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Aliana Engel der Finsternis
Aliana Engel der Finsternis
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eBook335 Seiten4 Stunden

Aliana Engel der Finsternis

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Über dieses E-Book

Nach dem vermeintlichen Unfalltod seiner Familie wird Howard Price von rätselhaften Visionen heimgesucht. Es verschlägt ihn von New York in die tiefste englische Provinz, wo er allerdings nicht sich selbst, sondern große Leidenschaft und noch größere Gefahr finden soll.
Geisterhafte Stimmen und grauenhafte Albträume sind nur der Anfang auf seinem Weg in den Wahnsinn. Wäre da nicht Aliana, die schöne, dunkle Unbekannte, die ihm helfen zu wollen scheint. Und tatsächlich wird sie nicht nur seine Unterstützerin, sondern seine Geliebte. Dieser Umstand ruft jedoch weit größere, bösere Mächte auf den Plan, als Howards finstere Träume es je hätten voraussagen können. B40
So muss Howard schließlich erkennen: Er ist nicht zufällig hier!
SpracheDeutsch
HerausgeberMystic Verlag
Erscheinungsdatum31. Okt. 2018
ISBN9783947721047
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    Buchvorschau

    Aliana Engel der Finsternis - Hans Jürgen Hetterling

    zurückgegeben.

    Prolog

    Howard Price rannte keuchend, in völliger Unkenntnis darüber, wohin er überhaupt lief, oder wie lange schon. Die Dunkelheit, die ihn umgab, war nahezu vollständig. Sie hüllte ihn ein mit erstickender Dichte und schien das verzweifelte Beben seiner Lungen, sein Ringen nach Atem, zur Vergeblichkeit zu verdammen.

    Howard wusste nur eines: Wäre es hell gewesen, so hätte sich der Ort seiner panischen Flucht als vollkommen schattenlose Fläche entpuppt, als riesige, flache Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte und weit darüber hinaus. Eine Wüste, innerhalb derer es keine Deckung gab. Keinen Schutz. Keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Also lief er weiter, obwohl er schon lange nicht mehr konnte.

    Seine Beine knickten immer wieder unter ihm weg, nachdem sie sich zunächst angefühlt hatten wie Pudding. Wann war das gewesen, vor Stunden? Jetzt, als ob sie gar nicht zu ihm gehören würden.

    Howard war klar, nur ein einziger Moment der Schwäche, ein kurzes Zögern, und alles wäre aus gewesen. Alles.

    Wer oder was hinter ihm her war, konnte er nicht sagen. Ob es sich nur um einen Verfolger handelte oder um viele. Eines war ihm klar, was immer es war: ja, was, nicht wer, lag jenseits aller Vorstellungskraft.

    Wenn Es ihn erwischte, würde es Dinge mit ihm anstellen, für die es in keiner Sprache der Welt jemals Worte geben würde. Es gab Schlimmeres als den Tod und Schmerzen von der Art, wie jene sie hatten, deren grauenhafte, wahnsinnige, absolut hysterische Schreie das nebelgleiche Dunkel um ihn herum erfüllten, welches er in seine Lungen sog wie ein geruchloses Gift. Diese Schreie waren es, die außer ihm noch in dieser Nacht, von der er wusste, dass ihr niemals ein Morgen folgen würde – nicht hier an diesem Ort – existierten. So wie ihre Urheber, die in namenloser Qual Gefangenen. Und die Gruben.

    Vor einer Weile, die er nicht mit seinem vertrauten Empfinden für das Verstreichen von Zeit vergleichen konnte, wäre er beinahe in eine von ihnen hineingestürzt – und da, jetzt wieder!

    Howard bremste aus vollem Lauf ab, seine Arme ruderten, seine Beine fühlten sich an, als würden sie wie Streichhölzer unter ihm wegknicken.

    Doch er blieb stehen.

    Er fiel nicht in jene metertiefe Aushöhlung in den schwarzen, eisigen Morast, der die Ebene bedeckte. Sie lagen darin, ihre in der Finsternis bleich schimmernden, knochenartigen Finger in das Erdreich gekrallt; in dem Versuch, den Gruben zu entkommen, ihre verdrehten, verrenkten, wunden Leiber fast schon eins geworden mit dem fettigen Schlamm. Sie, das waren unnennbare Paradoxien. Sie waren tot – mussten es sein. Doch trotz ihrer grauenhaften Verstümmelungen, die sie bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten, lebten sie.

