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Herr über Fels und Stein: Lieder von Schatten und Licht Band 3
Herr über Fels und Stein: Lieder von Schatten und Licht Band 3
Herr über Fels und Stein: Lieder von Schatten und Licht Band 3
eBook516 Seiten6 Stunden

Herr über Fels und Stein: Lieder von Schatten und Licht Band 3

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Über dieses E-Book

Die Schlacht gegen die Clankrieger ist gewonnen, doch der ausgehandelte Frieden zwischen den ungleichen Völkern steht auf wackeligen Beinen. Cordic sieht sich verpflichtet, die ihm zugedachte Rolle in dem Spiel der Mächte einzunehmen, und fordert von Fiona ein Opfer, das ihr Vertrauen in ihn zutiefst erschüttert. Sie verweigert sich seinen Plänen, aber Cordic ist nicht bereit, das zu akzeptieren. Zwischen den Intrigen Khatalahs und seinem Kampf um ihre Liebe hin- und hergerissen, trifft er eine bittere Entscheidung und riskiert, Fiona endgültig zu verlieren.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum12. Apr. 2020
ISBN9783748735762
Herr über Fels und Stein: Lieder von Schatten und Licht Band 3

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    Buchvorschau

    Herr über Fels und Stein - Swantje Berndt

    1. Prolog

    – Der Meister der Wissenden –

    Am Rande des Geschehens besaß es durchaus einen ästhetischen Wert. Die Lichtwogen, die sich wabernd durch Straßen und Mauern fraßen, waren beeindruckend, ihre gleißende Wucht, die weder Glas noch Fleisch verschonte, weckte eine tiefe Demut in ihm.

    So sehr er den Anblick genoss, er war der Beweis seines Versagens.

    Das Volk der Lichten in der Stadt aus Glas. Ein Experiment. Gewagt, doch vielversprechend. Es war gescheitert. Der Auslöser dieser Katastrophe war Mahkis selbst gewesen. Er und eine penetrante Bitte um einen stärkeren Schild. Der Große Schutz war zusammengebrochen und das Licht, bestohlen um sein Futter, fraß sich durch die Stadt.

    Das Entsetzen und der Tod der Menschen, die verzweifelt versuchten, sich vor seinem Hunger in Sicherheit zu bringen, ihre verhallenden Schreie, nachdem sie über jedes erträgliche Maß hinaus erklungen waren. Ihr sinnloses Hin- und Herhetzen, ihr Flehen um Gnade und Schutz.

    Einer nach dem anderen verstummte, wurde eins mit der zäh fließenden Masse.

    Der Meister befahl der Öffnung zwischen der Leere und dem Konstrukt aus Raum und Zeit, sich weiter zu öffnen. Zu seinen Füßen wurde die Geschichte einer Welt geschrieben. Es galt, die Vorgänge mit Bedacht zu beobachten.

    Seltsam. Letztendlich erfüllte das Licht die Wünsche dieses Volkes. Es brachte ihm Ruhe und Frieden. Wo das Leben herrschte, existierte weder das eine noch das andere. Nur der Tod schenkte Stille. Er vereinnahmte diesen sonderbaren Ort, bis das Tosen verstummte und der letzte Schrei verhallt war. Der Nahrung beraubt erlosch das gleißende Licht. Ruhe breitete sich aus, legte sich friedlich über den See aus geschmolzenem Glas. Wie Insekten in Bernstein, so waren die Körper der Menschen darin eingeschlossen. Ewigkeiten würden vergehen, ohne dass es jemand vermochte, ihnen ein Leid zuzufügen.

    Eventuell war dieses Experiment kein Desaster, sondern hatte lediglich einen unerwarteten Ausgang genommen. Zurück blieb die Erinnerung an ein ausgelöschtes Volk. Die wenigsten waren bereit gewesen, sich ein paar Kindern anzuschließen, um die Mauer aus Licht zu verlassen. Im letzten Augenblick, ehe das große Sterben seinen Lauf genommen hatte. Die Flüchtenden schleppten sich durch das Ödland nach Norden. Sie konnten den Untergang ihres Volkes nicht aufhalten. Sie waren zu schwach, zu sehr darauf bedacht, der einen Gefahr zu entkommen, um sich in den Rachen der anderen zu werfen. Der Norden barg dunkles, wildes Grauen. Die Lichten waren dieser Herausforderung nicht gewachsen. Nicht umsonst hatten sie sich all die Jahre hinter dem Großen Schutz verborgen.

    Sie siechten dahin. Schon jetzt. Verwundet von dem Licht, gezeichnet von Hunger und Schrecken, nicht ahnend, dass sie bei jedem Schritt von den Namenlosen beobachtet wurden.

    Noch eine kleine Weile. Ein unbedeutender Wimpernschlag im Dasein, und die Seelen erloschen wie ihre Stadt. Dieses Volk spielte keine Rolle mehr. Wozu Sorgen daran verschwenden? Es sich selbst zu überlassen, hieß es dem Tod zu überantworten.

    Eine besonnene Lösung.

    Es genügte ein Gedanke von ihm und die Namenlosen wandten sich von dem armseligen Tross ab. Ob die Lichten es spürten? Die plötzliche Einsamkeit? Die Haltlosigkeit? Wie welke Blätter im Herbstwind. Ihr Schicksal würde sie in die Vergessenheit wehen.

    Wenn nur dasselbe mit dem Schattenlichtmädchen geschähe.

    Lun hatte es gewagt, sie aus der Leere zu befreien. Dieses unverzeihliche Vergehen glich einer Gräueltat. Es war seine Schuld, dass Sur im Nichts zwischen hier und dort zerschellt war.

    Ein leichtes Unbehagen breitete sich in dem Meister aus. Surs Todesschreie hatten die Festen der Welten erschüttert. Sein Verlust war kaum auszugleichen.

    Nun wandelte Rags Tochter auf freiem Fuß und mit gefährlichen Verbündeten an ihrer Seite. Wie ihrem Vater, so würden auch ihr Chaos und Finsternis folgen.

    Wohin? Dank Lun standen ihr die Welten offen.

