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Paria oder von der Kunst, nicht lieben zu müssen
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eBook317 Seiten4 Stunden

Paria oder von der Kunst, nicht lieben zu müssen

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Über dieses E-Book

Paria, der Außenseiter oder Ausgestoßener. Durch die bewusste Entscheidung, sein Leben außerhalb der Gesellschaft zu verbringen, erhält er durch die Distanz bessere Einblicke in diese.

Er ist charmant, witzig, gutaussehend und finanziell unabhängig. Die Frauen lieben ihn, und er weiß diesen Umstand zu genießen.
Er führt das perfekte Leben eines Großstadt-Casanovas, bis er eines Tages einen folgenschweren Entschluss fasst: Er will sein Leben ändern, um der Oberflächlichkeit seiner eigenen Existenz zu entrinnen.
Allem guten Zureden seiner besten und einzigen Freundin Ida zum Trotz beschließt er, sich ein bürgerliches Leben aufzubauen, und so geht er eine ernsthafte Beziehung mit der jungen Conny ein.
Anfangs noch ein Fremdkörper in einer Gesellschaft, der er sich nie zugehörig fühlte, beginnt er immer mehr wie ein Gift zu wirken. Und wo ein Gift ist, ist der Tod nicht weit, und mit ihm kommt die Erkenntnis, dass manche Entscheidungen einfach nicht getroffen werden sollten.

Lakonisch, bitterböse und melancholisch. Die Geschichte eines Außenseiters, der auch immer einer sein sollte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Feb. 2020
ISBN9783957911049
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    Buchvorschau

    Paria oder von der Kunst, nicht lieben zu müssen - Christoph Straßer

    Kapitel

    Julia

    Erstes Kapitel

    Julia schläft bereits seit einer ganzen Weile. Ich betrachte ihren Körper, der nackt neben mir im Bett liegt. Mein Blick wandert einige Sekunden lang über ihren Körper, der jetzt, wo nur das schwache Licht des wolkenverhangenen Mondes in den Raum fällt, beinahe makellos wirkt. Ich lächle und erinnere mich, wie sie mir sagte, dass ich bisher der einzige Mann sei, neben dem sie nackt einschlafen könne. Nicht aus Scham oder ähnlichen Dingen. Woran es genau läge, dass sie sich immer unter eine Decke legen müsse, um wirklich einschlafen zu können, wisse sie selbst nicht. Sie habe sich bisher auch nie tiefergehende Gedanken dazu gemacht. Ihr sei dies erst klargeworden, als ihr neben mir liegend die Augen schon beinahe zugefallen waren.

    „Du bist der erste Mann, bei dem ich das kann. Kannst dich geehrt fühlen."

    „Das tu’ ich in der Tat", hatte ich geflüstert und ihr den letzten Kuss dieses Tages gegeben, bevor sie endgültig eingeschlafen war.

    Ihr Gesicht wirkte entspannt, so ruhig und ausgeglichen, wie man es am Tag nur sehr selten sah.

    „Schlaf schön", sage ich leise und streichle über ihren Rücken, was Julia mit einem kurzen Schmatzen quittiert.

    Ich schließe die Augen und fahre mit einer Hand ihren Körper entlang. Ich fühle jede kleine Narbe, jedes Muttermal, jede Unebenheit ihrer Haut. Ich fühle nichts, was mich überrascht. Nichts, was mir nicht bekannt vorkommt. Alles, was ich spüre, ist die Haut einer jungen, schönen Frau, die ich seit einer Woche kenne. Und genau jetzt, in diesem Moment, gibt es nichts, was mich noch mehr langweilen könnte. Es heißt, dass die Liebe zu drei Vierteln aus Neugier bestehe. Bedauerlicherweise ist das tatsächlich so. Die Liebe ist weg, fühle ich. Meine Art der Liebe. Die Liebe, die zu spüren ich imstande bin. Intensiv und aufrichtig, aber nicht mit großer Langlebigkeit gesegnet. Ich öffne wieder die Augen und blicke lächelnd Julias wundervollen Körper an, der sich langsam und fast unmerklich im Mondlicht bewegt. Leise wende ich mich auf die Seite und stütze meinen Kopf auf einem Arm ab.

