschichte ist madig. Sie stört und irritiert. Aber sie erlischt nicht, weil man sie nicht hören will.

    Ich habe es jedoch erlebt. Ich habe gesehen, mit welcher Schärfe man gegen mich angeht, weil ich sehe, was ich sehe, fühle, was ich fühle, und bin, was ich bin. Ich habe das Vertrauen in Worte verloren. Ich lese keine Bücher und keine Zeitungen. Aber wenn ich Besuch habe, lese ich in den Gesichtern.

    Wir leben in den letzten Stunden der Geschichten. Sie könnten uns verbinden, doch sie erlöschen. Bald wird es nur noch Geschichten geben, die uns zeigen, wer wir gerne sein wollen. Geschichten, die uns weismachen, dass unsere Absichten nicht zu beanstanden sind, ganz gleich, worauf sie zielen. Doch ich schaue hinter die Absichten. Ich sehe einen Menschen. Ich sehe das Geheimnis. Ich nehme wahr, in welcher Verfassung mein Gast ist. Ich spüre, wenn Dunkelheit sein Inneres einnimmt und Ärger ihn überfällt, auch wenn er davon nicht spricht. Ich erkenne sein Misstrauen, auch wenn seine Stimme freundlich ist und seine Worte den Anschein erwecken, meinem Besucher ginge es gut. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin eine Frau, man kann mich nicht mehr irreführen. Man kann mich nicht mehr in Misshelligkeiten verwickeln, die nicht die meinen sind.

    Vielleicht hat man mir deshalb Hochmut zum Vorwurf gemacht. Wie sonst kann man auf diesen Gedanken kommen?

    Zwischen den Menschen geschehen eigenartige Dinge. Ich habe mich immer verantwortlich gefühlt für das, was geschieht. Aber es gibt Dinge, die entziehen sich meiner Verantwortung. Es gibt Begegnungen, in denen man nur unwissentlich das Reizwort nennt, und der andere gerät insgeheim außer sich. Trägt man dann die Verantwortung für ihn, nur weil man an seiner Seite ist, ihn wahrnimmt, seine Angst spürt? Weil man sieht, wie sein Blick dunkel wird und er sich in Worten windet, obgleich er sich den Anschein von Gelassenheit gibt?

    Ich bin nie ein Mensch gewesen, der andere in die Falle ihrer verqueren Emotionen lockt. Ich tadele keinen, weil er schwach und verwundbar ist. Bin ich es doch selbst.

    Wäre ich es vielleicht nicht, wenn meine Geschichte anders verlaufen wäre? Wäre ich geworden wie die vielen Menschen, denen ich begegnet bin, wenn es diesen einen Tag nicht gegeben hätte? Wenn die Ereignisse dieses Tages nicht geschehen wären?

    Warum erzähle ich meine Geschichte? Warum gab es diesen einen Tag?

    Die Ereignisse dieses Tages liegen viele Jahre zurück. Vieles, was sich danach ereignet hat, habe ich vergessen, doch an diesen Tag erinnere ich mich.

    Von der kleinen Kammer hinter der Küche, in der ich schlief, konnte ich sehen, wie unser Vater einen verstohlenen Kuss auf Mutters Wange gab. Er trug eine feine blaue Hose, dazu grobe weiße Strümpfe. Mutter schimpfte deshalb mit ihm. Im Badezimmer roch es nach Wacholder. Am Mittag gab es Kartoffeln mit Quark. Ich weiß noch, dass Mutter ihre Schlüssel verlegt hatte und überall im Haus danach suchte. In Vaters Arbeitszimmer konnte man zwischen den Seiten der ausgelesenen Zeitungen und in den aufgeschlagenen Akten noch seine Nähe spüren. Im Zimmer meines Bruders lagen seine schmutzigen Strümpfe und die Schulbücher herum, unten im Treppenhaus standen seine Rollschuhe. An der Hauswand lehnte sein Fahrrad.

    Es war Frühling, der Himmel war blau, und durch die Fenster fiel zitronengelbes Licht.