    Der Meister war verpflichtet, den Schaden zu begrenzen. Darauf zu hoffen, dass sie in den Kriegswirren um Khatalah ihr Leben verlor, wäre leichtfertig, obwohl die Möglichkeit immens war.

    Schritte in der Leere. Er spürte sie, ohne sie zu hören.

    Eri trat an seine Seite. Er blickte zu aufgewühlt für einen Wissenden in die erstarrten Gesichter der Toten. Ihr maßloser Schrecken spiegelte sich in seinem.

    Und verging.

    Ein Echo. Bedeutungslos.

    »Vergebt mir die Störung Eurer kontemplativen Betrachtungen, doch etwas ist vorgefallen, das Ihr wissen solltet.« Sein Augenlid zuckte.

    Er war noch weit von der notwendigen Gelassenheit entfernt. Die bedrohliche Unruhe in seinem Inneren verdankte er seinem letzten Auftrag. Das Schattenlichtmädchen hatte ihn gezeichnet.

    »Der Abtrünnige hat Rags Tochter soeben durch das Tor im Grauen Horn zurück in ihre Exilwelt gebracht.« Eri senkte den Blick. »Einem Namenlosen ist es gelungen, Lun zurückzustoßen, doch das Mädchen entkam.«

    Lun. Wieder hatte er sich eingemischt. Der erste und einzige, der gegen den Willen des Meisters agierte. Das Schattenlichtmädchen besaß eine nicht zu unterschätzende Macht, wenn es ihm gelang, einen Wissenden derart zu manipulieren. Dennoch, es hätte schlimmer kommen können. Die Exilwelt des Mädchens war für den Fortbestand der Ordnung des Universums bedeutungslos. Ein blinder Fleck zwischen den Welten. Solange sie dortblieb, konnte sie keinen Schaden anrichten.

    »Rags Tochter darf ihr Exil nicht mehr verlassen.«

    Eri nickte. »Meister, aber was geschieht, wenn Lun noch einmal für sie die Pforten zwischen den Welten öffnet?«

    »Die Namenlosen werde es verhindern.« Und seine Befehle würden eindeutig sein. Im Vergleich zu Sur war der Verlust des Abtrünnigen hinzunehmen.

    ~*~

    2. Schutt und Asche

    – Ahfid –

    Rauschen. In seinem Kopf. Sein Schädel zerbarst.

    Ahfid presste die Hände gegen die Schläfen, rang nach Luft, schluckte Staub. Vor Husten rannen ihm Tränen übers Gesicht, doch sie wuschen seine Augen nicht aus. Die brannten und weigerten sich, mehr als empordrängende Wolken und Nebel zu erkennen. Er bauschte sich im blassen Schein der Lichtsphäre zu wulstigen Ungetümen.

    Dumpfes Poltern, das Geräusch rollender Steine. Etwas Hartes stieß an seinen Kopf, nahm ihm das letzte bisschen Klarheit, das ihm der ohrenbetäubende Knall gelassen hatte.

    Er kauerte sich zusammen, verbarg seinen Kopf unter den Armen.

    Lebendig begraben zu werden. Kein guter Tod.

    Stille. Dick und undurchdringlich wie der Staub. War es vorbei?

    Er setzte sich hin, starrte in graue Schwaden. Sie senkten sich unerträglich langsam, gaben nur zögernd Schemen preis.

    Jemand lag reglos zwischen den Steinen. Nur ein paar Schritte von ihm entfernt.

    Veta.

    Nein, bitte …

    »Veta!«

    Sie rührte sich nicht.

    »Veta!« Zu ihr kriechen, sie berühren.

    Keine Regung, kein Pochen, gar nichts bis auf Kälte. Sie steckte in seinen Fingern, ließ ihn nichts fühlen außer erbärmlicher Angst. Sie würgte ihn stärker als der Dreck in der Kehle.

    »Veta, bitte …« Er brauchte Licht!

    Die Sphäre. Zu weit weg. Wie sollte er Veta alleinlassen? Nein, keinen einzigen Herzschlag lang. Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken.

    Eine Maske aus Grau und Rot. Ihr Gesicht?

    Kälte fraß sich durch sein Herz, ließ es erstarren. Wie die Hand an ihrer Wange, wie jede Regung in ihm.

    Er würde Nehrit töten. Wegen dieser Frau. Weil er …

    »Ahfid?« Die staubigen Lider flatterten, öffneten sich. »Keine Sorge, mir geht’s gut.«

    Sie lebte.

    Sein Kopf sank nach unten. Ganz von allein. Erst als seine Stirn ihre Brust berührte, verharrte er. Beim Grün der ewigen Wälder. Sie lebte.

    »Du blutest«, nuschelte er in die Falten ihres Kleides. »Sag mir, dass es nur Kratzer sind.«

    »Es sind nur Kratzer.« Sie klang heiser, leise.

    Das lag am Staub. Ganz sicher. An nichts anderem.

    Er schlang die Arme um sie, richtete sich mit ihr zusammen auf. »Bist du sicher, dass dir nichts wehtut?«

    »Mir tut alles weh.« Sie lachte rau. »Mach dir trotzdem keine Sorgen um mich.«

    Er drückte sie fester an sich. Wenn er sie verloren hätte. Nein. Der Gedanke war verboten. Ebenso wie das Gefühl, das er in ihm weckte.

    »Du zerdrückst mich.«

    Ahfid schloss die Lider. Sie lebte. Das war gut. So unendlich gut.

    Wie sacht ihre Fingerspitzen über seine Wangen strichen. »Du weinst ja.«

    »Mir ist was ins Auge gekommen.«

    Ihr Blick entlarvte ihn als Lügner, ihr Lächeln schenkte ihm die Wärme seines Herzens zurück.

    Er ließ sie nie wieder los und Nehrit war so oder so ein toter Mann. Schon wegen der ausgestandenen Angst.

    Das Rot ihrer Haare hatte sich in Grau verwandelt.