    Wie wunderschön sie ist, denke ich.

    Ihr langes, dunkles Haar fällt weich über ihren schlanken Hals, der in zerbrechlich wirkende Schultern übergeht. Ihr Hintern ist rund und fest, ihre Beine lang und wohlgeformt. Sogar ihre Füße, die sich nun im Schlaf unter die Bettdecke zu graben versuchen, sind traumhaft. Klein und mit so weicher Haut gesegnet, als hätten sie ihr Leben lang noch keinen Schritt gehen müssen.

    Kaum ein Mann, der sich an diesem Anblick sattsehen könnte. Eine Frau wie aus Porzellan.

    Mir gibt dieser Anblick nichts mehr. Ich könnte ebenso gut das Foto einer mir völlig Fremden betrachten. Schön, aber in keiner Beziehung zu mir stehend. Und es liegt nicht an ihr, es liegt auch nicht an mir. Es ist einfach so. Das menschliche Bestreben nach Zweisamkeit ist so beklagenswert. Man lernt sich kennen, flirtet und der ganze Raum um einen herum ist voller Magie. Aber bereits eine Sekunde später schiebt man gelangweilt einen Einkaufswagen vor sich her und plappert Halbwissen über Laktose-Intoleranz vor sich her in dem Wissen, dass einem der einst geliebte Mensch, den man seit Jahren gelangweilt als „Schatz" bezeichnet, sowieso nicht zuhört. Beinahe empfinde ich Traurigkeit bei diesem Gedanken. Denn obwohl ich selbst keineswegs auf der Suche nach einer Gefährtin fürs Leben bin, bedaure ich in Momenten wie diesen, dass ich nicht in der Lage bin, mich auf diese Suche zu begeben. Denn wenn ich es könnte, hätte ich mein Ziel bereits oft erreicht. Im Laufe meines Lebens bin ich dazu übergegangen, es als eine Laune des Schicksals zu betrachten, dass ich wieder und wieder fortwerfe, wonach andere ihr Leben lang oft erfolglos streben. Ich bin ein Idiot, der unentwegt Diamanten in den Müll wirft, weil man damit im Supermarkt nicht bezahlen kann.

    Schon bald werden sich Julias und meine Wege trennen. Höchstwahrscheinlich schon morgen, auch wenn ihr dies erst später bewusstwerden wird. Ein Schlussmachen wird es nicht geben, schließlich sind wir kein Paar, wir führen keine Beziehung. Wir verbrachten bisher nur viel Zeit miteinander, weil sie mir vertrauen kann und sie sich bei mir wohl und geborgen fühlt. Und weil ich sie verstehe. Ihre Macken und Eigenarten akzeptiere und ihr niemals vorwerfe, die zu sein, die sie ist. Weil sie glaubt, ich wäre der, nach dem sie vielleicht immer schon gesucht hat. Aber der bin ich nicht. Vielleicht könnte ich es sein, aber das hieße, mich zu verstellen. Die Langeweile zu unterdrücken, die jeden Tag aufs Neue in mir aufstiege. Das würde bedeuten, nur noch zu funktionieren. Und zwangsläufig würden sich meine größten Stärken in meine untolerierbarsten Schwächen verwandeln. Ich würde in ihren Augen zu dem emotionslosen Roboter werden, der ich doch eigentlich schon immer war. Der Unterschied wäre, dass sie sehen könnte, was ihr gefallen hat. Und sie würde es hassen. Mich hassen. Ich gebe Julia einen Kuss auf die Schulter und lege mich neben sie auf den Rücken.

    „Gute Nacht, meine Süße", flüstere ich.

    Morgen früh werden wir gemeinsam Kaffee trinken und auf dem Sofa kuscheln, bis ich mich verabschiede. Und Julia wird sich freuen, mich schon bald wieder zu sehen.

    Aber das wird nicht passieren.

    Carina

    Zweites Kapitel

    Ich will Platz nehmen und versinke sogleich in den Polstern des Sofas.

    „Lustige Möbel", sage ich zu Ida, die mich in diesen wunderlichen Club geführt hat.

    „Ist doch cool. Schön retro. Zum Chillen optimal."

