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Verlivion: Im Antlitz der Omen
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eBook571 Seiten7 Stunden

Verlivion: Im Antlitz der Omen

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Über dieses E-Book

Mladath Thin stiehlt der Göttin Amygdala fünf Erinnerungen, als ihr Reich von einer unabwendbaren Dunkelheit bedroht wird. Fünf Freunde gelangen so in eine für sie vollkommen fremde Welt.

Als sie nach Jahren glaubten, einen persönlichen Platz in dieser Fremde gefunden zu haben, ziehen auf einmal brennende Wolken über das von der Dürre geplagte Königreich Aruna. Doch die fünf Freunde lernen schnell, dass diese Magie nicht die einzige Gefahr ist, die am Horizont lauert. Denn eine uralte Weissagung spricht von einem Prophezeiten und seinen vier Wächtern ... und der unabwendbaren Dunkelheit, welche diese über das Königreich brächten ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum23. Sept. 2021
ISBN9783347224797
Verlivion: Im Antlitz der Omen
Autor

Kai Hagen

Kai Hagen wundert sich, ob diese Autorenbeschreibungen überhaupt gelesen werden. Falls ja, wünscht er dem Leser einen fröhlichen Tag. Zu seiner Person? Kai Hagen wurde am 6. November 1989 in Schorndorf geboren und beschloss kurz nach dem Abitur 2009, in die Tasten zu hauen und selbst eine Geschichte zu erzählen. Abgelenkt von Marketingstudium, HARTZ 4-Zeit, den ersten Jobs und Salsa tanzen, dauerte es über ein gutes Jahrzehnt bis zu seinem Debütroman "Verlivion – Im Antlitz der Omen". Aber da Leonardo da Vinci für die Mona Lisa auch gute zehn Jahre gebraucht hatte, muss das ja kein schlechtes Zeichen sein. Immerhin kam der zweite Verlivion-Band "Ein Funke Vertrauen" schon ein Jahr später raus! Kai Hagen lebt heute in dem bezaubernden München.

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    Buchvorschau

    Verlivion - Kai Hagen

    AKT EINS

    – 1 –

    52. Maian 110

    Ruinen des Klosters Ovélie, Baronie Cabal

    Grafschaft Lima, Königreich Aruna

    Ein Treffer ins Gesicht.

    Alexith taumelte mit einem Schnauben zurück, als er den festen Stoß nur knapp über seinem Kinn einstecken musste. Doch bevor sein Kontrahent einen weiteren Treffer landen konnte, hatte Alexith schon seinen Stab eng vor den Körper gebracht, um die nächste Attacke abzuwehren. Es klackte dumpf, als die Holzwaffen der beiden Kämpfenden aneinanderschlugen. Die Hitze der hochstehenden Sonne brannte in Alexiths Gesicht, und Schweißperlen rannen seine Stirn hinab, bis sie schließlich in seine alarmiert aufgerissenen Augen tropften. Alexiths perlweiße Robe flatterte im Wind, als er ein Stück zurücksprang. Nun war er an der Reihe.

    Der Novize wirbelte seinen Stab hin und her, während er einen Schritt auf seinen Gegner zuging, doch Pedro grinste ihn nur mit seinen schiefen Zähnen an. Mit einer Handbewegung forderte er Alexith auf, noch näher an ihn heranzukommen. Ich werde dir doch nicht in die Arme rennen! Alexith holte weit aus und wieder trafen sich die beiden Holzwaffen in der Luft. Ein dumpfes Geräusch ertönte für einen Augenblick in der Meeresluft der Westküste, ehe das Rauschen der Brandung wieder die Hoheit übernahm. Der salzige Geschmack des Meeres mischte sich mit dem der Schweißperlen auf Alexiths Lippen.

    Er umgriff seinen Stab noch fester, sodass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Mit zusammengepressten Zähnen preschte er nach vorne und versuchte, seinem Gegenspieler das Ende der Waffe in den Bauch zu rammen. Doch Pedro wich zur Seite aus und lachte erheitert auf, ehe er seinen eigenen Stab wieder wirbeln ließ und den Tanz fortführte. Doch auf einmal stockte Pedro.