    Er fuhr mit den Fingern hindurch, Wolken stiegen auf. »Wenn du nicht willst, dass ich vor Sorge sterbe, lieg nie wieder wie tot auf dem Boden herum.«

    Sie bettete ihren Kopf an seine Brust. »Hat Cordics Plan funktioniert?«

    Cordic!

    »Bleib ruhig.« Sie sah über seine Schulter hinweg. »Er steht da hinten neben dem Wanderer.«

    Die Steine, die dieses Mal hinab polterten, stammten von seinem Herzen.

    Cordic und Lun starrten auf einen Schuttwall. Dahinter lag das Tor, nur durch einen schmalen Spalt zwischen Geröll und Tunnelwand zu erreichen. Lun hatte Fiona hindurchbringen sollen. In dem Moment, als die Decke herabgestürzt war. Weshalb stand er davor, und wo war sie?

    Der Anblick der Brocken schnürte ihm den Atem ab.

    Veta befreite sich aus seiner Umarmung, erhob sich. »Lun?«

    Der reagierte nicht.

    Bei allen Finsternissen!

    Ahfid quälte sich auf die Beine, humpelte zu den beiden Männern, die wie eingefroren schienen. »Lun, bitte sag, dass es geklappt hat!«

    Lun nickte, doch sein Blick haftete weiterhin auf den Trümmern.

    »Rede mit mir!« Ahfid packte ihn an der Schulter. »Du bist in den Durchgang gesprungen, hast Fiona mit dir gerissen. Dennoch bist du hier! Wie ist das möglich?«

    »Ich weiß es nicht.« Lun hob ratlos die Hände. »Sie wehrte sich mit jedem Gedanken. Also blieb mir nichts übrig, als sie auf der anderen Seite hindurchzustoßen.« Er wischte sich übers Gesicht, als ob er seinen Augen immer noch nicht trauen könnte. »Ich wäre ihr liebend gern gefolgt, aber der Durchgang verschloss sich so plötzlich vor mir, dass ich zurückprallte.«

    »Ich tue so, als hätte ich überhört, dass du uns liebend gern im Stich gelassen hättest.« Veta musterte ihn mit gerunzelter Stirn, was Staubbröckchen von ihren Brauen rieseln ließ. »Was ist, wenn sie irgendwo im Waldland herauskommt oder noch schlimmer: Im Süden vor der Glasstadt? Hast du nicht gesagt, das Tor sei ein Springer?«

    »Das hätte ich gefühlt.«

    »Wenn du das sagst, Wanderer.« Ihr Spott ging in einem Hustenanfall unter.

    »Es ist so«, beteuerte Lun. »Der Durchgang schmeckte und roch nach ihrer Welt. Eine unangenehme Mischung aus Müll und Kuhweide.«

    Veta zog die Brauen hinauf, löste damit weitere Staublawinen in ihrem Gesicht aus.

    »Wir müssen ihm vertrauen.« Ahfid schlang die Arme um sie, küsste sie auf die staubige Wange. »Er macht so was öfter.«

    Luns Seitenblick strafte ihn ab.

    Wofür?

    Veta stieß ihn an, nickte zu Cordic.

    Der stand mit hängenden Armen da, starrte nach wie vor auf die Trümmer. Seine Finger umschlangen Fionas Halstuch. Sie hatte es ihm auf die Wunde an seiner Wange gedrückt. Cordics Gesicht war angeschwollen und blutverschmiert, aber wirkliche Sorgen bereitete ihm die Leere in Cordics Augen.

    Ahfid ging zu ihm. »Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Bei Karl ist sie in Sicherheit.«

    Endlose Momente vergingen, ehe Cordic den Blick hob, doch er galt Lun. »Du wirst sie nicht zurückholen.«

    Woher kam die Kälte in seiner Stimme?

    »Keiner von euch.«

    »Das lässt sich einrichten.« Lun brachte ein winziges Lächeln zustande. »Wir Wissenden schrieben Karls Welt vor Ewigkeiten ab. Was dort geschieht, interessiert uns nicht mehr. Fiona ist für uns offiziell ein Ärgernis. Glaub mir, der Meister wird sehr zufrieden mit dieser Lösung sein.«

    Cordic nickte mit zusammengebissenen Zähnen.

    Er liebte sie, hatte die Hoffnung gehegt, eine Verbindung mit ihr einzugehen. Der Moment, als er mit ihm die Passstraße hinaufspaziert und Ahfid Zeuge seiner Gefühle geworden war, schien unendlich weit entfernt.

    Es war zu viel geschehen. Wahrscheinlich hatte Cordic nie damit gerechnet, das Wiedersehen mit Rag zu überleben. Bevor er sich mit Fiona auf den Weg zu ihrem Vater begeben hatte, hatte er Ahfid den Geburtsreif überlassen. Eine in Gold gefasste Erinnerung eines unglücklichen Vaters, der seine einzige Tochter an die Clankrieger verloren hatte. Cordic hatte das Mädchen nie gefunden. Vielleicht war ihm der Schmuck deshalb so wertvoll.

    Er gab Cordic den Armreif zurück.

    Der streifte ihn über, ohne den Blick zu heben.

    »Wir müssen hier weg.« Veta nickte zu dem Berg aus herabgebrochenen Trümmern. »Wir klettern darüber und Lun bringt uns durch das Tor nach draußen.«

    »Geht nicht.« Lun ließ den Kopf hängen. »Das Tor braucht Zeit, um sich zu erholen.«

    »Zeit?« Veta lachte bitter auf. »Sieh dich um, Wanderer! Jeden Moment kann die Decke über uns einbrechen!« Sie bückte sich nach der Lichtsphäre. »Dann lasst uns hoffen, dass wir einen Weg nach draußen finden, der noch nicht verschüttet wurde.« Sie hielt die Lichtkugel vor sich und leuchtete das von dem Gang aus, was übrig war. »Im Moment bleibt uns nur dieser Tunnel, danach muss uns Cordic führen. Er ist der Einzige, der sich hier unten auskennt.« Sie marschierte entschlossen in die Dunkelheit.

    Cordic unternahm keine Anstalten, ihr zu folgen.

