Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Aliana - Engel der Finsternis
Aliana - Engel der Finsternis
Aliana - Engel der Finsternis
eBook334 Seiten4 Stunden

Aliana - Engel der Finsternis

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nach dem vermeintlichen Unfalltod seiner Familie wird Howard Price von rätselhaften Visionen heimgesucht. Es verschlägt ihn von New York in die tiefste englische Provinz, wo er statt Ruhe und Erholung einer großen Leidenschaft und tödlicher Gefahr begegnet. Geisterhafte Stimmen und grauenhafte Albträume sind nur der Anfang auf seinem Weg in den Wahnsinn. Wäre da nicht die schöne, dunkle, geheimnisvolle Aliana. Sie wird seine Geliebte und Unterstützerin im Kampf gegen die alles bedrohenden dunklen Mächte. Howard erkennt: Er ist nicht zufällig hier!
SpracheDeutsch
HerausgeberMystic Verlag
Erscheinungsdatum15. Juli 2019
ISBN9783947721115
Aliana - Engel der Finsternis

Ähnlich wie Aliana - Engel der Finsternis

Ähnliche E-Books

Horrorfiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Aliana - Engel der Finsternis

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Aliana - Engel der Finsternis - H.J. Hettley

    Welt.

    Kapitel 1

    Aus dem lichtlosen Dunkel einer Nacht, von der niemand wusste, wie lange sie gedauert haben mochte, tauchte etwas auf, wie die Blase eines giftigen Gases vom Grund eines unendlich tiefen Gewässers. Etwas, das sich langsam zu einem Bewusstsein formte. Zu dem Bewusstsein: „Ich bin!"

    Das Bewusstsein des „Ich bin! tauchte weiter empor, nach oben, immer weiter nach oben, durch einen Schacht, dessen Wände aus dem Stoff der Dunkelheit selbst geformt zu sein schienen, von einer erstickenden Enge, und die dennoch dieses Bewusstsein, diese Ich-Blase, passieren ließen auf seinem Weg nach oben, zu einem unbekannten Ziel irgendwo dort in der Höhe. Er begann, zu erwachen. Da war eine Stimme in seinem Kopf, der sein Bewusstsein beherbergte, und zugleich außerhalb, eine Stimme wie das Dröhnen einer mächtigen Glocke aus altersverkrusteter Bronze, majestätisch und tief von den Grenzen des Universums widerhallend, eine Stimme, die sagte: „Ich trat an den Strand des Meeres und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner …

    Das Bewusstsein war noch getrennt von einem Körper, besaß noch keine Gewalt über Muskeln, Ausdruck oder Kraft, und dennoch spürte es, wie etwas wie das Äquivalent von Lippen sich zu einem Grinsen verzog, es hörte diese Worte nicht zum ersten Mal.

    „… Und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung …"

    Der Aufstieg des Bewusstseins beschleunigte sich, trat etwas wie Erinnerung hinzu, Erinnerung, die das bloße Gewahrsein seines Selbst zu einer Persönlichkeit formte.

    „… Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Parder und seine Füße wie Bärenfüße und sein Mund wie eines Löwen Mund …"

    Triumph begann, das Bewusstsein zu erfüllen, das Wesen, das da auftauchte aus einer namenlosen Finsternis, böser, gieriger, hasserfüllter Triumph, und es war ihr, als hallte der lichtlose Schacht, der sie umgab, wider von ihrem Gelächter …

    „… Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Stuhl und große Macht …"

    Obschon das mit Erinnerung und boshaftem Triumph erfüllte Bewusstsein noch immer nicht über einen Mund verfügte, hörte es doch die eigenen Worte widerhallen in der Dunkelheit:

    „Ja …! So ist es … So soll es sein! Ich … Ich bin der Drache des Abgrunds …!"