    „Zum Chillen?, frage ich und spüre, wie meine Augenbrauen nach oben springen. „Wie alt warst du doch gleich?

    Ida winkt müde ab.

    „Und wie alt warst du, als du das erste Mal ‚geil’ gesagt hast? Und wie alt bist du heute?"

    „Verstehe, sage ich. „Du siehst dich als Trendsetter.

    „Nein, ich sehe mich als gar nichts. Ich gebe mich dem natürlichen Wandel der Sprache hin."

    „Fett", lache ich.

    „Übelst fett", lacht auch meine Begleiterin nun, lehnt sich weit zurück und lauscht der Musik.

    Kylie Minogues Confide in me dröhnt durch den riesigen Raum, der mit einem angenehmen Maß an Menschen gefüllt ist. Nicht so viele, dass man sich nirgendwo mehr frei bewegen könnte, aber dennoch genug, um das Gefühl zu haben, sich an einem Ort zu befinden, an dem etwas los ist und man sich nicht im Minutentakt zurück vor den Fernseher wünscht.

    „War früher mal ne ganz üble Kokshöhle, beginnt Ida unvermittelt, als ich gerade nach einer Kellnerin Ausschau halte. „Haben hier auf den Tischen die Lines gezogen, als wär’s das Normalste auf der Welt.

    „Warum hat man damit aufgehört?", frage ich halb interessiert zurück.

    Ida zuckt mit den Schultern.

    „Keine Ahnung. Das Übliche wahrscheinlich. Polizist in Zivil kommt rein, fragt nach Kokain, bekommt es, macht die Bude dicht. So wird’s gewesen sein."

    „Aber sicher bist du dir nicht."

    „Nein, wie auch? War ja nicht dabei."

    „Also keine Pointe?"

    „Was für eine Pointe denn?"

    „Ich dachte, die Information, dass es sich bei dem Matrix früher einmal um eine ganz üble Kokshöhle gehandelt habe, leite die dramatische Geschichte ein, wieso dies heute nicht mehr so ist."

    „Nein, tut es nicht. Ich wollte nur mein Wissen mit dir teilen."

    „Gerüchte, die man dir zugetragen hat, bezeichnest du als Wissen?"

    „Wir hocken auf dem Sofa in einer … Bar, Disco …, was auch immer das hier ist, und werden uns gleich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit betrinken. Ich wette, wenn ich dir den gleichen Satz, dass es sich beim Matrix früher mal um ne ganz üble Kokshöhle gehandelt hat, in ein paar Stunden noch einmal präsentiere, wirst du mich mit riesigen, gierigen Augen anblicken und sagen: ‚Ist nicht wahr? Ehrlich? Erzähl mal!’"

    „Hm, mache ich und überlege. „Ja, da könntest du recht haben. Einigen wir uns auf ‚mieses Timing’?

    „Ja, ich hab’ sehr früh angefangen mit diesen Themen, oder?"

    „Was ich dir niemals vorwerfen würde. Ich weiß, du meinst es gut."

    „Später dann also?"

    „Sehr gerne. Dann kannst du mir auch noch einmal die Geschichte erzählen, wie du damals dieses Eichhörnchen im Baum entdeckt und erst nach fünf Minuten festgestellt hast, dass es lediglich ein Vogelnest war."

    „Das war ein irrer Tag", lacht Ida nickend, und ich lache automatisch mit.

    Wir bekommen eine Kellnerin zu fassen und ordern Getränke.