    »Du musst mitkommen.« Ahfid packte ihn am Arm. »Fiona lebt, und das ist das Wichtigste!«

    Er reagierte nicht.

    Bei allen Finsternissen! »Sie hat hier keine Zukunft!« Er riss ihn zu sich herum, schüttelte ihn. »Du schon!« Sollten sie dieses verdammte Chaos verlassen können.

    Die dunklen Lider wirkten zu schwer, um sich jemals zu heben. Als sie es dennoch taten, traf ihn ein Blick, der sein Herz zucken ließ.

    Etwas in Cordic war zerbrochen. Vielleicht war es auch niemals heil gewesen. Nun lag es endgültig in Scherben.

    Mitgefühl und Wut. Wie oft hatte er beide Gefühle in Cordics Gegenwart gleichzeitig erlebt?

    »Fiona braucht keinen Mann, der sein Leben wegen zermürbender Clanfehden riskiert und nur Zeit für Kämpfe und Eroberungsstrategien aufbringt.« Es war gut, dass sie zu Karl zurückgekehrt war. Und zwar bevor es zwischen ihr und Cordic ernster werden konnte. Was Vookit mit Cordic plante, hätte ihr ohnehin nicht gefallen. Sie hätte versucht, sich querzustellen, und sämtliche Verhandlungen damit behindert. Sie mochte ein Kind dieser Welt sein, seinethalben auch Rags Tochter, doch aufgewachsen war sie an einem Ort, der weder Halbwesen noch Nebelwölfe kannte. Von plündernden und mordenden Clankriegern ganz zu schweigen. »Vor ihr liegt ein friedliches, glückerfülltes Leben!« Das musste Cordic einsehen. »Weit weg von Chaos und Finsternis.«

    Der dunkle Blick strafte ihn einen Narren.

    Fiona war die Tochter von Chaos und Finsternis. Früher oder später würde Rags Erbe das lichte Blut ihrer Mutter niederringen, und dann?

    Er weigerte sich, diese Frage zu beantworten.

    »Entweder ihr folgt mir«, rief Veta aus der Dunkelheit des Tunnels, »oder wir begraben uns gegenseitig.«

    »Komm schon!« Er packte Cordic am Kragen, zog ihn hinter sich her.

    Der leistete keinen Widerstand, stolperte mit ihnen über die Trümmer.

    – Fiona –

    Kälte. Nicht klar und schneidend, eher feucht und schwer. Der Gestank nach Fäulnis war verschwunden. Wintergeruch, doch anders als in Khatalah. Süßlich, gefüllt mit welkem Laub und nasser Erde.

    Dröhnen im Kopf, Pfeifen in den Ohren.

    Die Explosionen.

    Ihre Augen tränten, sie konnte kaum etwas erkennen. Überall war Staub in ihrem Gesicht und warum war es plötzlich so still?

    Vor ihr lag etwas Blaues, Pralles in dreckigem Schnee. Es stank. Eine gammelige Bananenschale, benutzte Windeln und leere Babybreigläschen quollen hervor.

    Ein Müllsack?

    Das war nicht mehr in Khatalah.

    Die Schlehenhecke am Fließ. Die alte Eiche, die Skaterbahn. Karls Welt.

    Ihre Gedanken rasten.

    Lun hatte sie durch das Tor gestoßen. Ein Springer. Es konnte sich an unterschiedlichen Orten öffnen. Kein festes Ziel. Er hatte es gesagt.

    Wann? Egal!

    Es hatte sich hier geöffnet. Genau dort, wo Cordic, Ahfid und Lun vor über einem Jahr Karls Welt betreten hatten.

    Um sie zu suchen.

    Sie waren weg. Fiona war allein. In Sicherheit.

    Während ihre Freunde im Grauen Horn starben.

    »Nein!« Sie musste zurück! Sofort!

    Das Tor. War es noch offen? Sie tastete in der Luft, Zweige kratzten über ihre Hände. Ein Kribbeln, irgendetwas spüren, das ihr den Durchgang verriet.

    Nichts.

    Die großen Tore brauchen Zeit, um sich aufzuladen.

    Luns Worte. Das Tor in dem Tunnel war klein gewesen, aber dieses nicht. Es brauchte viele Tage, um sich wieder öffnen zu können. Deshalb hatte Lun damals eines im Wald gewählt, als er sie mit Cordic und Ahfid zusammen entführt hatte.

    Das Tor am Waldrand. Sie musste dorthin.

    Ihr Herz überschlug sich.

    Ihre Freunde starben. In diesem Augenblick. Die Tunneldecken brachen herab. Nehrit sprengte. Zu früh, viel zu früh!

    Und sie saß zwischen beschissenen Müllsäcken fest!

    Sie trat einen aus dem Weg, wühlte sich aus den Zweigen.

    »Alles klar mit dir?« Ein Mann stützte sich auf seinem Gehstock ab. »Ist eine Sauerei, dass die Leute ihren Abfall in die Büsche schmeißen.«

    Cordic war verletzt. Ein Steinsplitter hatte ihn getroffen. Im Gesicht.

    »Kenne ich dich?«

    Kleine Augen hinter dicken Brillengläsern.

    »Nein.« Niemand kannte sie. Nicht mehr.

    Sie musste ihre Freunde retten.

    Fiona rannte los, schlitterte durch den Schneematsch, stürzte, rannte weiter. Alles, nur nicht langsamer werden. Ihr Kopf dröhnte, ihre Muskeln schmerzten.

    Der Sturz die Treppe hinab? Oder hatten Steine sie getroffen, als die Tunneldecke herabgestürzt war? Cordic war verletzt. Blut lief ihm übers Gesicht. Sie musste zu ihm!

    Wo war das zweite Tor? Sie war betäubt gewesen. Ein Waldrand, eine Wiese im Dunkeln. Es konnte überall sein.

    Karl hatte sie hingefahren. Er wusste wo.

    In ihrer Brust brannte es. Sie hustete den Staub einer anderen Welt aus den Lungen. Cordic würde darin ersticken, unter den Trümmern begraben werden. Nein!