    In diesem Augenblick schlug er seine Augen auf … und die Lippen, über die er nun gebieten konnte, wie über den Rest seines Körpers, sprachen selbst das weiter, was die gesichtslose Stimme aus dem Schacht begonnen hatte, zu reden:

    „… und sie beteten den Drachen an, der dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich und wer kann mit ihm kriegen?" Er spürte, wie sich sein Gesicht unter dem Triumph in seiner Seele furchte. Schwarzer, böser Triumph war es, der ihn erfüllte. Ein sardonisches Grinsen, das es auf sein Gesicht zauberte.

    Gesicht? Er betastete es mit den Spitzen seiner Finger, die ihn grässlichen Nägeln endeten. Eine köstliche Empfindung, wieder über Fleisch zu verfügen. Wie lange hatte er dieser Erfahrung entbehrt? Jahre? Jahrhunderte? Es spielte keine Rolle. Es zählte nur, dass er wieder hier war. Dass er zurückkehrte. Wie in einem jähen Anfall von Raserei fuhren seine krallenbewehrten Hände an seinen Hals. Ein plötzliches Aufblitzen von Erinnerung hatte den alten Schmerz wieder ausgelöst, den Schmerz und die Erniedrigung, den Gedanken daran, wie es gewesen war. Das Ende.

    Doch da war nichts mehr. Nur eine brennende Narbe auf der Brust, wie er ertasten konnte. Eine Narbe von der Form eines Halbkreises.

    Am Boden blitzte etwas auf, wie ein kurzer Lichtstrahl. Isaak bückte sich. Seine Hände fanden die Kette aus Silber mit traumwandlerischer Sicherheit und schlossen sich darum, voll unbändiger Wut. Hielten sie dann vor sein Gesicht, so dass er den Gegenstand am Ende der Kette betrachten konnte. Ein Amulett, das, wenn es vollständig gewesen wäre, einen perfekten Kreis beschrieben hätte, nun aber einen halben darstellte.

    Wie eine Hälfte des sich füllenden Mondes am Nachthimmel. Ein Amulett aus Kupfer oder Bronze, mit zahllosen, verwirrenden Zeichen darin eingraviert. Zeichen, die ein Muster bildeten, welches ein kurzes Lächeln auf seinen Zügen einfrieren ließ. Um sich sogleich zu einer Fratze diabolischen, abgrundtiefen Hasses zu verwandeln. Er schleuderte das Amulett von sich, als hielte er einen Gegenstand extremer Hitze in Händen. Diese Kette aus geweihtem Silber. Er hatte sie um den Hals getragen, für sehr lange Zeit. Wieso? Sein Kopf hob sich. Da war etwas. Er nahm eine Witterung auf, schnüffelte wie ein Tier. Etwas Lebendiges musste vor nicht allzu langer Zeit ganz in der Nähe gewesen sein. Ratten? Er lächelte wieder. Menschliche Ratten, vielleicht. Ein leichter Windhauch richtete seine Aufmerksamkeit auf einen winzigen Durchgang in der Wand, einen nach oben führenden Stollen, durch den ein Mann, wenn auch kriechend, nach draußen gelangen konnte. Hinaus!

    Er widerstand dem Impuls, in die Freiheit zu streben. Er hatte es nicht nötig, den Dienstboteneingang zu nehmen, wie sterbliche Ratten. Er nicht. Sein Verstand wurde von einer Flut von Bildern überwogt, Bilder aus seiner Erinnerung an seine Zeit unmittelbar vor dem …

    Großen Nichts. Der absoluten Dunkelheit. Flüche. Keuchen. Die Geräusche eines erbitterten Kampfes. Die Fäuste von Männern. Ihr Blut, das unter seinen Klauen aufspritzte. Gebete. Ihre Gebete, die sie an ihren dreifaltigen Gott richteten.