    VERÄNDERUNGEN

    Unsere Eltern waren nicht reich, aber es fehlte an nichts. Unser Vater besaß einen kleinen Handelsbetrieb in der Stadt. Mutter war Bäuerin. Wir hatten etwas Land und nur noch wenige Tiere. Mutter arbeitete hart. Viel mehr als unser Vater. Sie war eine lebhafte, robuste Frau, die sich vor nichts und niemand zu fürchten schien. Unser Vater wirkte neben ihr immer ein wenig befangen, wie einer, der sich seiner Geschichte nicht bewusst ist. Dabei war er es, der Mutter vor langer Zeit als seine Braut aus der Fremde zu sich in die kleine Stadt geholt hatte, in der jeder ihn, seinen Vater und seinen Großvater kannte und wusste, dass es sich um eine achtbare Familie handelte.

    Unser Vater hätte auf seine Geschichte stolz sein können. Seine Familie hatte in der kleinen Stadt einige Häuser errichtet, die nun unter Denkmalschutz standen. Sie waren fleißig und großzügig gewesen und hatten den Menschen Wohlstand gebracht. Das Geburtshaus unseres Vaters beherbergte nun das Landesmuseum, und in den Sommermonaten gingen dort Urlauber ein und aus. Doch unser Vater war ein bescheidener Mann.

    Wir lebten in einem kleinen Haus am Stadtrand. Der Garten grenzte an eines der Felder, die Mutter bewirtschaftete. Vor dem Haus stand ein Ahornbaum. Vom Dachboden, auf dem wir spielten, konnte man in den dichten Schopf des Baumes sehen. Dann sahen wir Vögel, Insekten und Eichhörnchen. Im Sommer stand der Baum in vollem Laub, und an den Abenden, bevor wir einschliefen, konnten wir unten im Garten das Flüstern der Gnome hören. Tante Merete, Mutters Schwester, hatte uns von den Gnomen erzählt, die nachts aus ihren Höhlen kommen und in den Gärten der Menschen nach dem Rechten sehen.

    Wir glaubten nicht an Märchen. Man hatte uns schon früh für alles eine nüchterne Erklärung gegeben. Wir wussten, welche Gesetze in der Natur herrschten. Wir wussten, weshalb der Wind blies, weshalb der Himmel blau war und woher der Regen kam. Wie die Arten der Tiere und Pflanzen sich entwickelten, hatten wir von Herrn Daum aus der Bibliothek erfahren, und wie Jungtiere und Kinder entstanden, hatte Mutter uns erklärt. In unserem Elternhaus gab es für alles eine nüchterne Erklärung, und wenn man sie nicht kannte, schaute Mutter in einem Buch nach.

    Tante Merete roch süß wie der Honig, den der knorrige Herr Altenburger seinen Bienen stahl und uns brachte. Ihre Stimme war tief und melodisch, anders als Mutters Stimme, in der kein Platz für Geheimnisse war. Tante Merete war groß und schlank und bewegte sich wie eine Tänzerin. Sie arbeitete als Näherin in einer großen Fabrik. Sie hatte nie geheiratet. Aber wenn sie mit uns allein war, erzählte sie uns von der Liebe, für die es keine Erklärungen und keine Bedingung gibt. Sie erzählte uns von den Menschen, zerrissen zwischen dem Guten und dem Bösen. Und von den Gnomen, die von Dingen wissen, die den Menschen verborgen sind.

    Tante Merete lachte, dann schwieg sie. Draußen dämmerte es. Ein fremder Vogel rief. Das Fenster war geöffnet. Wir waren so voller Aufmerksamkeit, dass wir unterhalb des Fensters Geräusche hörten. War es der Wind, der nach dem Baum fasste? Ein Tier, das in die Zweige kletterte?

    Wir wollten zum Fenster hinübereilen, um nachzusehen, aber Tante Merete lächelte, schüttelte den Kopf: „Es ist nicht gut, nach den Gnomen zu sehen. Sie sind dort und beobachten uns. Sie wissen mehr, als wir uns vorstellen können. Aber wir dürfen sie nicht stören. Das haben sie nicht gerne.« Dann sprach sie von anderen Dingen. Von der Kuh, die ihre Nachbarin gekauft hatte und um deren Namensgebung

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