    Die braun-weiße Welt versank hinter Tränenschleiern.

    Warum hatte er Lun gezwungen, das Tor nur für sie zu öffnen? Sie hätten gemeinsam den Gängen entfliehen können. Weshalb hatte Lun sie ausgerechnet hierher geschickt? So weit weg von Khatalah?

    Ich bringe dich zurück in deine Welt. Und dann wird für dich alles wieder gut.

    Lun hatte sie aus der Glasstadt gerettet, wollte sie schon damals zu Karl zurückbringen, aber das hier war nicht ihre Welt! Nur ein Exil, um sie vor Rag zu schützen. Scheiß auf Rag! Sie gehörte zu Cordic, zu Ahfid, zu den Grenzgängern. Sie gehörte in dieses felsige, kalte Land und nicht auf eine Skaterbahn, die sich durch matschige Felder schlängelte!

    Die Kegelbahn, die Mauer des Tierparks, erste Häuser.

    Keines glich der Felsenfestung, in der Cordic sie gefunden hatte. Über dem Abgrund. Mit ausgebreiteten Armen.

    Seine Angst, sie könnte springen.

    Fiona hatte in seiner Seele gewütet und sie gesehen. Eben erst, in Rags verdammter Residenzhöhle. Cordic verachtete sie deswegen.

    War sie deshalb hier? Hatte er Lun gezwungen, sie durch das Tor zu stoßen, weil er ihren Anblick nicht mehr ertrug?

    Eine unsichtbare Faust schlug ihr in den Magen.

    Nein, sie schlug auf ihr Herz ein. Immer wieder. Es stolperte und tat weh.

    Ihr blieb die Luft weg.

    Cordic durfte sie hassen, aber er durfte nicht sterben.

    Ein Auto hupte. Fiona sprang zur Seite. Das Gesicht hinter der Scheibe kam ihr bekannt vor. Herr Lehmann.

    Das Seitenfenster glitt hinab.

    »Fiona?« Er starrte sie entgeistert an. »Wo kommst du denn her?«

    Aus Chaos und Finsternis, und genau dorthin musste sie zurück.

    Sie schlitterte um die Motorhaube, riss die Beifahrertür auf. »Nehmen Sie mich mit! Ich muss zu Karl!«

    »Der wird sich freuen.« Sein Mund verzog sich nach unten. »Aber warum siehst du aus wie aus dem Schlamm gezogen?«

    »Weil ich das wurde.« Weshalb fuhr er nicht los?

    »Ist dir etwas passiert?« Sein Blick wurde ernst. »Mädchen, du siehst aus, als …«

    »Mir ist eine Menge passiert. Und jetzt fahren Sie!« Seit wann war ihr ehemaliger Chef so langsam im Kapieren?

    »England scheint dir nicht gut bekommen zu sein.«

    »England?«

    »Karl sagte, die Schule dort würde dir so gut gefallen, dass du deinen Abschluss in Oxford machen wolltest.«

    »Oxford? Ich?« Was war in ihn gefahren?

    »Kann auch eine andere Stadt gewesen sein. Jedenfalls kam sie mir vom Namen her bekannt vor.« Lehmann zuckte mit den Schultern. »Auch wenn du furchtbar aussiehst, er wird sich freuen. Seit du weggefahren bist, ist er nicht mehr der Alte. Die Leute haben sich Sorgen um ihn gemacht. Mich eingeschlossen.«

    Karl. Er hatte über ein Jahr nichts von ihr gehört. Wusste nicht einmal, ob sie noch lebte.

    Sie musste zu ihm, ihn beruhigen.

    Und ihn wieder verlassen.

    Statt endlich Gas zu geben, starrte Lehmann sie immer noch an. »Die Narbe in deinem Gesicht sieht furchtbar aus. Was um Himmels willen ist dir geschehen?«

    Zu viel.

    »Und warum bist du dermaßen dreckig?«

    »Fahren Sie, verdammt!«

    Er zuckte zusammen. »Es ist rot!«

    Fiona starrte auf das Ampellicht, sah jedoch nur Felsbrocken, die sich zu Bergen auftürmten und ihre Freunde unter sich begruben.

    »Woher stammt die Verletzung«, bohrte er weiter. »Warst du im Rugby-Team?«

    »Ein Zombieangriff.« Gemarterte Seelen, entstellte Körper. Gier, Hunger, Verzweiflung. Alles in einem Augenblick. Der Stock hatte den Schädel zertrümmert.

    Der Angriff der Halbwesen lag unendlich weit zurück. Damals war sie neu in Cordics Welt gewesen. Ihre erste, schreckliche Erfahrung. Andere, weitaus schlimmere, waren gefolgt.

    Warum lachte Lehmann?

    »Deinen Humor hast du dir bewahrt, immerhin.«

    Die Ampel sprang auf Gelb.

    »Fahren Sie!« Fiona schlug ihm aufs Bein. »Bitte!«

    »Mädchen, du machst mir Angst!«

    »Bitte, einfach nur fahren!« Sie schluchzte zwischen den Worten, die Tränen nahmen ihr die Sicht.

    Karl musste ihr helfen. Einen Weg zurückfinden. Irgendetwas tun, dass alles gut wurde. Er konnte das. Das hatte er immer. Er hatte sie damals zum Tor gefahren. Cordic hatte behauptet, er hätte gewusst, dass sie Fiona mitnehmen würden.

    Wahrheit? Lüge? Cordic log gut.

    Sie auch.

    Der alte Bahnhof. Die Gärtnerei, beides.

    Karl.

    Sie sprang aus dem Wagen, kaum dass Lehmann abgebremst hatte.

    Kapitän Schmidt rannte ihr entgegen. Seine Ohren flatterten, er bellte wie verrückt, schmiss sie beinahe um.

    Die Arme um ihn schlingen, die Finger ins Fell graben. Die ganze Zeit über hatte sie keinen Gedanken an ihn verschwendet.

    »Es tut mir leid!« Er war ihr bester Freund gewesen, und sie hatte ihn einfach vergessen. Sie heulte seine weichen Ohren nass. Winselnd leckte er ihr über die Wangen, fiel fast um vor Schwanzwedeln.