    In langsamen, traumverlorenen Bewegungen wälzten sie sich in den mit Morast gefüllten Vertiefungen, Münder und Augen weit aufgerissen. Zugleich aber schienen sie bewusstlos zu sein, gefangen in einer Art Wachkoma.

    Das Grauenhafteste war, dass er das untrügliche Gefühl hatte, dass sie einmal Menschen gewesen waren wie er, nur, dass nicht mehr sehr viel daran erinnerte. Es war, als ob jenes namenlose Entsetzen, das auch ihn verfolgte, diese Leiber entstellt hätte. Ja, es sah aus, als hätte jenes gestaltlose Grauen sie zu einem Teil des dunklen Erdreiches gemacht, sie deformiert, so wie die Hände eines wahnsinnigen, aber begnadeten Künstlers einen Klumpen Ton nach eigenem Willen formen konnten. Wie ein düsterer Schatten aus der Vergangenheit schwebte das Unheil über allem, lautlos wie ein Fluch und zugleich lärmend wie ein Urzeitkoloss.

    „Hilf uns!", heulten verzerrte Münder.

    „Komm zu uns! Komm zu uns herab!", flehten verunstaltete Augen.

    „Hör auf, dich zu wehren, und werde wie wir, teile unser Schicksal!", bettelten hässliche, Mitleid erregende Fleischklumpen, die einmal Hände gewesen waren.

    Howard hatte nichts von all dem vor, doch er wusste, dass sie ihn bei seiner Flucht behindern würden, wenn er über die Gruben zu springen versuchte, weil kein Weg an ihnen vorbeiführte. Sie verlangsamten ihn, während das, was ihn seit Ewigkeiten verfolgte, näher und näherkam.

    Gehetzt blickte er sich um. Sein Herz setzte einen Schlag aus.

    Die ganze Zeit hatte er nicht gesehen, was ihn verfolgte, war nichts als undurchdringliche Finsternis um ihn herum gewesen, und die Ahnung, nein: das sichere Wissen um die Präsenz von etwas Unerhörtem, unendlich Bösen. Jetzt war da etwas, was ihn seine Anstrengungen verdoppeln ließ. Zwei Augen aus blutigem Feuer, die scheinbar gestaltlos über dem Boden schwebten.

    Sie kamen näher.

    Howard gab sich einen Stoß, der seine letzten Kraftreserven mobilisierte, und sprang über eine der Gruben … Schlammverkrustete Klauen schossen in die Höhe, brachten ihn zu Fall, doch er kämpfte sich wieder auf die Beine, lief weiter, lief …

    Auf einmal bekam seine Umgebung eine Struktur, wurden Konturen sichtbar –oder war es die ganze Zeit schon so gewesen und er hatte es nicht registriert? Die Konturen warfen sich auf zu festen Formen, die das Auge erkennen konnte, aus einem dunklen Material gefertigt, doch heller als die Luft, die mit ihrer dumpfen Lichtlosigkeit alles zu ersticken drohte. Es waren Trümmer – Ruinen von Bauwerken völlig unbekannter Architektur, wie die Überreste von Burgen, Tempeln, Türmen und von Steinkreisen, die ein wenig an Stonehenge erinnerten. Sie ließen Howard noch an etwas Anderes denken. Er war schon einmal hier gewesen.

    Ein Ort, gewiss auf keiner Landkarte der irdischen Welt, welcher seine Heimat war, verzeichnet, und doch erfüllte ihn der Anblick mit Vertrautheit – und Furcht. Dies war kein guter Ort. Es war ein Ort dunkler Magie … Es war …

    „Lauf, Howard, lauf!" Sie befand sich plötzlich direkt vor ihm. So nah, dass er sie hätte berühren können. Rosy, seine Frau. In ihrem roten Kleid.

    „Das kann nicht sein, formten seine bebenden Lippen. „Du bist tot. Dennoch wusste Howard, dass es nicht das erste Mal war, dass er an diesem dunklen Ort weilte, sondern dass er ihr dabei durchaus schon begegnet war.

    „Wenn du stehen bleibst, kriegt er dich."

    Aus ihrer Stimme und ihrem Blick sprach echte Besorgnis und sie neigte den Kopf auf ihre Art, wie immer, wenn sie glaubte, dass etwas nicht in Ordnung sei, wie damals, als er den Husten nicht loswurde oder ihr Bruder Ben gemeint hatte, mit den Bremsen seines Wagens sei etwas nicht in Ordnung (was sich bald als richtig erwiesen hatte).