    Der Ort, an dem er sich befand, damals wie heute, hallte wieder von seinem Zorngebrüll, dessen er sich erst nach einigen Augenblicken, in denen sich der wahnwitzige Trommelwirbel seines Herzens wieder beruhigt hatte, bewusstwurde. Wo immer sich auch ein unfreiwilliger Zeuge befinden mochte – wenn es einen solchen gab – der dieses Gebrüll gehört hatte, würde an die Gegenwart eines wilden Tiers glauben. Oder daran, dass die Pforten der Hölle selbst offen standen in diesem Augenblick. Er lauschte dem Echo seiner eigenen Stimme nach und wieder lächelte er. Spürte, wie er sich mehr und mehr seiner selbst gewahr wurde.

    Seines Leibes.

    Seiner Hände

    Seiner Augen.

    Seiner Kraft.

    Seiner Macht.

    Die nächsten Worte formte er mit Bedacht, jede Silbe, jeden einzelnen Buchstaben betonend wie ein Gebet des Unheils an den Teufel selbst:

    „… Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen … Und es tat seinen Mund auf zur Lästerung gegen Gott, zu lästern seinen Namen …"

    Er blickte sich um.

    Es war nicht das erste Mal, dass er aus dem Totenreich, dem großen Abgrund, zurückkehrte.

    Er hatte in seinem, viele Zeitalter währenden Leben schon oft diese Grenze passiert, einmal sogar mit dem Teufel selbst um seine Rückkehr gefeilscht, und sein Name war in den Reichen der Hölle kein unbekannter.

    Sein Name.

    Isaak de Bankloe. Der Blutrichter. Der Henker. Der Höllenhund.

    Viele waren gestorben, mit seinem Namen auf den Lippen, voller Hass, voller Grauen. Voller Furcht und Hoffnungslosigkeit. Zu Zeiten, als sein Herz noch wie das eines Lebenden schlug, und er unter ihnen weilte in derselben Wärme des Blutes wie sie, und erst recht, seit sein Herz nicht mehr aufhören konnte zu schlagen, weil es genährt wurde von der silbernen Milch des Mondes. Von den Effloreszenzen des Nachtgestirns und dem Blut der Lebenden …

    Er befand sich in einem tiefen Gewölbe, voller Staub und Spinnen. Mächtige Mauern aus rußfleckigen, zum Teil geborstenen Steinquadern hüllten ihn ein. Verrottendes Gerümpel in der Ecke. Der Boden bedeckt von dem weißen Staub, zu dem die Zeit die Steine ringsumher zermahlen hatte im Spiel der Unendlichkeit.

    An den Wänden des Gewölbes, das von einer kuppelartigen Decke überwölbt wurde, befanden sich mannshohe Kreuze aus morschem, halb zerfallenem Holz. Die einzige Türe, die zu dem Gewölbe führte, hatte man zugemauert und auch dort ein Kruzifix angebracht.

    Isaak de Bankloe schnaubte voller Verachtung. Hatten sie geglaubt, ihn damit aufhalten zu können? Mit Mauern aus dickem Stein, irgendwo tief unter der Erde, und mit ihren heiligen Symbolen?

    Seine Klauenhände fuhren über das Holz der Kreuze. Es schmerzte nicht. Dazu besaß er eine zu große Macht. Der Raum war nicht besonders groß, doch er wusste, dass er einen Teil einer größeren, unterirdischen Anlage bildete. Staub, Spinnweben und Verfall. Dies also war sein Gefängnis, sein Grab gewesen für lange Zeit. Kein angemessener Ort für einen Mann seiner Macht.

    Im nächsten Augenblick krümmte sich de Bankloe zusammen wie in einem plötzlichen Starrkrampf, und die mit Spinnweben verhangenen Mauern hallten wider von einem Laut der Qual, der aus seinem Mund fuhr wie das bösartige Zischen eines Orkans. Er musste sich abstützen, doch bereits im nächsten Moment beruhigte sich sein Atem wieder.

