Rerum - Königreich des Todes: Das Finale der Illusion-Trilogie entführt erneut in die Königreiche von Traum und Albtraum
Von Lara Kempa
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Über dieses E-Book
Ein Königreich der Albträume, erwacht aus dem Schlaf.
Ein Königreich des Todes, dem das Ende naht.
Asra und Rowan sind wiedervereint, aber Illusion liegt in Scherben. Alles, woran sie geglaubt haben, ist eine einzige Lüge. Ihre Heimat zerfällt und es liegt an ihnen, die Welten zu retten und Traum und Albtraum zu vereinen. Doch das verlangt nach einem hohen Preis. Sind die Wanderer Illusions, bereit ihn zu zahlen?
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Buchvorschau
Rerum - Königreich des Todes - Lara Kempa
Copyright 2024 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: info@dunkelstern-verlag.de
ISBN: 978-3-910615-97-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung
Inhalt
1
Zerbrochene Welt
Wenn es Zeit ist, aufzugeben
Das bizarre Schöne
Verzweifelte Pläne
Angepasste Realität
Schmelzendes Eis
Die Zeit rennt
Lawinengefahr
2
Veränderungen
Das Portal in die Träume
Kämpfer
Stadt des Lichts
Geflüsterte Dunkelheit
Der neue König der Unterwelt
Kleine Träume
Alba
3
Rettung der Welten
Erinnere dich!
Die Königin der Wolken
Weltraumabenteuer
Verlorene Menschlichkeit
Das zweite Gesicht
Tod eines Kriegers
Alte Freunde
Spiegelbild
Götterdämmerung
4
Ein letzter Tag
Akhir
Eine Welt aus Porzellan
Flammeninferno
Rerum
Sonnenuntergang
Epilog
Danksagung
Triggerwarnung
Triggerwarnung
Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen können. Eine Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.
1
Das Feuer loderte in den Schatten. Erhitzte meinen schwächlichen Körper. Die Ketten rasselten an meinen Gelenken, als ich mich den Flammen entzog.
Ich sehnte mich nach einem eisigen Bad. Nach etwas, dass mich abkühlte und mir Erlösung bringen würde. Meine Arme schmerzten von der erhobenen Position.
Feuer und Eis spielten in meinem Kopf fangen. Und ein jedes Mal schmolz die Kälte unter den Fängen der Hitze. Ich konnte es gar nicht erwarten, meinem Gefängnis zu entfliehen.
Meine Rache würde gnadenlos sein.
Kapitel 1
Zerbrochene Welt
Rowan
Meine Welt bestand aus weißem Porzellan. Sie war zerbrechlich und umgeben von einem dichten Nebel, der die Risse zu verbergen versuchte. Dunkle Abgründe, die sich durch den Körper meiner Tante zogen. Lucys Lippen waren zu einem Schrei verzerrt. Tonlos und ewig. Stücke ihrer selbst waren auf dem trostlosen Boden verstreut und würden nie wieder zusammengefügt werden. Sie würden in der Endlosigkeit verschwinden.
Ein schriller Ton klingelte in meinen Ohren, und ich sah, wie Asra in Zeitlupe vor Lucy in die Knie ging. In ihren Augen standen die Tränen, auf ihrem Gesicht die Qualen. Stocksteif weilte ich daneben, war nicht in der Lage, mich zu bewegen. Ich fühlte mich leer, verloren. Als befände ich mich außerhalb meines Körpers. Außerhalb meiner Gefühlswelt.
Lýrr kniete neben ihr nieder, und Eira kam in mein Sichtfeld. Der Dämon sprach auf sie ein, während die Eiskönigin stumm neben ihnen stand. Unsere Blicke begegneten sich. Glasige Augen trafen auf unendliche Trauer. Ihre Lippen formten Worte, die erst nach einer ganzen Weile zu mir durchdrangen. »Rowan, was ist los?«
Mit einem Schlag prasselte alles auf mich ein. Die Geräusche. Asras Schluchzen, der Wind und Eiras raue Stimme. Die Gefühle. Wut, Schmerz, Trauer und Verzweiflung. Sie drückten mich nieder, erstickten mich und hüllten mich ein. Ich schnappte hektisch nach Luft, beugte mich nach vorn, versuchte mich zu konzentrieren. Irgendetwas, um dieses Leid nicht spüren zu müssen. Eine sanfte Berührung an meinem Arm, graue Augen, die in meine sahen. Eiras Finger legten sich an meine Wangen, kühlten meine erhitzte Haut.
»Du musst atmen«, sagte sie und holte tief Luft. »Tu es mir gleich.«
Luft ein ... Luft aus ... Luft ein ... Luft aus ...