    Ich lächle still in mich hinein und höre der Musik zu. Abende wie diesen, gemeinsam mit Ida, genieße ich sehr. Wir beide kennen uns schon seit gut zehn Jahren und sind auch beinahe seit der gleichen Zeitspanne eng befreundet. Obwohl ich selbst nur die groben Fakten ihres Lebens kenne, ist sie der Mensch, der wohl am meisten über mich weiß. Angefangen bei meiner Kindheit bis hin zu meiner aktuellen Situation: Es dürfte kaum ein Thema geben, über das wir mich betreffend noch nicht gesprochen haben. Dabei hat sich mich nie ausgefragt oder versucht, mich in irgendeiner Weise zu therapieren. Sie stellt mir Fragen, die ich beantworte, wenn ich es will. Und diese Antworten hört sie sich interessiert an und gibt ihre Meinung dazu nur preis, wenn ich sie danach frage. Ida gehört zu der äußerst seltenen Art Mensch, die andere Menschen einfach in Ruhe lassen und nicht versuchen, ihnen ihre Wert- oder Moralvorstellung aufzudrücken, und sei es nur unterschwellig. Und das liegt wahrlich nicht daran, dass ihr das den Frauen gottgegebene Talent fehlen würde, mit dem Zucken einer Augenbraue oder einem kurzen Blick das über Jahre aufgebaute Weltbild eines Mannes wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen lassen zu können. Nein, sie lässt mich einfach ich selbst sein, so wie ich sie auch sie sein lasse. Es hilft unserer Beziehung sicher auch, dass Ida aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nie mit mir im Bett war. Auch wenn ich das ihr gegenüber niemals zugeben würde.

    „Knackiger, kleiner Hintern", sagt Ida und blickt der Kellnerin nach.

    Nun ja, es schmerzt dennoch, für sie nie interessant gewesen zu sein. Aber mein Ego hat damit zu leben gelernt.

    Ida wendet sich wieder mir zu.

    „Und was liegt bei dir an in nächster Zeit? In Berlin steigt eine richtig nette Party. Eine Freundin von mir eröffnet nächste Woche ihre Galerie und feiert das anständig. Lust?"

    „Eine Galerie?", frage ich erstaunt.

    Ida winkt ab.

    „Ist ein altes Ladenlokal, das sie umgebaut hat. Klingt spektakulärer als es ist. Aber sie hat dort ein paar interessante Kontakte geknüpft und wohl auch schon einige ihrer Bilder verkauft."

    „Vielleicht sollte ich dann auch ein Bild kaufen. Als Wertanlage."

    „Wenn du meinst. Aber sie malt im Moment ausschließlich großformatig. Vier mal vier Meter ist so das Standardformat."

    „Hm, mache ich. „Dann muss ich vorher umziehen. Oder sie malt mir direkt auf die Fußböden.

    „Und wenn du Geld brauchst, reißt du einfach deinen Fußboden raus und verkaufst ihn?"

    „Wieso nicht? Die Nachbarn unter mir freuen sich sicher über sieben Meter hohe Decken."

    „Schwer zu heizen."

    „Ach, die haben’s doch. Er ist den ganzen Tag zu Hause und kann sich dennoch eine Alkoholikerin-Ehefrau und drei Hunde leisten. Ich schätze, er ist Privatier."

    Ida schließt die Augen und grinst.

    „Dein seelenzerfetzender Sarkasmus würde mir unter all dem Künstlergetue fehlen. Also?"

    Ich überlege.

    Einer der Vorteile, die mein Job mit sich bringt, ist der, dass ich mir meine Zeit recht frei einteilen kann. Und wenn nicht irgendetwas völlig Unvorhergesehenes passiert, und das ist praktisch nie der Fall, spricht nichts gegen einen kleinen Berlin-Trip.

    „Ja, warum eigentlich nicht, sage ich schließlich. „Wenn’s mir nicht gefällt, lass’ ich dich einfach stehen und mache was Lustiges.

    „Was könnte denn lustiger sein, als mit mir eine Vernissage zu besuchen?", fragt Ida und tut beleidigt.

    „Mir fällt da auch absolut nichts ein, lache ich und werfe die Hände in die Luft. „Aber man weiß ja nie.

    „Schön gerettet", zwinkert mir Ida zu, als auch schon unsere Cocktails an den Tisch gebracht werden.

    Ich nicke freundlich und nehme mein Getränk entgegen.

    „Vielen Dank", schnurrt Ida in ungewohnt tiefer Stimmlage.

    „Immer wieder gerne", säuselt die Kellnerin und blickt sonderbar auf Ida herunter, bevor sie sich wieder mit eleganten Schritten zurückzieht.

    „Hast du das gesehen?", grinst Ida nun mich an.

    „Aber du lässt sie noch ein wenig arbeiten, bevor du sie in dein ruchloses Schlafzimmer zerrst, oder?"