    Alexith nutzte sein Zögern aus und holte schwungvoll mit seinem Stab aus, um das Holz mit voller Wucht auf den anderen Novizen niederfahren zu lassen. Doch selbst als die Waffe ihn am Oberarm erwischte, regte sich Pedro nicht, sondern starrte mit aufgerissenen Augen an Alexith vorbei. Alexith legte verwirrt den Kopf schief. »Bei der Göttin … Was ist los, Pedro?«

    »Der Horizont soll mich verschlucken!«, antwortete Pedro. Er hob die freie Hand und deutete hinter Alexith in den Himmel. »Sag mir, dass wir zu viel geraucht haben!«

    Wenn du mich jetzt reinlegen willst … Alexith drehte sich auf der Stelle. Auch seine Augen weiteten sich nun, und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Regen … Es wird wieder Regen geben! Sie hatten schon seit drei Monaten keine Wolke mehr am Himmel gesehen, und eine Zeit der Trockenheit hatte die Westküste ergriffen. Doch diese anfängliche Euphorie wich der Irritation, als Alexith die große Wolke genauer betrachtete, die in einer Schnelligkeit über den blauen Himmel der Küste im Norden zog, als würde sie ein ganzes Heer an Sturmwolken befehligen.

    »Was …?« Er war verwirrt angesichts der Tatsache, dass der Kern dieser Wolke orangerot gefärbt war. Es schien, als würden sich Sonnen in ihrem Inneren verstecken, deren unbändiges Feuer sie majestätisch aufleuchten ließ. Um sie herum tanzten Feuerbälle ihren Reigen, aus denen weiße Blitze schossen. Die Wälder, Wiesen und Weiden, die vom Schatten der Wolke ergriffen wurden, verwandelten sich innerhalb weniger Augenblicke in eine Landschaft aus grauen Farbtönen. Das Wolkenungetüm war nur noch eine Meile entfernt. Ein beißender Geruch stieg in Alexiths Nase. Der Salzgeschmack auf seinen Lippen wich nun einem Geschmack, als hätte ihm jemand Ton oder Erde in den Mund gelegt. Die Wolke grollte wie eine wütende Bestie und einige der Feuerbälle explodierten mit einem lauten Knall.

    »Bruder Pedro!«, ertönte eine Stimme hinter Alexith. »Geh sofort zum Lager und bring die restlichen Früchte in den Schutz unserer Mauern!«

    Alexith konnte seinen Blick nicht von der monströsen Wolke abwenden, die sie in wenigen Minuten erreichen würde. Sein Holzstab glitt ihm aus der Hand. Erst als auch sein Name zweimal hintereinander im tosenden Küstenwind erklang, wandte er sich um. Er konnte Vater Rishi am Eingang der alten Klosterkirche stehen sehen. Der Priester winkte ihn zu sich her.

    »Was ist das für eine unnatürliche Gewalt, Vater?«, fragte Alexith, doch der Geistliche der Kirche Amygdalas winkte ab.

    »Wir haben keine Zeit für Gespräche! Wo ist Bruder Joshua?«

    »Er wollte Holz hacken gehen, Vater!«

    »Dann verliere keine Zeit und bring ihn in die schützenden Hallen der Kirche!« Der Priester schnaubte laut. »Starre mich nicht so an, Bruder Alexith – wir haben keine Zeit!«

    Alexith stürmte durch die Öffnung in der Kirchhofmauer, neben dem die Überreste eines Rammbocks aus vergangenen Tagen lagen. Er hatte Joshua kurz vorher mit einer Axt über der Schulter im angrenzenden Waldstück verschwinden sehen. Ein lautes Grollen erfüllte die Luft, als das brennende Gebilde am Himmel weiter Kurs auf die Klosterruine nahm, und die Bäume ächzten laut auf, als der tosende Wind durch ihre Äste fuhr.

    »Joshua!«, rief Alexith durch den Wald hindurch. Er musste seine ganze Kraft aufbringen, damit seine Stimme nicht im Getose des Sturms unterging. Zu seinem Glück kam ihm Joshua geradewegs entgegen. Der dritte Novize hatte seine Kapuze über den Kopf gezogen und trug ein halbes Dutzend Holzscheite auf den Unterarmen, während seine stählerne Axt gefährlich an seinem Gurt baumelte. »Du hilfst mir beim Tragen, Alexith? Das ist eine prima Idee!« Die große Begeisterung in seiner Stimme zeugte davon, dass er keinen Schimmer davon hatte, was außerhalb des Waldes vor sich ging.