    »Was zum Henker …«

    Karl!

    Er kam aus dem Gewächshaus, erstarrte. Seine Lippen formten ihren Namen, doch da war keine Stimme. Er wurde blass, hielt sich am Türstock fest.

    Was hatte sie ihm angetan?

    Sie rannte zu ihm, schlang die Arme um ihn. »Ich bin okay«, schluchzte sie. »Auch wenn ich nicht so aussehe, mir geht’s gut, ehrlich!« Die Nase in den dicken Rollkragenpullover stecken, in dem Duft von Blumenerde, Friesentee und Irish Moos eintauchen. Sie atmete so tief ein, wie sie konnte. »Du hast mir gefehlt!« So sehr!

    Ihr lief es aus den Augen, wollte nicht mehr aufhören.

    Karl stand da, rührte sich nicht. Nicht einmal die Arme legte er um sie.

    Sie musste es ihm erklären.

    Der Kloß in ihrer Kehle erstickte jedes Wort.

    »Du bist zurück.« Er klang furchtbar leise. »Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.« Behutsam strich er über ihren Rücken, ihren Kopf. Dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. Er ließ es einfach geschehen.

    Sie waren ihr näher als früher. Auch sein Kinn. Es kratzte an ihrer Schläfe, obwohl er kerzengerade vor ihr stand.

    »Du bist gewachsen.« Seine rauen Hände umfassten ihr Gesicht. »Und du siehst anders aus.« Sein Blick suchte in ihrem nach dem Grund.

    »Es ist viel passiert.« Ihre Stimme erstickte. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass du dir furchtbare Sorgen gemacht hast, aber ich bin nur hier, um wieder fortzugehen.«

    »Nein.« Er schloss sie so fest in seine Arme, dass sie kaum atmen konnte. »Du gehst nicht mehr fort.«

    Er verstand nicht. Wie sollte er?

    Sie drückte sich von ihm ab. Hinter dem ständig nachfließenden Schleier konnte sie kaum sein Gesicht erkennen. »Du musst mich sofort zu diesem Waldweg fahren. Das ist auch ein Tor, erinnerst du dich?«

    »Ob ich mich erinnere?« Er fasste sie an den Schultern, hielt sie ein Stück weg von sich. »Die Kerle haben mich betäubt! Dich entführt! Hundertmal am Tag wollte ich die Polizei einschalten, bis mir einfiel, dass das nichts bringen würde.« Er zog die Nase hoch. »In die Klapse hätten die mich gesteckt bei der Geschichte!«

    Wut, Resignation, Traurigkeit, Hoffnung. So viele Gefühle in seinen Augen, in seiner Stimme.

    Würde er doch lospoltern wie früher, wenn sie mit einer Fünf nach Hause gekommen war.

    »Fiona!« Er rüttelte sie. »Rede, Mädchen!«

    Sie hob den Arm. Der Geburtsreif ihrer Mutter schimmerte unter dem dreckigen Hemdsärmel hervor. Karl kannte ihn, hatte ihn für sie aufgehoben, als er sie in demselben Schlehenstrauch gefunden hatte, wo sie eben herausgestolpert war.

    Vor siebzehn Jahren.

    »Es gibt keine Entschuldigung für das, was wir dir angetan haben.« Sie legte die Hände an seine Wangen. »Aber es war richtig. Das hier ist nicht meine Heimat. Nie gewesen und du wusstest es von Beginn an.« Er hätte früher mit ihr darüber reden müssen, statt zu warten, bis Cordic, Ahfid und Lun hier aufgetaucht waren und ihn allein durch ihre Anwesenheit dazu gezwungen hatten. Deshalb war es ihm leichtgefallen, Ahfids Geschichte zu glauben, lange bevor sie selbst dazu bereit gewesen war.

    »Ich kann dich nicht gehenlassen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann es einfach nicht.« Zittrig holte er Luft. »Dass du weg warst, hat mir das Herz gebrochen. Ich habe mir tausendmal gewünscht, dich nie im Schlehenstrauch gefunden zu haben und mich ebenso oft dafür geschämt.«

    »Ich hab dich lieb.« Verdammte Schluchzerei! »Und du hast mir so gefehlt, aber wenn ich hierbleibe, sterben meine Freunde.« Vielleicht waren sie es schon.

    Der Gedanke nahm ihr den Atem.

    Karl schüttelte den Kopf. »Mädchen, verlang das nicht von mir.«

    »Die Gewölbe des Grauen Horns stürzen ein!« Sie grub die Hände in seinen Pullover, zerrte an ihm. »Karl, bitte! Sie sterben! Meine Freunde sterben!«

    »Du warst so lange fort.« Er fuhr sich über die Augen. »Ich wusste nicht, ob du noch lebst oder tot bist.« So heiser hatte er nie geklungen. »Du warst immer bei mir, all die Jahre Tag für Tag. Und plötzlich …«

    Er sah schlecht aus. Viel zu dünn, viel zu blass. Er hatte zu viele Falten. Sie bedeckten sein ganzes Gesicht, ließen seine Lider schwer erscheinen.

    Das vergangene Jahr hatte ihm ebenso zugesetzt wie ihr.

    Wer zwischen die Fronten von Licht und Schatten geriet, wurde aufgerieben, egal ob hier oder in einer anderen Welt. Diese Lektion hatte sie gründlich gelernt.

    »Ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir.« Irgendwann, wenn dieser Irrsinn vorbei war. »Nicht für immer, aber um mich in Ruhe von dir zu verabschieden und um dir alles zu erklären.«

    Cordic hatte sie vor Versprechen gewarnt.

    Das hier würde sie halten. Dazu brauchte sie keinen Eid.

    Karl legte die Finger unter ihr Kinn, hob es an.

    Er war der einzige Mensch, dem sie die Geste in Zukunft durchgehenlassen würde.