    „Das sagt der Richtige", sagt Ida und nippt an ihrem Mojito.

    „Interessante Musikauswahl für eine Bar", wechsle ich das eventuell aufkommende Thema und höre dem Anfang von Nothing else matters zu.

    Im Augenwinkel sehe ich, wie Idas Finger zu zucken beginnen.

    „Nein, sag’ es nicht, grinse ich. „Tu’s nicht.

    „Was denn?", fragt sie.

    „Ach, was soll’s, seufze ich und lasse den Kopf hängen. „Bring’s hinter dich.

    „Was?"

    „Sag’, was du sagen wolltest."

    „Okay: Ich kann Nothing Else Matters auf der Gitarre spielen, …"

    „… aber nur den Anfang", beenden Ida und ich synchron den Satz.

    „Du bist’n Arsch", sagt Ida, steht auf, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und verschwindet Richtung Toiletten.

    Ich nicke und lasse meinen Blick umherwandern. Auf der kleinen Tanzfläche fällt mir eine junge Frau auf, die allein zu der Musik tanzt. Ich lehne mich ein Stück aus dem Polster vor und kann erkennen, wie sie Anscheinend völlig in das Lied versunken ihre Lippen bewegt und offensichtlich still für sich mitsingt.

    Traumhaft, denke ich und erhebe mich mit meinem Glas in der Hand aus dem Sofa.

    In einem Bogen gehe ich zu der Tanzfläche und lehne mich in unmittelbarer Nähe des Mädchens an eine Wand. Es wäre ungerecht und vermessen, zu behaupten, dass sie ohne nennenswertes Aussehen wäre, allerdings fällt die Frau weit mehr durch andere Dinge auf als durch ihre bloße Erscheinung. Sie trägt eine enganliegende Jeans, dazu ein dunkles, trägerloses Oberteil, sodass ihr Haar weich auf ihre nackten Schultern fällt. Eine kleine Tätowierung blitzt gelegentlich zwischen ihren Schulterblättern hervor, wenn sich der Saum ihres Tops kurz senkt. Wie hypnotisiert beobachte ich die Frau, deren wahre Schönheit sich erst beim Tanzen offenbart. Mit geschlossenen Augen singt sie Zeile für Zeile des Titels und lässt so, ganz für sich allein in dieser Bar, für wenige Minuten ihre innere Schönheit sichtbar werden für jeden, der bereit ist, mehr in ihr zu erkennen als die bloße Beute.

    Die Musik verklingt, und die Frau öffnet langsam wieder ihre Augen. Ich stehe bereits vor ihr und halte ihr meinen Cocktail entgegen. Wie selbstverständlich nimmt sie ihn, trinkt einen Schluck und reicht ihn mir wieder.

    „Carina", sagt das Mädchen und wischt sich kurz mit einem Finger über die Lippen.

    „Du bist wunderschön, wenn du alleine bist", sage ich.

    „Aber ich bin ja nicht alleine", sagt sie und legt ihren Kopf auf die Seite.

    „Für etwa sechs Minuten warst du es", lächle ich.

    „Was du nicht sagst … Und was bedeutet das jetzt?"

    Carina nimmt mir mein Glas aus der Hand und trinkt erneut einen Schluck.

    Ich lächle und lege meine Handfläche auf ihren Bauch. Carina sieht mich irritiert an, lässt die Geste aber zu.

    „Hier, sage ich. „Genau an dieser Stelle wird es hohl sein und schmerzen. Genau dort wird sich das leere Elend breit einnisten, wenn ich heute Abend alleine in meinem Bett liege. Ich werde mir wie ein Versager vorkommen, wie jemand, der erneut gescheitert ist. Der etwas hätte haben können, aber im richtigen Moment einfach nicht schlau genug war. Und dieses Gefühl der Unzulänglichkeit wird sich tagelang dort befinden, bevor es sich endlich auflöst.

    Carina schaut mich ernst an. Anscheinend überlegt sie, ob sie es gerade mit einem Romantiker oder einem Irren zu tun bekommen hat.

    Meine Hand liegt noch immer auf ihrem Bauch, dessen Muskeln ich straff unter ihrem Shirt fühle.