    »Keine Zeit für Holz!« Alexith schüttelte heftig den Kopf. »Schnell! Wir müssen zurück zur Kirche, bevor …«

    Ein lautes Krachen unterbrach ihn. Alexith blickte durch die Baumwipfel hindurch zum Himmel und versuchte, sich ein Bild von dem zu machen, was dort oben vor sich ging. Ein dunkler Schatten zog über sie hinweg und versperrte den Sonnenstrahlen den Weg. Ein kalter Schauer lief Alexith über den Nacken. Obwohl das magische Ungetüm leuchtete, nahm es den Bäumen eher das Licht, als ihnen welches zu schenken.

    Alexith erblickte auf einmal einen dunkelroten Punkt inmitten der lodernden Flammen der Wolke. Der Punkt wurde immer größer und schoss schließlich aus dem Gebilde am Himmel heraus, um sich gierig auf den Wald zu stürzen. Der Feuerball krachte nur wenige Schritte neben Joshua auf den Erdboden und explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall.

    Joshua ließ schockiert die Holzstücke fallen und riss erschrocken den Mund auf. Alexith zögerte nicht, sondern ergriff den anderen Novizen am Unterarm und versuchte, ihn aus dem Wald hinaus Richtung Kirche zu ziehen. Joshuas Ärmel war allerdings klitschnass, sodass Alexith zweimal danach greifen musste, um den Stoff fest zwischen die Finger zu bekommen. Und er musste mit aller Kraft ziehen, um Joshua auch nur ein wenig vom Fleck zu bekommen. Denn der Novize stand noch immer mit offenem Mund da und starrte unverwandt in den Himmel. Erst als ein zweiter Feuerball hinter ihnen einschlug, schien er wieder zu Sinnen zu kommen. Er löste sich aus Alexiths Griff, rauschte blitzschnell an ihm vorbei und übernahm die Führung aus dem Wald hinaus. Gerade als sie die letzten Bäume hinter sich gelassen hatten, fing es an zu regnen.

    Regen! Es regnet! Alexith lachte erleichtert auf, denn trotz der offensichtlichen Gefahr, die von der Wolke ausging, hatten sie endlich wieder Aussichten auf frisches, trinkbares Wasser. Doch seine Freude über die natürliche Wohltat währte nur kurz, bis er bemerkte, dass die Tropfen, die auf die Ärmel seiner Robe fielen, eine obskure silberne Farbe hatten.

    Als ihm die ersten Regentropfen ins Gesicht fielen, spürte er ein leichtes Stechen auf seiner Haut. Alexith strich sich irritiert über das Gesicht, doch anstatt dass das Gefühl verschwand, ergriff nun seine Finger ein merkwürdiges Brennen. Verwirrt blieb er stehen und streckte für einen Augenblick die Hand aus, um in der Innenfläche ein paar Tropfen aufzufangen. Dort, wo sie auf seine Haut auftrafen, zischte es leise, ehe sich in Sekundenschnelle eine Rötung bildete und es zu jucken und zu brennen begann.

    Der Göttin sei Dank waren Alexith und Joshua schon unter dem sicheren Dach der Klosterkirche, als die Wolke noch einmal lautstark grollte und sich ihr Inhalt in einer wutentbrannten Flut ergoss.

    *

    Die Regentropfen hatten rote, juckende Wundstellen hinterlassen, als wären sie in Wirklichkeit ein Schwarm Stechmücken gewesen.

    »Was für eine Pein schickt uns die Herrin heute, Meister?«, fragte Joshua aufgeregt, während er in der Nase bohrte. Als Pedro das sah, rollte er mit den Augen. Alexith schüttelte nur unmerklich den Kopf. Joshua benahm sich auch nach vier Jahren Dienst unter dem Segen der Kirche Amygdalas wie ein verwirrter kleiner Junge. Dabei hatte er sicherlich schon die Zwanzig überschritten.