    Hunger. Es war die Gier, die wieder in ihm erwachte. Rasender Blutdurst, der Preis des Lebens in der Sterblichen-Welt. Er musste ihn stillen.

    Lautlos wie ein Schatten und so schnell wie ein Gedanke huschte er zur Türe, deren dunkles Holz, das sich im Lauf der Zeiten mit ungesunder, klammer Nässe vollgesogen hatte, unter seinem Hieb zersplitterte. Ein Geräusch, das ihn an berstende Knochen erinnerte und seinen Hunger, seine Gier steigerte bis zur Raserei.

    Graue Steine. Noch mehr graue Steine, von Mörtel in der gleichen Farbe zusammengehalten.

    Sie hatten ihn in der Hoffnung, ihn für alle Zeit bannen zu können, im Reich des Todes hier unten eingemauert.

    Es war das Werk eiliger, hektischer Hände gewesen, die diese Mauer hochgezogen hatten, getrieben von Furcht, ja, nackter Panik, das sah de Bankloe sofort.

    Doch er wusste, dass auch eine solche Konstruktion, die aufgrund ihres Materials für die Menschen etwas wie Dauer repräsentieren sollte, vielleicht sogar Ewigkeit, für seine Kraft kein Hindernis darstellte. Er hob einen Arm, um die Mauer mit einem einzigen Hieb zu zertrümmern, so, wie er es gewohnt war, doch er hielt inne. Seine Kräfte. Sie waren zurückgekehrt. Wieso hatten sie ihn überhaupt verlassen? Wieso war es Sterblichen gelungen, ihn zu überwältigen, vor einer Zeit, über deren Dauer er momentan noch nichts wissen konnte? Seine Klauen waren es gewohnt, die schwachen Leiber der sterblichen Menschen in der Luft zu zerreißen wie Puppen, und dennoch musste es ihnen damals gelungen sein, ihn zu überwältigen, und in den großen Abgrund zu stürzen, der erfüllt war von Schwärze und Dunkelheit … und ihm selbst die Freuden der Hölle vorenthielt! Isaak de Bankloe musste feststellen, dass seine Erinnerung an seine letzte Zeit auf Erden noch nicht vollständig wiedergekehrt war, doch lag dies allein am Hunger, der ihn trieb, rasend machte und sein Blut, von dem gegenwärtig viel zu wenig durch seine Adern strömte, kochen ließ.

    Das Amulett …!

    Was hatten seine gottesfürchtigen Häscher doch für ein Aufheben gemacht um dieses Ding, was hatten sie zugleich all ihre Hoffnungen in es gelegt, und es doch zugleich auch gefürchtet …

    Das Amulett.

    De Bankloe ging zu der Stelle, wo er es hingeworfen hatte, hob es auf, und besah es näher.

    Seine Augen lasen die verwirrenden Zeichen an der Oberfläche, lasen sie wie die Sätze eines Buches, das tiefe Geheimnisse barg. Obgleich er auch nicht alles erkennen konnte, was dort stand in einer Sprache, die in dieser Welt schon lange verklungen war, so vermochte er doch mehr zu lesen, als ein Sterblicher es gekonnte hätte, genug, um zu wissen, welch Siegel nahezu unbeschränkter Macht er in Händen hielt. Mächtig genug, ihn einst zu Boden gerungen und gefesselt zu haben, bis zum heutigen Tag! Wieso tat es das jetzt nicht mehr?

    Wieso war die Macht des Amuletts jetzt erloschen, waren die feurigen Strahlen unerträglichen Schmerzes, die einen Käfig aus purer, flammender Energie um ihn gelegt hatten, verschwunden?

    Das spielte im Augenblick keine Rolle. Das war eine Frage, die zurückgestellt werden konnte, wenn sie auch nicht ohne Wichtigkeit war, gewiss nicht! Doch was jetzt zählte, war der Hunger.