Das Brennen in meinem Hals ließ nach, doch das erdrückende Gefühl bleib. Es ließ mich atmen, aber nur so viel, dass ich überlebte. Die Venen an meinen Armen stachen lila hervor, leuchteten wie Blitze am Nachthimmel und sprühten Funken gen Boden. Ich musste mich beruhigen. Musste klar denken.
Als ich meinen Blick hob, waren Asra und Lýrr verschwunden. Lucys Körper stand noch immer am selben Ort, hatte sich nicht bewegt. Es war kein Traum, es war die Realität. Und diese stach mir immer und immer wieder einen Dolch in den Rücken. Heimtückisch, böse, durchtrieben. Die Realität war ein Monster und der Traum sein Tod. Oder nicht?
»Geht es wieder?« Eiras Stimme holte mich aus meinen düsteren Gedanken. Besorgnis schimmerte in ihren Augen, und getrocknete Tränen klebten an ihren Wangen. Gedankenverloren hob ich meine Hand, spürte ihre zarte Haut unter meinen Fingerspitzen.
»Es tut mir leid«, hauchte ich, und ein betrübtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
»Wie war das mit dem Entschuldigen? Nicht für etwas, für das wir nichts können«, erwiderte sie, und unter Tränen stieß ich ein Lachen aus. Ein Lachen, welches bei Lucys Anblick zu einem Schluchzen mutierte. War sie tot? Oder lebte sie unter der Schicht aus Porzellan? Gefangen in einem weißen Gefängnis, welchem sie nicht entfliehen konnte.
»Wo sind Asra und Lýrr?«, fragte ich und rieb mir die Tränen aus dem Gesicht.
»Sie sind ins Schattenhaus. Asra glaubt, dort einen Hinweis auf die Gefäße finden zu können.«
»Ich hoffe, dass sie recht hat«, sagte ich und fügte mit einem Blick auf Lucy hinzu: »Und am besten finden wir auch etwas, um sie zu befreien.« Obwohl ich die Hoffnung mit einem Blick zur zerstörten Seite meiner Tante längst wieder verlor.
»Möchtest du ihnen folgen?« Eira deutete in Richtung des Schattenhauses. In die Richtung meines Zuhauses. Ein Heim, welches mir stets Geborgenheit vermittelt hatte. Doch jetzt ragte es wie ein Monster vor mir auf.
Ich schüttelte den Kopf. »Lass uns in die Stadt gehen. Vielleicht ist noch jemand am Leben.« Die Worte auf meiner Zunge fühlten sich an wie Säure, die sich schleichend durch meinen Körper ätzte. Ich wollte sie nicht als tot bezeichnen, wusste allerdings auch nicht, wie ich es sonst nennen sollte. Lebendig ganz bestimmt nicht.
»Bist du dir sicher? Was, wenn wir weitere ... Statuen finden?« Ihre Stimme brach und mit ihr mein Herz. Ich schlang meine Arme um sie, drückte ihren Körper ganz nah an meinen. Der Eiskönigin entschlüpfte ein wohliger Seufzer, als sie sich an meine Brust schmiegte. Freya schaute mit schiefgelegtem Kopf zu uns hinauf, als ich mein Kinn auf ihrem Scheitel platzierte.
»Wir schaffen das«, wisperte ich in ihr Haar, und Eira sah zu mir auf. Unsere Gesichter bewegten sich aufeinander zu, und als ihre Lippen die meine berührten, entspannten sich meine Muskeln. Es war nur ein kurzer Kuss, und er war beinah schon vorbei, bevor er anfing, und doch bedeutete er mir alles. Er gab mir Hoffnung und Mut, Stärke und Vertrauen. Ich war bereit, dem Bösen entgegenzutreten, solange Eira und Asra an meiner Seite waren.
»Gehen wir, aber wenn es zu viel wird, suchen wir deine Schwester, in Ordnung?« Eira verflocht ihre Hand mit meiner, bevor sie mich mit einem letzten Blick zu Lucy nach vorne zog. Hinein in die Stadt, die einst so lebendig gewesen war und nun zerbrochen und rissig schien. Unser Vater hatte mit seinem Verschwinden alles mitgenommen, was uns lieb und teuer gewesen war. Er hatte nicht zurückgeblickt und stattdessen alles zerstört.