    Howard spürte, wie die Panik einen Eisfilm auf seiner schweißnassen Haut bildete. So, wie sie es sagte, drohte echte Gefahr. Etwas sehr Schlimmes.

    „Ich bin gekommen, um dich zu warnen." Sie zeigte in Richtung der Augen, welche ihn verfolgten. Sie schienen ein düsteres und böses Licht zu verströmen und waren dicht herangekommen. So nahe, dass er die Zusammenballung von Schatten unter ihnen als eine Art Körper wahrnehmen konnte. Etwas aus den schlimmsten Albträumen seiner Kindheit.

    „Was ist das hier?, brach es aus ihm heraus. „Was will es von mir? Wieso bist du da? Bist du noch am Leben? Sie sah sich hektisch um, als hätte sie etwas gehört. Im Hintergrund, zwischen den Steintrümmern, war plötzlich eine offene Türe. Hinter ihr, in dem Raum – oder dem Ort, zu dem sie führte – loderte ein Feuer wie im zentralen Brennkessel einer gewaltigen Heizungsanlage.

    „Ich muss gehen!" Rosy hob kurz die Hand, als wollte sie ihn berühren, dann wandte sie sich abrupt um und ging auf die Türe zu, auf das Feuer, das sie schon einmal getötet hatte, das wusste er plötzlich. Sah sie es nicht? Sah Rosy nicht, dass sie in ihr Verderben lief? Er schrie ihren Namen und kurz bevor sie in der orange-roten, wütend prasselnden Feuerwand verschwand – mit ihr verschmolz – wandte sie sich noch einmal um.

    „Folge dem Lied der Zeit, welches dein Herz singt, Howard. Dein wahres Herz. Folge dem Lied der zeitlosen Zeit, die in sich selbst zurückkehrt." Ohne ein weiteres Wort, wie unter einem Bann, verschwand sie völlig lautlos in der Flammenhölle. Wieder hatte er ihr nicht helfen können.

    Als er sich umwandte, waren die Augen ganz nah. Sie verwandelten sich in fleischige, riesige Gebilde, die auf surreale Weise zu einem Rachen verschmolzen, einem orange-rot klaffenden (fast von der gleichen Farbe wie das Feuer hinter der Türe), mit dolchartigen Reißzähnen bewehrten Rachen, der einen Dinosaurier hätte verschlingen können. Er pendelte über Howard, der genau wusste, dass er nun (wieder) verschlungen werden würde. Doch etwas war dieses Mal anders. Er wandte den Kopf. Als hätte er etwas gehört.

    Zwischen der Türe (die noch da war, wenn auch geschlossen) und den Felstrümmern, von denen nicht klar war, ob sie eine natürliche Formation darstellten oder Reste eines Bauwerkes waren, befand sich eine Säule. Auf ihr saß jemand. Eine junge Frau, nackt. Ihre Haut schimmerte so weiß wie Mondlicht. Sie hockte zusammengekauert dort. Ihr langes, seidiges, blauschwarz schimmerndes Haar umhüllte wie ein sanft gewellter Umhang ihre Schultern. Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren schwarzes Feuer. Howard Puls begann zu rasen.

    „Lass ihn in Ruhe, sagte sie leise, mit gebieterischer Autorität. „Er gehört mir. Sie erhob sich, breitete die Arme aus wie der Gekreuzigte und plötzlich wurde die Dunkelheit hinter ihr vom Schlag unzähliger Schwingen gepeitscht. Der Rachen brüllte drohend, ein fäulnisstinkender Orkan, der Howard fast von den Beinen riss. Howard schrie.

    Ihr Gesicht. Etwas war mit ihrem Gesicht. Howard schrie noch immer, als er auf seiner Seite der Realität erwachte. Er ruderte so heftig mit den Armen, dass der Radiowecker von dem kleinen Nachttisch aus Nussbaum gefegt wurde und auf dem bordeauxfarbenen Bettvorleger landete.

    Er kauerte halb aufgerichtet auf dem Bett, bis sich sein Atem halbwegs beruhigt hatte.

    Nicht der erste Traum dieser Art, dachte er bitter. Ich verliere den Verstand. Waren das überhaupt Träume?