    Die Gier. Das heiße Tosen des Blutes in seinen Adern und dessen Hämmern in seinen Ohrenklang wie düstere Trommeln, die schreckliches Unheil verkündeten. Unter knirschendem Krachen zerbarst die Mauer, die den Eingang zum unterirdischen Grab de Bankloes versiegelt hatte, unter der unbezwingbaren Wucht seines Zorns. Zum ersten Mal seit einer Zeit, die weitaus länger währte, als das Leben eines einzelnen Menschen, wehte eisige Nachtluft in die staubigen Kammern unter der Erde und trug ihren Duft in den Gestank des Moders, der Nässe und des Zerfalls, brachte Schauer von Millionen Düften mit sich, süß, wild und voller Verheißung.

    Myriaden von Molekülen aus der Welt da draußen, ein Kaleidoskop von Reizen, welche die Sinne de Bankloes bestürmten, umwölkten und durchdrangen. Die sich steigerten zu einer Ekstase, die jenseits aller sterblichen Vorstellungen lag.

    Einen einzigen Herzschlag lang glaubte er, zusammenzubrechen unter diesem Angriff ungezügelter, wilder Sinnlichkeit, doch dann spürte er, wie eine Kraft, wie, kochend heiße Lava ihn zu durchströmen begann. So, als habe sich die Verheißung, die diese Duftkaskaden mit sich brachten, bereits erfüllt.

    Er warf den Kopf in den Nacken und stieß sein Gebrüll aus, donnernd und kraftvoll, wie ein großes und mächtiges Tier, schrecklich in seiner Wildheit, und die Welt da draußen krümmte sich schaudernd zusammen in Furcht und dem Wissen:

    Isaak de Bankloe war zurückgekehrt …!

    Kapitel 2

    Der Herbst kam früh in diesem Jahr, und er brachte die eisigen Winde der Küste mit sich, den Geruch nach Meer und Salz. Nach Freiheit, so sagten manche.

    Andere rochen in der Ahnung des Meeres die Fäulnis – und den Tod.

    Lucy Wandell nahm nichts von beidem wahr an diesem Abend, der düstere Wolkenbänke über das Land, über die abgeernteten Felder und den Wald mit seinen alten, dunklen Bäumen schickte.

    Was sie wahrnahm, war die empfindliche Kühle des Windes und die Tatsache, dass sie viel zu dünn angezogen war für diese Jahreszeit, in der das Licht schwand und die Abende länger wurden und ein bitteres Gefühl der Einsamkeit mit sich brachten.

    Dieser Einsamkeit hatte sie heute entrinnen wollen und sich deshalb in Schale geworfen. Ihre Aufmachung enthüllte mehr als sie verdecken sollte. Sie hatte sich zu Fuß aufgemacht, durch den Wald ins Dorf, in die Schänke namens Point Blank, um sich mit einem Mann zu treffen. Doch dieser war nicht erschienen. Dreckskerl.

    Sie hatte eigentlich darauf spekuliert, nicht allein nach Hause laufen zu müssen, schon gar nicht, wenn die Nacht sich über den Wald senkte, der ihr schon seit ihrer Kindheit unheimlich gewesen war.

    Genau genommen hatte sie gehofft, heute Nacht nicht allein bleiben zu müssen, und erst am Morgen, nach ein paar Stunden geraubter Zweisamkeit in ihre schäbige Dreizimmerwohnung, die sie sich mit ihrer Tochter Sandy teilte, zurückzukehren.

    Doch wie es aussah, hatte das Schicksal andere Pläne mit ihr und missgönnte ihr die Flucht aus ihrem deprimierenden Alltag.

    Die Einzige, die sich nun freute, war die kleine Betsy McKinnan, die auf Sandy, die erst zehn war, aufpassen sollte, und nun doch noch den Abend bei ihrem Freund verbringen konnte, um genau das zu tun, was Lucy eigentlich hatte tun wollen.

    Warum war Peter, dieser Scheißkerl, nicht gekommen? Warum ging er nicht an sein Handy?