    „Willst du mich vögeln?", fragt sie schließlich.

    Ich ziehe langsam meine Hand zurück und schüttle den Kopf.

    „Nein, aber ich würde unglaublich gern mit dir schlafen."

    Carina lacht, trinkt einen weiteren Schluck und sieht mich an.

    „Hat diese Tour jemals funktioniert?", fragt sie dann.

    „Tut mir leid, wenn du das so siehst, sage ich. „Hat mich wirklich gefreut, dich kennenzulernen, Carina.

    Ich gehe zurück zum Sofa und finde dort auf dem kleinen Tisch eine Serviette, auf der etwas geschrieben steht:

    Wir telefonieren morgen, du egozentrischer Penner.

    Ich bin jetzt an der Bar.

    Kuss, Ida

    Darunter hat sie einen zwinkernden Smiley gezeichnet.

    Anscheinend hat sie eine alternative Beschäftigung gefunden, denke ich und habe beinahe etwas wie ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Freundin einfach habe sitzen lassen.

    Zum Glück weiß sie aber, mit wem sie unterwegs ist, und wird mir mein Verhalten nicht nachtragen, solange ich den Bogen nicht zu sehr und zu häufig überspanne.

    „Hey, Casanova", höre ich eine Stimme hinter mir.

    „Nenn mich nicht so", sage ich und drehe mich lächelnd herum.

    Bereits im Taxi knutschen Carina und ich wie zwei verliebte Teenager, die es kaum mehr abwarten können, bis der Wagen sein Ziel erreicht hat.

    Der Fahrer scheint sich an derlei Szenen bereits gewöhnt zu haben; mit stoischer Gelassenheit lenkt er den Wagen durch die Straßen, bis wir schließlich bei mir zuhause angekommen sind. Mit Carina in einem Arm halte ich ihm zwischen die Vordersitze hindurch das Geld hin.

    „Ist in Ordnung so", sage ich, und wir steigen aus.

    Obwohl es bei mir im Haus einen Aufzug gibt, eilen wir beide die Treppen hinauf in die zweite Etage. Da sie den Weg naturgemäß nicht kennt, ziehe ich Carina an einer Hand hinter mir her bis in das Schlafzimmer. Wir werfen uns auf mein Bett, zerren uns in gegenseitiger Gier die Kleidung von den Körpern, sodass ich schließlich ihren kleinen nackten Körper in der Dunkelheit unter mir spüre. Augenblicklich durchströmt eine irrsinnige Hitze meinen Körper. Mein Atem geht schwer und wenn ich könnte, ich würde sofort in Carinas Körper versinken. Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass es einem Heroinabhängigen, der sich gerade sein Gift in die Venen gespritzt hat, besser geht als mir. Jetzt, in diesem Augenblick, spüre ich mein Herz. Nicht die organische Blutpumpe unter meinen Rippen, sondern mein richtiges Herz. Das diffuse Gefühl in der Brust, das mir einredet, dass ich zu lieben fähig bin. Mein Leben, dieses Mädchen hier, die ganze Welt. Alles um mich herum löst sich in einem Nirvana auf, ich bestehe nur aus Gefühl, es existiert kein Gleich, nur ein Jetzt. So muss es sich anfühlen, glücklich zu sein.

    Ich küsse Carina und mit ihr zu schlafen, fühlt sich exakt so großartig an, wie ich es mir vorgestellt habe, und ich weiß bereits jetzt, dass ich diese Frau mein Leben lang lieben werde. Dafür, dass sie mir vertraut hat. Dafür, dass sie heute Abend mich erwählt hat. Dafür, dass sie mir ihren wunderbaren Körper zur Verfügung stellt.