    Die eigenartige Stimmung, die sie stets begleitete, hallte in ihm nach, ein Beben, als hätte er sich lange in Wasser befunden, sein Körper in einer Dünung treibend, ohne festen Boden unter sich. Ein Gefühl wie Gummi, das die Grenze zwischen der Welt des Traumes und dem Zimmer, in dem er sich befand, verschwimmen zu lassen schien.

    Howards erster Impuls, wie wohl jedes Menschen nach einem Albtraum, war es, das Licht anzuschalten.

    Allzu düster und stofflich erschienen ihm die Schatten, die sich unter den Dachbalken ballten, genau dort, wo sein Bett stand. Das Licht des Mondes und der Sterne, welches durch die Gardinen des kleinen Giebelfensters hereinschien, bot nur wenig Trost. Doch diesmal griff er nicht nach der Nachttischlampe mit dem längst aus der Mode gekommenen, kitschig anmutenden Schirm.

    Ein anderes Licht, bläulich und kalt, bot einen Anker zurück in die vertraute Welt mit ihren Tatbeständen, Sachverhalten, Beziehungen. Er hatte den Laptop nicht ausgeschaltet, als er zu Bett gegangen war, und die Chatroomseite war noch aufgerufen. Er hatte eine Nachricht erhalten. Darkeroticangel09 hatte ihm wieder geschrieben. Er wusste nicht, wie sie aussah, sie hatte ihm noch kein Bild von sich geschickt und in ihrem Profil war auch keines.

    Aber vielleicht ist sie die Frau auf der Säule im Traum, dachte er, nicht ohne Belustigung. Das brachte ihn endgültig wieder ins Hier und Jetzt zurück.

    Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie es ist.

    Welche Frau, die er noch nicht einmal kannte, von ein paar Zeilen auf dem Bildschirm abgesehen, hatte es jemals in seine Träume geschafft?

    Howard Price spürte, dass sich in seinem Leben – was noch davon übrig war –eine entscheidende Wende zu vollziehen begann.

    Was ihn bedeutend mehr beunruhigte als alle Albträume der Welt.

    Kapitel 1

    Aus dem lichtlosen Dunkel einer Nacht, von der niemand wusste, wie lange sie gedauert haben mochte, tauchte etwas auf, wie die Blase eines giftigen Gases vom Grund eines unendlich tiefen Gewässers. Etwas, das sich langsam zu einem Bewusstsein formte. Zu dem Bewusstsein: „Ich bin!"

    Das Bewusstsein des „Ich bin! tauchte weiter empor, nach oben, immer weiter nach oben, durch einen Schacht, dessen Wände aus dem Stoff der Dunkelheit selbst geformt zu sein schienen, von einer erstickenden Enge, und die dennoch dieses Bewusstsein, diese Ich-Blase, passieren ließen auf seinem Weg nach oben, zu einem unbekannten Ziel irgendwo dort in der Höhe. Er begann, zu erwachen. Da war eine Stimme in seinem Kopf, der sein Bewusstsein beherbergte, und zugleich außerhalb, eine Stimme wie das Dröhnen einer mächtigen Glocke aus altersverkrusteter Bronze, majestätisch und tief von den Grenzen des Universums widerhallend, eine Stimme, die sagte: „Ich trat an den Strand des Meeres und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner …

    Das Bewusstsein war noch getrennt von einem Körper, besaß noch keine Gewalt über Muskeln, Ausdruck oder Kraft, und dennoch spürte es, wie etwas wie das Äquivalent von Lippen sich zu einem Grinsen verzog, es hörte diese Worte nicht zum ersten Mal.

    „… Und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung …"

    Der Aufstieg des Bewusstseins beschleunigte sich, trat etwas wie Erinnerung hinzu, Erinnerung, die das bloße Gewahrsein seines Selbst zu einer Persönlichkeit formte.

    „… Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Parder und seine Füße wie Bärenfüße und sein Mund wie eines Löwen Mund …"

    Triumph begann, das Bewusstsein zu erfüllen, das Wesen, das da auftauchte aus einer namenlosen Finsternis, böser, gieriger, hasserfüllter Triumph, und es war ihr, als hallte der lichtlose Schacht, der sie umgab, wider von ihrem Gelächter …

    „… Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Stuhl und große Macht …"

    Obschon das mit Erinnerung und boshaftem Triumph erfüllte Bewusstsein noch immer nicht über einen Mund verfügte, hörte es doch die eigenen Worte widerhallen in der Dunkelheit:

    „Ja …! So ist es … So soll es sein! Ich … Ich bin der Drache des Abgrunds …!"