    Sie konnte nicht behaupten, dass sie eine regelrechte Beziehung mit Peter hatte.

    Eine sexuelle, ja, und das war für beide okay. Peter war nicht der einzige Mann in ihrem Leben, aber das störte ihn nicht. In der letzten Zeit hatte sie viele Männer gehabt, er wusste das, und es macht ihn nicht im Mindesten eifersüchtig, im Gegenteil, es brachte ihn richtig in Fahrt, wenn sie bei einem Schäferstündchen erzählte, was sie mit den anderen trieb und wie sie es taten, und er wollte immer alles ganz genau wissen.

    Sie traf sich ein paar Mal im Monat mit ihm und dann gingen sie an einen abgelegenen Ort, wenn es warm war, auf eine abgelegene Wiese, oder in den Wald, und trieben es dort wie die Teenager. Einmal hatten sie es sogar auf einem öffentlichen WC getan. Sie mussten sich derart verstecken, Peter war verheiratet, was Lucy wiederum nicht störte. Er holte sich bei ihr, was er bei seiner frigiden Alten nicht bekam.

    Für Lucy, mit ihrem kleinen Gehalt als Putze, das gerade für das Nötigste, Sandy und sie reichte, waren Affären dieser Art die einzige Möglichkeit, auszubrechen aus der bedrückenden Enge ihrer Existenz. Sie zog ihre rostrote Strickweste fester um ihre schlanke, fast hagere Gestalt, und stemmte sich gegen den Wind, der mit sadistischer Treffsicherheit seinen Weg unter ihr Minikleid fand und ihr eine höllisch unangenehme Gänsehaut verursachte.

    So strebte sie den alten Gehöften zu, die vor ein paar Jahren von der Gemeinde aufgekauft worden waren, um, nach einer mehr als dürftigen Sanierung, bezahlbare Wohnungen anbieten zu können.

    Es hatte in den letzten Tagen geregnet, und so glitt sie zweimal auf ihren hochhackigen Schuhen beinahe aus – nur ein olympiareifer Beinahe-Spagat verhinderte jedes Mal einen Sturz voll in den Schlamm der aufgeweichten Waldwege – und ein alter Seemann wäre bei den Flüchen, die sie dabei vor sich hinmurmelte, rot geworden.

    Sie ertappte sich dabei, wie sie sich vorstellte, was Betsy, das kleine Luder, heute noch alles mit ihrem Steve anstellen würde, und eine ungute Hitze begann, sie zu erfüllen. Zum einen war es fraglos Neid, der ihre Laune in Richtung Nullpunkt drückte, zum andern ihre eigene, unbefriedigte Gier. Die Tatsache, dass sie, fast dreißig Jahre älter als Betsy, froh sein konnte, wenn sie überhaupt noch manchmal einen Kerl abbekam.

    Lucy war spindeldürr und ganz gewiss keine Schönheit, darüber machte sie sich keine Illusionen. Es gab in der Siedlung genug Weiber, die sich ihre Tratschmäuler darüber zerrissen, wer die größere Hure war, sie oder Betsy McKinnan, die nebenbei die Einzige war, die es als Babysitterin mit der mehr als schwierigen Sandy überhaupt aushielt.

    Mit dem Unterschied, dass Betsy noch weit unter zwanzig und eine rassige Schönheit war, sich ihrer Wirkung auf hormondurchflutete Männerhirne wohl bewusst. Da sie beide in verschiedenen Territorien Jagd auf ihre Beute machten, kamen sie sich niemals in die Quere und so verstanden sich die beiden Frauen recht gut. Betsy war für Lucy genaugenommen die einzige Möglichkeit, ihrem Hobby – manche bezeichneten sie als nymphoman – nachzugehen, ohne Sandy allzu sehr zu vernachlässigen.