Die Häuser lagen zum Teil in Trümmern, waren Ruinen aus Porzellan. Die Sonnenstrahlen gaben keine Wärme mehr ab, und über allem lag ein dichter Nebel. Wir schritten im einvernehmlichen Schweigen durch die Straßen von Vanity. Wo einst die Gesänge von Vögeln oder das Lachen von Kindern zu hören gewesen war, herrschte nun eisige Stille. In den Gassen entdeckten wir weitere zu Porzellan erstarrte Menschen, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. Manche der Bewohner waren für immer in einer alltäglichen Szene verewigt. Die einen beim Ballspielen, die anderen beim Eisessen. Nur wenige sahen mit vor Angst geweiteten Augen in den Himmel. Nur wenige hatten es kommen sehen, und ich wusste nicht, was gnädiger war. Zu wissen, dass etwas Schlimmes passieren würde, oder die letzten Momente in Frieden zu genießen.
Wir blieben vor Kalmers Restaurant stehen. Die Stühle und Tische vor dem Gebäude lagen teilweise zerstört am Boden. In der Mitte zerbrochen oder vom Wind verweht. Nur zögerlich traute ich mich, die Tür zu öffnen und das Innere zu betreten. Ein Keuchen entfuhr mir, als ich die Menschen sah, die wie eingefroren auf ihren Plätzen saßen. Es war eine Geisterstadt und wir die einzigen Überlebenden. Die kleinen Oktopusse waren in ihren Bewegungen erstarrt. Die Teller, die sie transportiert hatten, am Boden zerschellt. Mein Herz brach bei diesem Anblick, meine Muskeln versteiften, und es graute mir davor, die Küche zu betreten. Tief atmete ich ein und spürte Eiras Hand in der meinen.
»Wir machen das zusammen«, flüsterte sie in der Stille des Ladens, bevor wir Schritt für Schritt auf die Doppeltüren zugingen. Ein Fuß nach dem anderen, bis ich nur noch wenige Zentimeter entfernt war.
»Was, wenn er dort drin ist? Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.« Meine Stimme war hauchdünn, beinahe nicht existent. Das Herz pochte mir lautstark in der Brust, und ich glaubte, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu müssen. Ich wollte nicht noch eine geliebte Person verlieren. Kein weiteres Mal diesen Schmerz durchleben.
»Wir müssen nicht hineingehen.«
»Ich muss es wissen«, sagte ich, bevor ich mit einem letzten Atemzug die Türen öffnete. Dahinter erschien die weiße Küche, glänzend im Lichte der Sonne, die durch ein Fenster im hinteren Teil des Raumes hereinschien. Und dort, vor dem Herd und einem schimmernden Topf, stand Kalmer. Eingefroren in der Zeit, einer seiner Tentakel umfasste einen Löffel, welchen er zu seinem Mund hatte führen wollen.
Er hatte sein Ende nicht kommen sehen, dachte ich und musste mich an einem der Schränke festhalten, um nicht zu Boden zu stürzen. Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte und vereinzelte Tränen liefen mir über die Wangen.
»Es tut mir so leid«, hauchte ich, bevor meine Worte sich in ein Schluchzen verwandelten. Eira drückte meine Hand, schmiegte sich an meine Seite, und so verweilten wir hier. Bis keine Tränen mehr übrig waren.
Die Eiskönigin führte mich aus dem Restaurant und hin zu einer Bank. Dort ließ ich mich erschöpft nieder. Eira in meinen Armen und mein Kopf auf ihrem. Meine Gedanken spielten verrückt, flossen durch meinen Verstand wie heißer Sand. Lucy und Kalmer waren fort. Ich wollte gar nicht wissen, wie es um meine Mutter, Alba oder Luna stand. Die Gedanken schmerzten, doch hörten sie nicht auf. Mein Kopf gab keine Ruhe, und auch die sanften Striche von ihren Fingern auf meinem Arm konnten mich nicht beruhigen.
»In mir herrscht das reinste Chaos«, durchbrach ich die Stille. Eira bewegte sich unter mir, hob ihren Kopf und sah mich an.
»Vielleicht hilft es, wenn du deine Gedanken laut aussprichst«, meinte sie, und als hätte sie damit einen Knoten gelöst, flossen die Worte nur so aus mir heraus.
»Ich kann nicht glauben, dass mein Vater für all das hier verantwortlich sein soll. Wir hatten nicht immer das beste Verhältnis, aber dass er zu so etwas fähig ist? Das hätte ich in meinen schlimmsten Albträumen nicht gedacht.« Das Gefühl, betrogen worden zu sein, kam zurück. Es traf mich mit voller Wucht mitten ins Herz, zerquetschte es und ließ mich nicht mehr los. »Hayes ist der Hüter. Eine Legende. Derjenige, der uns und Illusion erschaffen hat. Ein Gott, der uns beschützen sollte. Stattdessen zerstört er alles, was uns lieb und teuer ist. Und wofür?« Es sollte befreiend sein, die Worte auszusprechen, doch führten sie mir nur vor Augen, was ich alles verloren hatte.