    »Das Zeug stinkt wie die Pest«, brummte Pedro. Der Novize musterte seinen Robenärmel. Der Regen hatte sich durch den Stoff gefressen, als Pedro vom Lager mit den Früchten zurückgekommen war. »Erinnert mich ein wenig an die Schwefelminen in Seduna.«

    »Wasche es am besten mit ein wenig Meereswasser ab, Novize Pedro«, sagte Vater Rishi.

    »Mit Salzwasser?«, hakte Pedro nach.

    Der Priester lächelte traurig. »Ich habe die Befürchtung, wir brauchen das Trinkwasser noch.«

    Alexith presste die Lippen zusammen und blickte zwischen den drei anderen hin und her. Sie saßen im Gemeinschaftsraum des alten Klosters, der durch einen Tunnel mit der Kirche verbunden war. Eine einzige Fackel beleuchtete den kleinen Raum, in dem ein großer, runder Tisch, sechs Stühle und eine Kommode standen, auf der Pedro den Obstkorb abgestellt hatte. Der Regen hämmerte laut gegen das schräge Tonschieferdach und wurde ab und an von einem lauten Grollen begleitet.

    Vater Rishi klopfte Joshua sachte aufs Knie. »Mach dir keine Sorgen. Wir sind hier in Sicherheit.«

    »Aber seine Frage ist berechtigt, Vater.« Alexith lehnte sich auf seinem Stuhl nach vorne. »Was ist das für eine Wolke, die die Göttin entsandt hat? Welche Prüfung möchte sie uns damit auferlegen?«

    Der Priester nickte sachte. »Diese Wolke ist die Vorhut böser Dinge, Novize Alexith. Doch solange wir einen starken Glauben zeigen, wird uns Amygdala in diesen unruhigen Zeiten schützen.« Vater Rishis Mund wurde breiter, als er schmunzelte.

    Pedro grunzte und fuhr sich über den kahl geschorenen Kopf. »Wir sollen also abwarten und beten?« Er verschränkte die Arme vor der Brust.

    Vater Rishi öffnete den kleinen Lederbeutel, den er auf dem Schoß liegen hatte, und zog daraus drei Tontassen sowie einen noch kleineren Beutel hervor. Als er die Gegenstände auf dem Tisch ablegte, zog ein feiner, würziger Geruch durch den Gemeinschaftsraum. Die drei Novizen blickten den Priester abwartend an. Vater Rishi lächelte wieder. »Beten und Tee trinken! Würde jemand von euch so freundlich sein und etwas Wasser erhitzen?«

    Wir werden von einer unbekannten Magie angegriffen … und er will Tee trinken? Alexith legte den Kopf schief. Noch ehe die anderen antworten konnten, war Joshua schon aufgesprungen, um der Bitte des Priesters nachzukommen.

    »Gibt es denn etwas, was wir in der Zwischenzeit tun können?«, fragte Alexith. »Ich sitze ungern tatenlos herum, Vater. Außerdem möchte ich nicht von meinen Pflichten abgehalten werden.«

    Vater Rishi lachte leise. »Ist es wirklich dein Pflichtgefühl … oder eher deine Ungeduld, die da aus dir spricht, Novize?« Noch bevor Alexith antworten konnte, winkte der Priester ab und verteilte Kräuter aus dem kleinen Beutel in die vier Tontassen. »Pedro und Joshua, ihr geht zur Kirche zurück und stellt sicher, dass wir nirgends einen Riss im Gemäuer haben, durch den dieser Regen dringen könnte.« Dann blickte er Alexith an. »Und wir beide schauen uns ein wenig das Wetter an.«

    Es machte den Anschein, als würde die monströse Wolke über der Ruine des Klosters kreisen und nur darauf warten, eines der Kirchenmitglieder mit seinen Feuerbällen zu erfassen. Alexith hatte nur wenige Geschichten über das Kloster Ovélie lesen können. Warum es eine Ruine war, warum Vater Rishi dort nur mit drei Novizen lebte … All diese Fragen quittierte der Priester immer nur mit einem Lächeln und dem Hinweis darauf, dass die Bedeutung der Vergangenheit so gering wäre, dass er sich damit nicht beschäftigte. Drei Jahre befand sich Alexith nun schon in der Obhut dieser alten Gemäuer. Nur zu gerne würde er einmal das Kloster Eben sehen, wo sich die Ausbildungsstätte der Ritter Amygdalas befand. Oder die große Kathedrale in der königlichen Hauptstadt Kell. Eines Tages werde ich diese Ruinen verlassen dürfen … Dieser Gedanke spukte in seinem Kopf herum, als er Vater Rishi zum Eingang des Gemeinschaftshauses folgte.