    „Heute, zischte Lucy die umstehenden Bäume an, „heute werde ich es mir wieder selber besorgen müssen, während dieses geile Miststück … Sie blieb kurz stehen.

    Da war etwas gewesen. Lucy spürte, wie Gänsehaut ihren Nacken kribbeln ließ. Ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gehabt hatte. Es bedeutete eine Gefahr, die ihr Körper unbewusst signalisierte. Sie hatte das als Kind immer gehabt, wenn ihr Vater besoffen nach Hause gewankt kam und begonnen hatte, erst die Wohnung und dann seine Frau auseinanderzunehmen. Genau genommen bedeutete ein kribbelnder Nacken allein noch nicht viel, Anlass zu wirklicher Sorge gab es erst, wenn das Gefühl ihren Rücken bis zum Steißbein hinabrieselte.

    Da war doch etwas gewesen, ein Huschen, dort drüben zwischen den alten, knorrigen Bäumen und dem Gestrüpp, in dem man vor lauter Dunkelheit schon nichts mehr erkennen konnte. Ein Huschen, begleitet von einem Windstoß, noch kälter, als der Wind heute Abend ohnehin schon blies. Richtig eisig. Lucy kniff die Augen zusammen – sie hatte aus Eitelkeit die Brille heute weggelassen und sah ohnehin schon nicht gut, aber es war bereits zu dunkel, um überhaupt etwas zu erkennen. Aber wie konnte das sein …? Sie hatte doch erst ein paar Schritte zurückgelegt, seit sie beim Anblick des schwindenden Lichts ein Stoßgebet gen Himmel geschickt hatte, dass sie, bevor es ganz Nacht wurde, noch zu Hause ankam. Eine Hoffnung, die ihr, aufgrund der Tatsache, dass sie die Strecke eigentlich in- und auswendig kannte, als keineswegs abwegig erschien.

    Jetzt war sie von einem Herzschlag zum anderen von tiefer Finsternis umgeben, die zwischen den Sträuchern und Bäumen hockte, wie etwas Greifbares. Ein Blick nach oben überzeugte sie, dass der Himmel noch immer seine fahlgraue Farbe hatte, über deren endlose Fläche schwere, dunkle Wolkenfetzen zogen. Lucy spürte, wie sich ihre Gänsehaut – ihre Da-ist-etwas-verdammt-nicht-in Ordnung-Gänsehaut – nun über den gesamten Rücken ausbreitete, und nicht nur das. Die Haut an ihren Armen und Beinen zog sich schmerzhaft zusammen, so sehr, dass sie fast geschrien hätte. Ihr Körper brüllte: Lauf weg! Hau ab! Lauf einfach weg! Doch wovor?

    Lucy spürte, wie sie zu zittern begann. Wieder versuchte sie, mit ihrer Kurzsichtigkeit ihre nähere Umgebung zu erkennen, doch die Lichtverhältnisse reichten gerade aus, die Dinge, die sich eine Armlänge entfernt befanden, einigermaßen zu sichten. Über die Wipfel der alten Bäume zogen noch immer die Wolken, schweigend und wie im Zeitraffer.

    Lucy fiel auf, dass sich noch etwas verändert hatte. Es war gespenstisch still. In den Abendstunden sangen normalerweise die Amseln in den Zweigen, doch jetzt war es, als hielte die Natur den Atem an, wie in Erwartung von etwas. Lucy spürte, dass eine unbestimmte Furcht in ihren Eingeweiden zu rumoren begann. Nicht nur wegen eines Huschens oder eines kalten Windes. Sie hatte noch etwas wahrgenommen.