    In diesem Augenblick schlug er seine Augen auf … und die Lippen, über die er nun gebieten konnte, wie über den Rest seines Körpers, sprachen selbst das weiter, was die gesichtslose Stimme aus dem Schacht begonnen hatte, zu reden:

    „… und sie beteten den Drachen an, der dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich und wer kann mit ihm kriegen?" Er spürte, wie sich sein Gesicht unter dem Triumph in seiner Seele furchte. Schwarzer, böser Triumph war es, der ihn erfüllte. Ein sardonisches Grinsen, das es auf sein Gesicht zauberte.

    Gesicht? Er betastete es mit den Spitzen seiner Finger, die ihn grässlichen Nägeln endeten. Eine köstliche Empfindung, wieder über Fleisch zu verfügen. Wie lange hatte er dieser Erfahrung entbehrt? Jahre? Jahrhunderte? Es spielte keine Rolle. Es zählte nur, dass er wieder hier war. Dass er zurückkehrte. Wie in einem jähen Anfall von Raserei fuhren seine krallenbewehrten Hände an seinen Hals. Ein plötzliches Aufblitzen von Erinnerung hatte den alten Schmerz wieder ausgelöst, den Schmerz und die Erniedrigung, den Gedanken daran, wie es gewesen war. Das Ende.

    Doch da war nichts mehr. Nur eine brennende Narbe auf der Brust, wie er ertasten konnte. Eine Narbe von der Form eines Halbkreises.

    Am Boden blitzte etwas auf, wie ein kurzer Lichtstrahl. Isaak bückte sich. Seine Hände fanden die Kette aus Silber mit traumwandlerischer Sicherheit und schlossen sich darum, voll unbändiger Wut. Hielten sie dann vor sein Gesicht, so dass er den Gegenstand am Ende der Kette betrachten konnte. Ein Amulett, das, wenn es vollständig gewesen wäre, einen perfekten Kreis beschrieben hätte, nun aber einen halben darstellte.

    Wie eine Hälfte des sich füllenden Mondes am Nachthimmel. Ein Amulett aus Kupfer oder Bronze, mit zahllosen, verwirrenden Zeichen darin eingraviert. Zeichen, die ein Muster bildeten, welches ein kurzes Lächeln auf seinen Zügen einfrieren ließ. Um sich sogleich zu einer Fratze diabolischen, abgrundtiefen Hasses zu verwandeln. Er schleuderte das Amulett von sich, als hielte er einen Gegenstand extremer Hitze in Händen. Diese Kette aus geweihtem Silber. Er hatte sie um den Hals getragen, für sehr lange Zeit. Wieso? Sein Kopf hob sich. Da war etwas. Er nahm eine Witterung auf, schnüffelte wie ein Tier. Etwas Lebendiges musste vor nicht allzu langer Zeit ganz in der Nähe gewesen sein. Ratten? Er lächelte wieder. Menschliche Ratten, vielleicht. Ein leichter Windhauch richtete seine Aufmerksamkeit auf einen winzigen Durchgang in der Wand, einen nach oben führenden Stollen, durch den ein Mann, wenn auch kriechend, nach draußen gelangen konnte. Hinaus!

    Er widerstand dem Impuls, in die Freiheit zu streben. Er hatte es nicht nötig, den Dienstboteneingang zu nehmen, wie sterbliche Ratten. Er nicht. Sein Verstand wurde von einer Flut von Bildern überwogt, Bilder aus seiner Erinnerung an seine Zeit unmittelbar vor dem …

    Großen Nichts. Der absoluten Dunkelheit. Flüche. Keuchen. Die Geräusche eines erbitterten Kampfes. Die Fäuste von Männern. Ihr Blut, das unter seinen Klauen aufspritzte. Gebete. Ihre Gebete, die sie an ihren dreifaltigen Gott richteten.

    Der Ort, an dem er sich befand, damals wie heute, hallte wieder von seinem Zorngebrüll, dessen er sich erst nach einigen Augenblicken, in denen sich der wahnwitzige Trommelwirbel seines Herzens wieder beruhigt hatte, bewusstwurde. Wo immer sich auch ein unfreiwilliger Zeuge befinden mochte – wenn es einen solchen gab – der dieses Gebrüll gehört hatte, würde an die Gegenwart eines wilden Tiers glauben. Oder daran, dass die Pforten der Hölle selbst offen standen in diesem Augenblick. Er lauschte dem Echo seiner eigenen Stimme nach und wieder lächelte er. Spürte, wie er sich mehr und mehr seiner selbst gewahr wurde.