»Hayes hat jeden von uns getäuscht. Niemand hätte gedacht, dass er zu solchen Dingen fähig wäre.« Eiras Hand umschloss meine, während ihr Blick in die Ferne glitt. Tränen schimmerten in ihren Augen, und bei diesem Anblick konnte ich nicht anders, als sie in meine Arme zu schließen. Am liebsten würde ich sie nie wieder loslassen. Auf ewig hier mit ihr sitzen und die Probleme vergessen. Vergessen, dass uns möglicherweise das Ende von Illusion bevorstand.
»Was meinst du, hat Hayes vor?«, wisperte Eira.
»Ich weiß es nicht. Er möchte ein Illusion, das frei ist von den Albträumen, und dass er dafür alles tun würde, wissen wir ja.«
»Du meinst das Massaker in Kivessa?«, hakte sie nach, und ich nickte.
»Ich kann nicht fassen, wie naiv ich gewesen bin. Es war unfair gegenüber Asra, ihr zu verschweigen, dass sie adoptiert wurde. Vielleicht hätten wir die Wahrheit viel früher herausgefunden, wenn ich es ihr gesagt hätte.« Die Schuldgefühle meiner Schwester gegenüber saßen tief in mir fest. Ich hatte es ihr immer wieder sagen wollen, aber Hayes hatte mich davon abgehalten. Sie fühlte sich doch wohl bei uns, wieso sollten wir ihr das nehmen? Das war nur eines der Argumente gewesen, die mein Vater mir tagtäglich gepredigt hatte.
»Du konntest nicht wissen, dass Hayes ihre Eltern ermordet hat. Wieso hättest du etwas anderes annehmen sollen als das, was er dir erzählt hat?« Eira hatte sich wieder zu mir umgewandt. Ihr Mund stand einen Spaltbreit offen, und in ihren Augen schimmerte Wut. Aber nicht auf mich, sondern auf meinen Vater. »Er hat euch benutzt, um seine Vorstellungen einer perfekten Welt durchzusetzen.«
»Wir haben die Albträume verabscheut, sie umgebracht, obwohl sie die Opfer waren. Opfer in einem Krieg, den Hayes heraufbeschworen hat«, hauchte ich. Heißer Zorn brannte in mir. Wir mussten den Hüter finden und ihn aufhalten, bevor er etwas tat, was nicht rückgängig zu machen war. Irgendwo in ihm musste der Vater sein, der er all die Jahre für Asra und mich gewesen war. Irgendwo in ihm musste er verstehen, dass er das Falsche tat. Oder nicht?
»Wir werden Hayes aufhalten. Wir werden Illusion und die Albträume vor dem Untergang bewahren«, meinte Eira, und in ihrer Stimme klang Entschlossenheit mit. Sie war bereit, sich mit uns in den Kampf zu begeben. Einen Kampf, der möglicherweise nicht gewonnen werden konnte. Nicht, wenn wir es nicht schafften, Cassina aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sie war unsere einzige reelle Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Ohne sie hatten wir nichts. Nur eine kleine Gruppe aus Träumen und Albträumen, die gegen einen Gott nicht lange bestehen würden.
Ich wollte noch etwas sagen, irgendetwas, aber bevor ich meinen Mund hätte öffnen können, kamen Asra und Lýrr auf uns zugelaufen. Düstere Blicke, die nichts Gutes verhießen, zeichneten ihre Augen.
Kapitel 2
Wenn es Zeit ist, aufzugeben
Asra
Das Gesicht hinter einer Maske verborgen, seine Gestalt in den Schatten versunken. Gleißendes Licht erstrahlte aus seiner Mitte, und glühende Augen blickten in meine Seele. Das Bild des Hüters im Schattenhaus war die reinste Ironie. Düster und verstörend. Eine Legende, eine Lüge. Mein Innerstes war in Aufruhr, und am liebsten hätte ich das Gemälde von der Wand gerissen und zu Boden geschleudert. Ich sah schon die Abdrücke meiner Schuhsohlen auf seinem Abbild, wie sie schwarze Schlieren zogen und ihn verdreckten. Mehr hatte er nicht verdient. Lug, Trug und Scheinheiligkeit waren sein Beruf. Sein Anblick verursachte die Schreie in meinem Kopf, die nicht verstummten und mich in den Abgrund reißen wollten.