    Der Priester machte auf der Türschwelle halt. Ein kleines Vordach hielt den Regen davon ab, ins Innere des Gebäudes zu dringen. Vater Rishi faltete die Hände vor dem Bauch zusammen und verfolgte neugierig das zuckende Leuchten des Gebildes am Himmel. »Was siehst du, Bruder Alexith?«

    Alexith presste die Lippen zusammen. Er will wohl nicht hören, dass ich eine seltsame Wolke sehe. Aber was will er dann hören? Der Jünger wiegte den Kopf unsicher hin und her. »Könnte Joshua recht haben und die Herrin selbst hat diese Wolke entsandt, um uns auf die Probe zu stellen?«

    Der Priester schloss für einen Augenblick die Augen, ehe er sachte nickte. »Das könnte durchaus möglich sein. Aber was für eine Probe wäre das dann, Novize?«

    Alexith zuckte leicht mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Vater. Ihr habt gesagt, dass diese Wolke eine Vorahnung böser Dinge sei. Und auch wenn ich Magie nur aus den Geschichten kenne, die ich in den Büchern hier finden konnte … ist der Gedanke nicht abwegig, dass es ein Hexer gewesen sein könnte, der dieses Ungetüm zu uns geschickt hat.«

    Vater Rishi gluckste kurz. »Die Göttin also … oder ein Magiebegabter?« Danach senkten sich allerdings seine Mundwinkel langsam. Während er sich den Nacken rieb, verlor er die Gefahr am Himmel nicht aus seinen grauen Augen. »Was weißt du über das Land hinter dem hohen Bergmassiv im Norden, Alexith?«

    »Dort befindet sich das höllische Land der Abtrünnigen und Dämonen – so steht es in den Büchern geschrieben. Monster, die den Gestank des Todes verbreiten und sich von den Knochen ihrer Widersacher ernähren.« Alexith hatte über seine Antwort keinen Augenblick nachdenken müssen. Neben den Neun Tugenden der Kirche Amygdalas war die Verbannung der Hexer aus dem Königreich eine der Geschichten, die die Novizen mehr als nur einmal von Vater Rishi gelehrt bekommen hatten. Vor vielen Jahrzehnten lag der Schatten des Krieges über dem Königreich Aruna, als sich eine Schar des magischen Volkes der Yidhé gegen die Menschen stellte und mit ihrer Zauberei – und unbändigem Hass – Dörfer und Städte vernichtete. Diese Fehlgeleiteten wurden von den weißen Yidhé als Abtrünnige geächtet. Man gab ihnen den Namen Shisma. Die kriegerischen Auseinandersetzungen endeten damit, dass die Magie im gesamten Reich verboten wurde. Außerdem wurden die Shisma hinter das nördliche Felsmassiv verbannt, das sich im Norden Arunas über das gesamte Festland erstreckte und weder erklimmbar noch passierbar war.

    »Mein Herz und mein Verstand sind sich einig, Novize«, sagte Vater Rishi. »Diese Dämonen sind der Ursprung dieser magischen Wolke. Und in mir wird die Vermutung wach, dass sie nicht die einzige ist.«

    »Ein Angriff der Abtrünnigen also?« Alexith musterte die Wolke unsicher. Das feurige Licht in ihrem Inneren schien nun die Konturen einer Fratze zu formen, die mit scharfen Zähnen auf die Ruine herabblickte.