    »Wer zum Spaten greift, bekommt Schwielen.« Sacht strich sein Daumen über ihre Narbe. »Diese Welt, von der Ahfid erzählt hat, sie hat dich nicht geschont.« Er zog sie in seinen Arm zurück, wiegte sie hin und her. »Die Webheimer hat recht. Du bist ein Unruhestifter.«

    »Und was für einer.« Wegen ihr wurden Kriege geführt und Berge gesprengt. »Bitte, fahr mich zu dem Waldweg.« Je länger sie zögerte, desto schwerer würde ihnen beiden der Abschied fallen.

    »Damit auch du unter den Felsen begraben wirst?« Diese leise traurige Stimme. »Mädchen, warum tust du mir das an?«

    »Du bist nicht der Erste, der wegen mir leidet.« Es war ihr Schicksal, Hoffnungen zu enttäuschen. »Fahr mich zu dem Weltentor, oder du lässt zu, dass andere sterben, weil ich versagt habe.« Der Gedanke fühlte sich widerlich vertraut an.

    »Und dann?« Seine Finger verirrten sich zu den Resten ihrer bunten Strähne. »Du bist kein Weltenwanderer wie Lun. Wie willst du es öffnen?«

    »Nur ein Versuch.« Wenn er misslang, würde sie verzweifeln. »Der Gedanke, ich hätte etwas ausrichten können und hab es aus Angst vor dem Versagen nicht einmal versucht …« Ihre Stimme gab den Geist auf.

    »So, wie du aussiehst, hast du genug ausgerichtet.«

    »Nein, hab ich nicht! Ich habe bloß Chaos und Verwirrung gestiftet!« Es war alles ihre Schuld. »Jeder hat gedacht, dass ich etwas Besonderes bin!«

    »Das bist du.«

    »Ich habe versagt! Habe alles schlimmer gemacht!« Jetsuba hatte sich geirrt! Wulf hatte sich geirrt! Nehrit, Mahkis, Rag, sie alle!

    Karl schunkelte sie wieder hin und her, aber sie war kein kleines Mädchen mehr, das es verdient hatte, getröstet zu werden. Niemand konnte ihr die Verantwortung für ihre Taten abnehmen.

    Fiona befreite sich aus seiner Umarmung. »Sie sterben wegen mir. In einem Kampf, den sie wegen mir begonnen haben.«

    »Hast du ihnen gesagt, dass sie ihn führen sollen?«

    Nein, das hatte sie nicht.

    »Also haben sie sich selbst dazu entschieden.«

    »Ja, aber das ist nicht …«

    »Dann ist das nicht dein Schuh, den du dir da anziehen willst.« Wieder die Finger unter ihrem Kinn, wieder der strenge Blick.

    Er irrte sich. »Er passt mir, Karl.« Sie sah ihm in die müden Augen. »Er passt wie angegossen. Ich weiß nur noch nicht, wie man darin geht, ohne sich die Knöchel zu brechen.«

    »Ich will nicht, dass du darin laufen lernst.« Er schüttelte den Kopf, schluckte. »Ich will nicht, dass du dort dein Leben verlierst.«

    Fiona nahm seine Hände. »Ich habe Dinge überstanden, die kannst du dir nicht vorstellen.« Seltsam, dass das Schlimmste ein lichtdurchflutetes Zimmer gewesen war. »Und ich habe Dinge getan, die ich mir nie verzeihen werde. Aber wenn ich meine Freunde jetzt im Stich lasse, verzweifle ich.«

    »Wer lebt, lädt Schuld auf sich«, sagte er leise. »So war es immer und das wird sich nicht ändern. Nur Feiglinge versuchen, sich davor zu drücken.« Er sah sie lange an. Zart strichen seine schwieligen Finger über ihre Narbe. »Ich sehe dich zum ersten Mal, wie du wirklich bist.« Ein winziges Lächeln. »Pass auf dich auf.«

    Er verstand sie. »Du fährst mich?«

    Karl nickte. »Vorher gehst du dich kärchern und umziehen.«

    »Duschen?« Jetzt? »Karl, bitte!«

    »Kein Widerwort! Hast du dich angesehen?«

    »Mir ist scheißegal, wie ich aussehe!« Da wo sie hinwollte, gab es weder Spiegel noch Badezimmer. »Schmeiß den Pick-up an!« Alles, was sie brauchte, war etwas zu essen und zu trinken. Und einen Rucksack!

    Sie rannte durch den Laden in die Wohnung, nahm die nach Luft schnappende Webheimer bloß aus den Augenwinkeln wahr.

    Hoch in ihr Zimmer.

    Es war zu klein. Zu unbedarft. Keine offene Feuerstelle, keine Tonkrüge, zu wenig Kerzen, zu viel bunter Plastikkram. Tausend Dinge, die sie nicht mehr brauchte. Sie lenkten den Blick ab, machten nervös.

    Ihr Rucksack. Sie kippte ihre Schulsachen auf den Boden, zerrte eine Handvoll Slips und dicker Socken aus der Schublade, rannte ins Bad.

    Keine Binden. Verdammt! Die gaben gute Wundkompressen ab. Dafür eine Packung Tampons. Sie würden nur einen Zweck erfüllen, aber immerhin.

    Seit Mahkis sie eingesperrt hatte, hatte sie ihre Regel nicht mehr bekommen.

    Der Oberste Rektor des Hohen Rates der Lichten und Vater ihrer Mutter. Weit davon entfernt, ihr Großvater zu sein.

    Sie hätte ihn beinahe umgebracht.

    Vielleicht hätte es Jetsubas Raben gefallen, ihm noch mehr Löcher in die faltige Haut zu hacken. Doch Sur hatte den Raum aufgerissen, um Fiona in die Leere zu bringen. Ohne Lun wäre sie jetzt dort.

    Ihr wurde schlecht. Sie klammerte sich an das Waschbecken, kämpfte mit der Übelkeit.

    Sur war Geschichte. Mahkis hoffentlich auch. Niemand würde sie jemals wieder in die Leere sperren.

    Sie spülte sich den Mund aus, sah der fremden Frau im Spiegel in die Augen. Keine Spur von Rags Tochter. Die konnte sich gut verstecken, aber wehe, wenn sie auftauchte.