    Kapitel 3

    Im gleichen Augenblick, als dieser eiskalte Windstoß sie berührt hatte, war da eine Stimme in der Stille gewesen, wie ein heiseres Raunen, nur einen winzigen Moment lang, doch ganz deutlich, ganz nah bei ihrem linken Ohr. Sie hatte das Gefühl, als habe jemand – oder etwas – sie berührt. Etwas, das ganz und gar nicht in Ordnung war, etwas unendlich … Schmutziges. Es hatte sie beschmutzt, in diesem winzigen Augenblick ihres Zusammentreffens. Lucy rieb über ihre Arme und konnte dem Impuls nicht widerstehen, an ihren Ärmeln zu riechen, so, als sei sie sich nicht sicher, ob ihre Kleidung einen Sturz in den Dreck heil überstanden hätte. Doch da war nichts. Nur ein leichter Hauch ihres billigen Parfüms, das zu verfliegen begonnen hatte. Diese Erkenntnis beruhigte sie keineswegs. Wieder ein Schauer, der sie überlief, kalt und stark, zudem begann ihr Herz laut zu pochen und ihre Knie fühlten sich an wie aus weicher Gallerte. Lauf weg. Lauf. Lauf …

    Ein letzter Blick in die dunkle Schattenmasse des Unterholzes und sie beherzigte den Ratschlag.

    Da war etwas Bedrohliches. Es ist nicht mehr weit. Renn! Du schaffst es …

    Sie stöhnte innerlich auf, als sie sah, was sich rechter Hand aus den unnatürlichen Schatten schälte.

    Bereits als Kind war sie den Weg durch den Wald ins Dorf gegangen, weil schon ihre Oma in den Gehöften gewohnt hatte. Etwa auf halber Wegstrecke, heimwärts zu ihrer Rechten, befand sich eine natürliche Anhäufung grauer Felsen, die eine Konstruktion bildeten, die ein wenig an ein Hünengrab erinnerten. Mehrere aufrechtstehende Felsen wurden von einem quer liegenden überragt, weshalb das Ganze im Volksmund auch Teufelstisch genannt wurde. Schon Lucys Großmutter hatte ihr schaurige Legenden erzählt, von Hexen, die des Nachts dort einen Sabbat abhielten, und von dem Teufel, der dabei leibhaftig anwesend war, bald in der Gestalt eines schönen jungen Mannes, bald in der eines Ziegenbocks. Die Geschichten waren nicht das Schlimmste gewesen – sondern ihre Fantasie, die sie dazu brachte, dass sie an der Stelle auf dem Heimweg in der Dämmerung niemals lief, sondern rannte, als seien tausend Furien hinter ihr her. Sie vermied es stets, die Felsengruppe direkt anzuschauen, weil sie nicht sehen wollte, was sich dort möglicherweise abspielte.

    Ihre Fantasie hatte ihr geflüstert von etwas, das dort in den Schatten hockte und sie mit hungrigen Augen anstierte … Wenn sie des nachts allein in ihrem Bett lag und den Streit ihrer Eltern verfolgte, das Brüllen und Lallen ihres besoffenen Vaters, dann hatte sie sich ausgemalt, was das wohl sein konnte, das in dem Geviert aus Steinen, im Innern des Teufelstisches hockte.

    Sie hatte es nie geschafft, ein Bild vor ihrem inneren Auge zu produzieren, und war dafür stets dankbar gewesen. Jetzt lief sie und lief, in dieser schrecklichen Dunkelheit, die viel zu früh hereingebrochen war über das Land an diesem Abend, von dem Wunsch beseelt, nach Hause in Sicherheit zu kommen. In dem Bewusstsein, an der Felsformation, die wie eine Manifestation ihrer Kindheitsängste dahockte, vorbei zu müssen, wenn sie die Sicherheit ihres Zuhauses erreichen wollte.

    Da! Da war wieder etwas …! Lucy stieß einen spitzen Schrei aus und hielt im Lauf abrupt inne, sodass sie fast gestürzt wäre.

    Etwas hatte mit irrsinniger Geschwindigkeit ihren Weg gekreuzt, war von links kommend nach rechts an ihr vorbeigeschossen, in Richtung der Felsen. In Höhe ihres Kopfes. Sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1