    »Es wäre … möglich«, sagte der Priester. »Doch möchte ich keinesfalls voreilige Schlüsse ziehen. Unsere Gebete werden uns sicherlich Antworten bringen.«

    *

    Während die anderen schliefen, harrte Alexith im Glockenturm der Kirche aus. Dieser Teil des alten Gebäudes musste einst in sich zusammengestürzt sein, denn die rauen Wände der oberen Geschosse bestanden aus deutlich hellerem Gestein als der Rest der Kirche. Alexith hatte sich im obersten Stock an die bronzefarbene Glocke gelehnt, die seit Jahren in einer Ecke verstaubte und vermutlich nie wieder verwendet werden würde.

    Der Anblick des klaren Sternenhimmels war durch die Anwesenheit der Wolke verstörend. Sie verdeckte nicht nur einen Großteil des Himmels nach Norden hin, sondern sie verhinderte auch, dass das alte Kloster in die Farben der Nacht gehüllt wurde. Wäre der Anblick der Wolke nicht so grauenhaft gewesen, hätte man sie fast für eine kleine Sonne halten können.

    Der Regen hatte nach Einbruch der Nacht weiter zugenommen. Silberne Pfützen sammelten sich überall im Innenhof des Klosters und spiegelten das gefährlich rote Leuchten der Wolke wider. Alexith verzerrte das Gesicht, als der stechende Schwefelgeruch an seine Nase drang. Er stöhnte laut auf und zwang sich, durch den Mund zu atmen. Ich sollte meine Gedanken beruhigen … Nach einem Moment der Stille setzte er zu einem Gebet an: »Gutgütige Göttin Amygdala – Ich vertraue auf Dein Wohlwollen, Vater Rishi, unseren beiden Brüdern und mir den gesegneten Moment in seiner Vollkommenheit zu schenken, der uns vor diesem Instrument des Grauens beschützen wird, als wärest Du es selbst, die ihre Hand behütend um uns legt und uns dadurch Heilung und Zuversicht spendet.« Alexith nahm einen tiefen Atemzug und starrte in den Himmel, als wollte er diese Bestie von Wolke zum Duell fordern.

    Zu seiner Überraschung erlosch das rote Licht in dem Himmelsgebilde ganz plötzlich, als wären seine Flammen vom Wind erstickt worden. Auch das bedrohliche Grollen klang langsam aus. Zurück blieb nur das Plätschern des Regens, das eine gewisse Harmonie in sich trug.

    Alexith biss sich auf die Unterlippe. War ich das? Hat die Göttin meine Worte erhört? Doch noch bevor das Gefühl des Thriumphes sein Herz ergreifen konnte, ertönte ein mächtiger Knall. Die Wolke entflammte erneut, dieses Mal in einem grellen Weiß, und ungeheuerliche Explosionen zerrissen den so kurzen Frieden wieder. Alexith hatte sich vor Schreck auf die Zunge gebissen. Doch der Schmerz war schnell vergessen, denn seine Augen hafteten schon auf dem dicken Feuerball, der in rotem Gewand genau auf den Glockenturm zusteuerte.

    Instinktiv machte Alexith einen Satz zur Seite, sprang zur Leiter und hetzte die Sprossen nach unten. Er war noch nicht unten angekommen, da verneigte sich schon ein Teil des Mauerwerks vor dem monströsen Feuerwesen. Mörtel und Steine zerbarsten und flogen in alle Richtungen. Staub lag wie feiner Nebel in der Luft, und der Schwefelgeruch hatte sich nun überall ausgebreitet. Als Alexith dem Boden nahe genug war, drückte er sich von der Leiter ab und sprang. Er landete auf den Knien, was höllisch wehtat, aber er zögerte keinen Moment länger als nötig und robbte durch die offene Türe in den großen Gebetsraum der Kirche. Das Brechen von Holz und Gestein drang durch die Nacht. Alexith musste sich die Ohren zuhalten, als die alte Kirchturmglocke hinter ihm auf den Boden krachte und einen tiefen, monotonen Klang von sich gab. Der Novize warf keinen Blick zurück, sondern spurtete zum Tunnel, der zum Gemeinschaftsraum führte. Er war sich sicher, dass er die anderen nicht mehr zu wecken bräuchte.