    Seines Leibes.

    Seiner Hände

    Seiner Augen.

    Seiner Kraft.

    Seiner Macht.

    Die nächsten Worte formte er mit Bedacht, jede Silbe, jeden einzelnen Buchstaben betonend wie ein Gebet des Unheils an den Teufel selbst:

    „… Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen … Und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen …"

    Er blickte sich um.

    Es war nicht das erste Mal, dass er aus dem Totenreich, dem großen Abgrund, zurückkehrte.

    Er hatte in seinem, viele Zeitalter währenden Leben schon oft diese Grenze passiert, einmal sogar mit dem Teufel selbst um seine Rückkehr gefeilscht, und sein Name war in den Reichen der Hölle kein unbekannter.

    Sein Name.

    Isaak de Bankloe. Der Blutrichter. Der Henker. Der Höllenhund.

    Viele waren gestorben, mit seinem Namen auf den Lippen, voller Hass, voller Grauen. Voller Furcht und Hoffnungslosigkeit. Zu Zeiten, als sein Herz noch wie das eines Lebenden schlug, und er unter ihnen weilte in derselben Wärme des Blutes wie sie, und erst recht, seit sein Herz nicht mehr aufhören konnte zu schlagen, weil es genährt wurde von der silbernen Milch des Mondes. Von den Effloreszenzen des Nachtgestirns und dem Blut der Lebenden …

    Er befand sich in einem tiefen Gewölbe, voller Staub und Spinnen. Mächtige Mauern aus rußfleckigen, zum Teil geborstenen Steinquadern hüllten ihn ein. Verrottendes Gerümpel in der Ecke. Der Boden bedeckt von dem weißen Staub, zu dem die Zeit die Steine ringsumher zermahlen hatte im Spiel der Unendlichkeit.

    An den Wänden des Gewölbes, das von einer kuppelartigen Decke überwölbt wurde, befanden sich mannshohe Kreuze aus morschem, halb zerfallenem Holz. Die einzige Türe, die zu dem Gewölbe führte, hatte man zugemauert und auch dort ein Kruzifix angebracht.

    Isaak de Bankloe schnaubte voller Verachtung. Hatten sie geglaubt, ihn damit aufhalten zu können? Mit Mauern aus dickem Stein, irgendwo tief unter der Erde, und mit ihren heiligen Symbolen?

    Seine Klauenhände fuhren über das Holz der Kreuze. Es schmerzte nicht. Dazu besaß er eine zu große Macht. Der Raum war nicht besonders groß, doch er wusste, dass er einen Teil einer größeren, unterirdischen Anlage bildete. Staub, Spinnweben und Verfall. Dies also war sein Gefängnis, sein Grab gewesen für lange Zeit. Kein angemessener Ort für einen Mann seiner Macht.

    Im nächsten Augenblick krümmte sich de Bankloe zusammen wie in einem plötzlichen Starrkrampf, und die mit Spinnweben verhangenen Mauern hallten wider von einem Laut der Qual, der aus seinem Mund fuhr wie das bösartige Zischen eines Orkans. Er musste sich abstützen, doch bereits im nächsten Moment beruhigte sich sein Atem wieder.

    Hunger. Es war die Gier, die wieder in ihm erwachte. Rasender Blutdurst, der Preis des Lebens in der Sterblichen-Welt. Er musste ihn stillen.

    Lautlos wie ein Schatten und so schnell wie ein Gedanke huschte er zur Türe, deren dunkles Holz, das sich im Lauf der Zeiten mit ungesunder, klammer Nässe vollgesogen hatte, unter seinem Hieb zersplitterte. Ein Geräusch, das ihn an berstende Knochen erinnerte und seinen Hunger, seine Gier steigerte bis zur Raserei.

    Graue Steine. Noch mehr graue Steine, von Mörtel in der gleichen Farbe zusammengehalten.

    Sie hatten ihn in der Hoffnung, ihn für alle Zeit bannen zu können, im Reich des Todes hier unten eingemauert.

    Es war das Werk eiliger, hektischer Hände gewesen, die diese Mauer hochgezogen hatten, getrieben von Furcht, ja, nackter Panik, das sah de Bankloe sofort.