Gleißender Zorn und unendliche Trauer flossen wie ein eisiger Wirbel durch meinen Körper. Getrocknete Tränen klebten an meinen Wangen, während Frische über ihnen vorbeizogen. Würde ich irgendwann leer sein? Still? Ich hielt die Geräusche nicht mehr aus. Sie vergifteten meine Gedanken und ließen mich nicht eine Sekunde zur Ruhe kommen. Ich wollte nicht mehr, konnte nicht mehr. Meine Beine waren wie Wackelpudding und drohten jeden Moment unter mir zusammenzubrechen. Die Erschöpfung breitete sich in Wellen in mir aus, ließ mir die Lider zufallen. Das Weiß des Hauses schmerzte, und doch konnte ich nicht anders, als hier zu stehen. Vor dem Abbild des Hüters. Dem Bild meines Vaters.
Lügen! Alles Lügen! Mit einem verzweifelten Schrei riss ich das Bild von der Wand und fegte es durch den Raum. Mit einem lauten Scheppern kam es auf dem Boden zum Erliegen. Scherben verteilten sich drumherum, symbolisierten das zerbrochene Heim, das er zurückgelassen hatte. Ein Schluchzer entwich meiner trockenen Kehle.
Schritte hallten durch den Gang, und im nächsten Moment spürte ich zwei starke Arme, die sich um mich schlossen. Schluchzend sank ich an Lýrrs Brust, mein Körper bebte und erschütterte mein Inneres. Schmerz, Trauer und Wut. Es tat alles so furchtbar weh. Ein weiterer Schrei löste sich von meinen Lippen und hallte als Echo von den Wänden wider. Das Bild von Lucy schob sich vor mein geistiges Auge. Eine weiße Statue, die in Angst und Trauer erstarrt war. Hatte sie es gewusst? Hatte sie vom Hüter gewusst? Von seinen Taten? Ich wollte es nicht glauben. Aber wem konnte ich noch vertrauen?
»Geht es wieder?« Lýrrs Stimme strömte wie eine Melodie durch meine Ohren. Mein Blick wanderte an ihm empor, bis ich auf den seinen traf. Tiefe, unergründliche Augen starrten in die Meinen. Sorge und unterdrückter Zorn standen in ihnen geschrieben, und ich konnte auch mich selbst in ihnen spiegeln. Ein kleines Häufchen Elend, das zu ihm aufsah.
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande, und er ließ mich auch nicht los. Stattdessen wanderte seine Hand zu meiner und verschränkte sich mit ihr. »Ich bin hier und wohin auch immer du jetzt gehen magst, ich bleibe an deiner Seite.«
Die Tränen trockneten auf meinen Wangen, verklebten mir die Lider und liefen mir am Kinn hinunter. Ein salziger Geschmack legte sich auf meine Lippen, als ich den Schattenmann still zur Treppe auf der linken Seite führte. Im Inneren des Schattenhauses sah alles aus, wie wir es zurückgelassen hatten. Einzig das Äußere war zerstört, zerschmettert worden. Eine Stufe nach der anderen stiegen wir hinauf. Stille begleitete uns, während in meinem Kopf weiterhin das reinste Chaos regierte.
Weiß, weiß, weiß. Nicht ein Fünkchen Farbe begegnete uns auf dem Weg zu meinem Zimmer. Dem Ort, der mir Trost gespendet hatte. Mein Rückzugsort nach einer anstrengenden Reise. Eine Reise, auf die wir geschickt wurden, um das Böse zu bekämpfen. Doch was war das Böse? Waren es die Albträume, die sich gegen eine Macht verteidigten, die sie alle zerstören wollte? Die unschuldige Leben beendeten, um ihr Ziel zu erreichen? Oder waren es der Hüter und seine Träume, die von einem utopischen Reich träumten und dafür alles in Schutt und Asche legen würden? Ich wusste es nicht. Manchmal war eben nicht alles Schwarz und Weiß. In diesem Moment nahmen die verschiedensten Grautöne vor meinem inneren Auge Gestalt an. Nicht gänzlich gut, aber auch nicht gänzlich böse. Sie wurden alle von einem Traum geleitet und verstanden nicht, dass sie sich damit ihren eigenen Albtraum erschufen.
Wir hielten vor der Tür zu meinem Zimmer an. Hinter dieser lag mein ganzes Leben. Meine Vergangenheit in all ihren Facetten. So viele Emotionen und Momente. Erinnerungen, die mir heute nur noch Schmerz bringen würden.
Ich atmete tief durch, bevor ich meine Hand aus Lýrrs Umklammerung löste und auf den Knauf legte. Mit einer einzigen Drehung schwang die Tür nach innen auf und offenbarte