    *

    Vater Rishi reichte Alexith einen Zinnkrug mit frischem Wasser. »Unsere Vorräte werden bald zur Neige gehen, befürchte ich«, sagte der Priester und klang trotz seiner verdrießlichen Worte sehr ruhig. »Kaut und trinkt langsam, damit ihr die Kräfte eures Körpers schont.«

    Es war nun schon der dritte Tag, an dem sie im alten Kloster gefangen waren. Nach der Zerstörung des Glockenturms hatte die Raserei der Wolke nachgelassen. Die Feuerbälle kreisten zwar weiterhin über ihnen, schienen aber aus einem unerkennbaren Grund nun gezügelt zu sein. Der silberne Regen dagegen brach weiterhin unerbittlich aus der magischen Erscheinung hervor und glitzerte gefährlich im hellen Lodern der Flammen. Glücklicherweise befand sich die kleine Gruppe der Kirche Amygdalas an der Westküste Arunas. Ein Großteil der Wassermassen konnte so die Klippen hinab ins Meer fließen. Sicher würde die Säure irgendwo am Horizont verschlungen werden. Zumindest hoffte Alexith das.

    Joshua hatte am Morgen versucht, durch den Regen vom Gemeinschaftsraum aus zum Holzlager zu gelangen, um frisches Holz für die Kochstelle zu holen. Doch selbst bei vollkommener Bedeckung – die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und Lederhandschuhe an den Händen – zeigte der Niederschlag keine Gnade. Der silberne Regen stach wie ein Schwarm penetranter Mücken durch den Stoff hindurch. Joshua hatte gerade einmal zwölf Schritte vor die Tür geschafft, bevor er sein Vorhaben unter Schmerzen abbrechen musste. Bei dem kleinen Wagnis hatte er sich etwa zwei Dutzend Löcher in seiner Robe eingefangen. Pedro hatte nicht lange gezögert, seinen Glaubensbruder mit einem Eimer Salzwasser zu übergießen, um die gefährliche Flüssigkeit abzuwaschen.

    Alexith nahm langsam einen Schluck vom Wasser, ehe er den Zinnkrug an Pedro weiterreichte. Der klare, frische Geschmack war wie ein Versprechen von Rettung. Doch das Gefühl der Frische war schnell wieder verschwunden. Alexith hatte immer noch Durst, aber er wusste auch, dass Vater Rishi mit seiner Feststellung recht hatte. Sie hatten zu viert nur noch drei Laibe Brot, sieben Äpfel und ein halbes Fass voll Trinkwasser. Die Glaubensbrüder konnten weder jagen noch angeln gehen, und die Gärten des Klosters waren – soweit sie das beurteilen konnten – zerstört oder zumindest für sie derzeit nicht zu erreichen. Alexith fuhr sich durch seine kurz geschorenen Haare. Sie würden so wahrscheinlich noch zwei Tage durchhalten – vielleicht sogar vier, ehe sie richtig hungern mussten. Allein der Gedanke daran ließ Alexiths Herz panisch hämmern.

    »Gibt es etwas, das wir tun können, Meister Rishi?«, fragte er schließlich. »Bevor unsere Kräfte nachlassen …«

    Der Priester strich sich nachdenklich über den glatten Kopf. Er blickte Alexith kurz schweigend an, bevor sein Blick zur Seite auswich. »Habt ihr die Symbole an den Eingängen angebracht, wie ich euch gebeten habe?«

    Alexith legte die Stirn in Falten und brummte leise. Es ist jetzt schon das fünfte Mal, dass er das fragt, seitdem wir es erledigt haben! Die Novizen hatten die Anweisung bekommen, alle Gebäudeeingänge, zu denen sie noch Zugang hatten, mit roter Farbe zu segnen. Vater Rishi hatte ihnen dafür ein Papier gegeben, auf das seltsame Symbole gekritzelt waren. Pedro hatte schnell festgestellt, dass die Kohlezeichnung des Priesters sehr frisch aussah, und hatte – als sie schließlich unter sich waren – den Verdacht geäußert, dass ihr Meister sich die Symbole nur ausgedacht hätte, um ihnen eine Beschäftigung zu geben. Die farbigen Symbole an den Wänden zeigten nämlich auch jetzt noch keine sichtbare Wirkung gegen die verfluchte Wolke, geschweige denn halfen sie dabei, das Knurren in Alexiths Magen zu

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