    Doch er wusste, dass auch eine solche Konstruktion, die aufgrund ihres Materials für die Menschen etwas wie Dauer repräsentieren sollte, vielleicht sogar Ewigkeit, für seine Kraft kein Hindernis darstellte. Er hob einen Arm, um die Mauer mit einem einzigen Hieb zu zertrümmern, so, wie er es gewohnt war, doch er hielt inne. Seine Kräfte. Sie waren zurückgekehrt. Wieso hatten sie ihn überhaupt verlassen? Wieso war es Sterblichen gelungen, ihn zu überwältigen, vor einer Zeit, über deren Dauer er momentan noch nichts wissen konnte? Seine Klauen waren es gewohnt, die schwachen Leiber der sterblichen Menschen in der Luft zu zerreißen wie Puppen, und dennoch musste es ihnen damals gelungen sein, ihn zu überwältigen, und in den großen Abgrund zu stürzen, der erfüllt war von Schwärze und Dunkelheit … und ihm selbst die Freuden der Hölle vorenthielt! Isaak de Bankloe musste feststellen, dass seine Erinnerung an seine letzte Zeit auf Erden noch nicht vollständig wiedergekehrt war, doch lag dies allein am Hunger, der ihn trieb, rasend machte und sein Blut, von dem gegenwärtig viel zu wenig durch seine Adern strömte, kochen ließ.

    Das Amulett …!

    Was hatten seine gottesfürchtigen Häscher doch für ein Aufheben gemacht um dieses Ding, was hatten sie zugleich all ihre Hoffnungen in es gelegt, und es doch zugleich auch gefürchtet …

    Das Amulett.

    De Bankloe ging zu der Stelle, wo er es hingeworfen hatte, hob es auf, und besah es näher.

    Seine Augen lasen die verwirrenden Zeichen an der Oberfläche, lasen sie wie die Sätze eines Buches, das tiefe Geheimnisse barg. Obgleich er auch nicht alles erkennen konnte, was dort stand in einer Sprache, die in dieser Welt schon lange verklungen war, so vermochte er doch mehr zu lesen, als ein Sterblicher es gekonnte hätte, genug, um zu wissen, welch Siegel nahezu unbeschränkter Macht er in Händen hielt. Mächtig genug, ihn einst zu Boden gerungen und gefesselt zu haben, bis zum heutigen Tag! Wieso tat es das jetzt nicht mehr?

    Wieso war die Macht des Amuletts jetzt erloschen, waren die feurigen Strahlen unerträglichen Schmerzes, die einen Käfig aus purer, flammender Energie um ihn gelegt hatten, verschwunden?

    Das spielte im Augenblick keine Rolle. Das war eine Frage, die zurückgestellt werden konnte, wenn sie auch nicht ohne Wichtigkeit war, gewiss nicht! Doch was jetzt zählte, war der Hunger.

    Die Gier. Das heiße Tosen des Blutes in seinen Adern und dessen Hämmern in seinen Ohrenklang wie düstere Trommeln, die schreckliches Unheil verkündeten. Unter knirschendem Krachen zerbarst die Mauer, die den Eingang zum unterirdischen Grab de Bankloes versiegelt hatte, unter der unbezwingbaren Wucht seines Zorns. Zum ersten Mal seit einer Zeit, die weitaus länger währte, als das Leben eines einzelnen Menschen, wehte eisige Nachtluft in die staubigen Kammern unter der Erde und trug ihren Duft in den Gestank des Moders, der Nässe und des Zerfalls, brachte Schauer von Millionen Düften mit sich, süß, wild und voller Verheißung.

    Myriaden von Molekülen aus der Welt da draußen, ein Kaleidoskop von Reizen, welche die Sinne de Bankloes bestürmten, umwölkten und durchdrangen. Die sich steigerten zu einer Ekstase, die jenseits aller sterblichen Vorstellungen lag.

    Einen einzigen Herzschlag lang glaubte er, zusammenzubrechen unter diesem Angriff ungezügelter, wilder Sinnlichkeit, doch dann spürte er, wie eine Kraft, wie, kochend heiße Lava ihn zu durchströmen begann. So, als habe sich die Verheißung, die diese Duftkaskaden mit sich brachten, bereits erfüllt.

    Er warf den Kopf in den Nacken und stieß sein Gebrüll aus, donnernd und

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