    Als ich wach werde, ist es bereits hell. Ich liege auf dem Rücken, und Carina ist heute Nacht etwas heruntergerutscht und auf meinem Bauch liegend eingeschlafen. Ich streichle ihr sanft über den Kopf und ziehe die Bettdecke ein wenig zur Seite, sodass sie etwas mehr Luft bekommt. Mir ist es überhaupt ein Rätsel, wie sie in dieser Position die Nacht verbringen konnte. Ich lege den Kopf zur Seite und betrachte das kleine, gerahmte Bild auf der Kommode. Die Fotografie zeigt meine Eltern, die eng umschlungen auf einer Wiese liegen und breit in die Kamera lachen. Meine Mutter sieht glücklich aus, meinen Vater umgibt ein ungeheurer Stolz, eine solche Frau zu seiner Ehefrau gemacht haben zu können. Laut meiner Tante, bei der ich nach dem Tod meiner Eltern aufgewachsen bin, ist das Bild etwa ein halbes Jahr nach ihrer Hochzeit entstanden. Bei einem Picknick im Park, ungefähr ein Jahr vor meiner Geburt. Auf der Beerdigung meiner Eltern spürte ich zum ersten Mal, dass ich anders war als die Menschen um mich herum. Freunde und Verwandte, alle standen um das große Loch herum, in das man die Körper meiner Eltern gleich herabsinken lassen würde, und weinten. Sie heulten Rotz und Wasser. Nur ich selbst weinte nicht. Ich unterdrückte meine Trauer nicht, ich war nur nicht in der Lage, ihr in irgendeiner Form Ausdruck zu verleihen, außer durch mein Schweigen.

    „Heute ist ein trauriger Tag, selbst die Engel weinen, hatte der Pfarrer zu mir gesagt, war in die Knie gegangen und hatte mich umarmt. „Du darfst ruhig auch weinen. Das ist überhaupt keine Schande.

    Rückblickend betrachtet muss dieser junge Kerl mit Vollbart unglaublich verzweifelt und verwirrt gewesen sein. Ein Neunjähriger, der am Grab seiner Eltern nicht weint. Und er dachte, es läge an meinem Stolz. Daran hatte es nicht gelegen. Daran liegt es nicht. Es liegt nicht an meinem Stolz, dass ich nicht fliegen kann, es liegt nicht an meinem Stolz, dass ich mich nicht unsichtbar machen kann, und es liegt auch nicht an meinem Stolz, dass ich keine Trauer fühlen kann. Keine Trauer, keine Liebe, keine Reue. Ich habe weder ein Gewissen noch fühle ich mich irgendjemandem gegenüber verpflichtet. Ich mag es, wenn man mich mag, aber es ist mir völlig gleichgültig, wenn man mich nicht mag. Es existiert nur eine Sache, die in mir etwas auslöst, das zu kontrollieren ich nicht in der Lage bin, und somit einer wahrhaften Emotion am nächsten kommt: Wenn ich nicht bekomme, was ich will. Wenn ich etwas habe und wieder verliere, empfinde ich keinen Verlust. Da gibt es bei Dingen und bei Menschen keinen nennenswerten Unterschied. Zerbricht ein vielleicht wertvoller Gegenstand: C’est la vie. Ich habe auch nie unter Liebeskummer gelitten. Menschen kommen und gehen, das ist einfach so. Nur musste ich mich mit dieser Tatsache nie erst abfinden, für mich stand sie einfach fest. Wenn ich jedoch etwas wirklich will, es aber für mich unerreichbar bleibt, dann bricht etwas in mir los, was ich bis heute nicht verstehe. Ich bin vor einigen Jahren dazu übergegangen, es als Verzweiflung zu bezeichnen. Das Bild meiner Eltern ist für mich mehr als reine Nostalgie. Es hat für mich auch einen beinahe religiösen Charakter angenommen, scheinen die beiden dort abgebildeten Menschen doch miteinander einen Zustand erlangt zu haben, der mir unerreichbar vorkommt: glücklich sein.

    Giacomo Casanova sagte einmal: „Nur der Gedanke an Liebe widerstrebt mir, denn ich könnte nicht lieben, wenn ich nicht gewiss wäre, allein geliebt zu werden."

    So wie für ihn, so ist die Liebe auch für mich: unerreichbar. Ein Ideal, eine Idee, ein Konzept, mehr nicht. Das Misstrauen und die Skepsis sind uns beiden zu Eigen wie ein Körperteil, den abzuschneiden wir nicht imstande sind, ganz gleich, wie sehr er uns auch behindert auf unserer Suche

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