    Sie musste los.

    Fiona rannte runter in die Küche. Eine Wasserflasche stand auf dem Tisch. Sie trank sie in riesigen Schlucken aus. Während sie versuchte, zwei Bananen gleichzeitig zu schälen und zu essen, durchwühlte sie die Küchenschublade. Sie musste etwas finden, was leicht war und sich gut transportieren ließ. Außer einer Tüte Studentenfutter und zwei Päckchen getrockneter Datteln war nichts Passendes dabei. Mit Reis und Nudeln konnte sie ebenso wenig anfangen wie mit Marmelade, Hundeleckerlis, sauren Gurken oder Senf.

    Stulle schmieren? Dauerte zu lange.

    Fluchend schüttete sie alles Sofort-Essbare in den Rucksack und stopfte zwei Wasserflaschen hinzu.

    Draußen knatterte der Motor von Karls Uralt-Pick-up.

    Sie brauchte eine Jacke. Ihr Mantel lag irgendwo im Lager der Grenzgänger.

    An der Garderobe hing ihr Anorak. Besser als nichts. Sie schnappte ihn, rannte raus, drückte Kapitän Schmidt einen Kuss auf den felligen Kopf, riss die Beifahrertür auf und sprang auf den Sitz. »Warum hast du nie Butterkekse oder Knäckebrot auf Vorrat, oder wenigstens eingeschweißte Würstchen?«

    Bedächtig hoben sich Karls buschige Brauen. »Willst du ein Picknick veranstalten?«

    Wütend knallte sie die Autotür zu.

    »Ich kann dir ein paar Eier kochen.«

    »Du weißt, was ich meine! Nie hast du Schokoriegel oder Kekse da oder irgendetwas, was Opas halt so horten, wenn ihre Enkelin zu Besuch kommt.«

    »Bei mir gibt es natürliche Nahrung. Keinen Mist.«

    »Ich will eine Welt retten!« Schwach vor Hunger funktionierte das nicht!

    »Umso wichtiger ist gesundes Essen.«

    »Fahr!« Bei allen Finsternissen!

    »Schnall dich an.« Er beobachtete sie dabei, wie sie fahrig am Gurt zerrte. »Du musst langsam ziehen, sonst blockiert er.«

    »Karl!« Verfluchter Scheißgurt!

    »Hast du was zu trinken eingesteckt?« Er nickte zu ihrem Rucksack.

    »Ja.«

    »Frische Wäsche zum Wechseln?«

    Himmel!

    »Dicke Socken?«

    »Karl!«

    »Taschentücher?«

    »Wo ich hin will, benutzt niemand Tempos!« Im Notfall musste der Hemdsärmel dran glauben.

    Entsetzlich langsam zog Karl ein sorgfältig gebügeltes und zusammengelegtes Stofftaschentuch aus der Innenseite seiner Jacke. »Hier.«

    »Niemand auf der Welt schnäuzt sich noch in diese Bettlaken. Spätestens beim zweiten Mal ist das eklig!«

    »Aber umweltfreundlich.«

    Sie pflückte es ihm aus der Hand, stopfte es in ihren Rucksack.

    Endlich setzte sich der Pick-up in Bewegung.

    Sie schafften die Hauptstraße ohne rote Ampeln, doch kaum lag die Stadt hinter ihnen, dümpelte ein Traktor vor ihnen lang.

    »Karl, überhol die Schnecken einfach!«

    Nach einem resignierten Luftholen quälte er den Pick-up gefühlte Stunden an dem fahrenden Hindernis vorbei.

    Ihre Hände waren schweißnass. Jede Sekunde, die verging, konnte zwischen Leben und Tod entscheiden, und Karl hielt sich an die beschissenen Verkehrsregeln!

    Als ein Milchlaster gemächlich vor ihnen auf die Landstraße abbog und Karl es wagte, einen Gang runterzuschalten, biss sie sich in die Faust.

    »Dein Risikobewusstsein in allen Ehren.« Karl strafte sie mit einem tadelnden Seitenblick. »Aber wenn ich dich schon wieder gehenlassen soll, dann in lebendigem Zustand.«

    »Das Leben ist ein Risiko.« Die Zahnabdrücke auf ihrer Hand färbten sich violett. »Gib Gas!«

    Seufzend setzte Karl den Blinker, schlich nur einen Deut schneller an dem Laster vorbei. »Die alte Kiste gibt nichts mehr her«, erinnerte er sie an unleugbare Tatsachen. »Sei froh, wenn sie nicht auseinanderfällt.«

    Ihr war nach Schreien.

    Ewigkeiten später verließen sie die Straße und folgten einem Landwirtschaftsweg. Nach weiteren Unendlichkeiten lenkte Karl den Wagen auf einen Feldweg, fuhr bis zu dem Rand eines Waldes und hielt an.

    »Hier hat mich Henner damals aufgegabelt. Wo du warst, weiß ich nicht. Dieser schwarzhaarige Mistkerl hatte mich ausgeknockt.«

    »Cordic.« Sie musste in den Wald. Den Weg finden, auf dem sich das Tor geöffnet hatte. »Es tut ihm leid.« Das hoffte sie zumindest.

    Sie wollte Karl einen Kuss geben.

    Er wandte sich ab. »Keinen Abschiedskuss.« Er klang, als wäre seine Kehle so eng wie ihre. »Ich habe dein Versprechen. Du kommst zurück.«

    Fiona nickte und versuchte, trotz eingeschnürter Brust weiter zu atmen. Sie traute sich kaum, ihm in die Augen zu sehen.

    Als sie die Autotür hinter sich zuschlug, blickte sie sich nicht um.

    Sie kam zurück. Ganz bestimmt. Irgendwann, wenn alles gut geworden war, und dann würden sie ihm alles erzählen. Bei Tee und Kluntjes. Und erst, wenn sie tagelang mit Kapitän Schmidt spazieren gegangen und Karl tausendmal umarmt hätte, würde sie ihn wieder verlassen.

    Sie begann zu rennen. Die Traurigkeit des Abschiedes wich

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