Neroth -Königreich der Albträume: Band 2 der High Fantasy Trilogie
Von Lara Kempa
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Über dieses E-Book
Zwischen Wahrheit und Lüge.
Zwischen Leben und Tod.
Die Albtraumkönigin wurde aus ihrem Gefängnis befreit und sinnt auf Rache.
Rache am Hüter und seinen Träumen.
Verborgen vor aller Augen spinnt sie in Neroth ihre Pläne, die nur die Wanderer Illusions durchkreuzen können.
Doch diese sind gescheitert. Verloren. Tot.
Oder?
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Buchvorschau
Neroth -Königreich der Albträume - Lara Kempa
Copyright 2022 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: info@dunkelstern-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Inhalt
1 7
Kapitel 1 - Schmerzhaftes Erwachen 8
Kapitel 2 - Traumwandler 18
Davor - Eine kleine Maus 29
Kapitel 3 - Im gemachten Netz 36
Kapitel 4 - Die Stadt der Spinnen 42
Davor - Mondschein am Sternenhimmel 50
Kapitel 5 - Im Reich der Schatten 57
Kapitel 6 - Entscheidungen 67
2 71
Die erste Erinnerung - Lýrr 72
Kapitel 7 - Alte Bekannte 81
Kapitel 8 - Das Flüstern des Waldes 92
Die zweite Erinnerung - Die Herrschaft von Licht und Dunkelheit 100
Kapitel 9 - Die Jagd der Toten 113
Kapitel 10 - Tief begraben 123
Die dritte Erinnerung - Die Schönheit der Schöpfung 132
Kapitel 11 - Blutsauger 142
Kapitel 12 - Überfahrt mit Tücken 150
Die vierte Erinnerung - Die großen Drei 156
Kapitel 13 - In die Höhle des Löwen 163
Kapitel 14 - Das Herz des Königs 172
Die fünfte Erinnerung - Der Sturz der Albtraumkönigin 181
Kapitel 15 - Wenn Träume zu Albträumen werden 187
Kapitel 16 - Eine Träne der Trauer 193
Die letzte Erinnerung - Die wahre Geschichte 203
3 210
Danach - Das Gesicht hinter der Maske 211
Kapitel 17 - Doch zu welchem Preis 217
Danach - Träume aus Porzellan 224
Triggerwarnung 235
Triggerwarnung
Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen können. Eine Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.
1
Tick. Tack. Tick. Tack.
Der Anfang vom Ende steht uns heute bevor.
Zwei Seelen, so nah und doch viel zu fern.
Gefangen zwischen Albtraum und Traum.
Zwischen Zwietracht und Hass.
Getrennt durch die Lügen, einst gesprochen von Oben
und geteilt durch das Unten.
Werden sie sehen durch den Schleier der Trauer,
der sie umgibt wie eine eiserne Mauer?
Oder wird es so enden, wie zuvor prophezeit?
Mit Glück ganz am Ende und so furchtbar viel Leid?
Kapitel 1
Schmerzhaftes Erwachen
Rowan
Tiefschwarze Schatten umlagerten meine Sinne und erst der alles verzehrende Schmerz brachte mich zurück ins Licht. Ein stummer Schrei lag mir auf der Zunge, doch verließ er nie meine Lippen. Leises Gemurmel drang an meine Ohren, doch schnitt die Dunkelheit die Worte ab. Ich war umgeben von einer Blase aus Nichts, in der meine Seele umherwanderte. Zwischen Licht und Dunkel. Zwischen Grauen und Erlösung. Begleitet von einem blassen Brennen, das durch meinen Körper fuhr. Vernebelte Bilder zogen an mir vorbei und gaben keine Ruhe. Ein Gesicht vor meinen Augen, das sich wandelte. Wandelte von dem gebrochenen Ausdruck meiner Schwester zu einem finsteren Lächeln auf den Lippen eines Monsters.
Die Zeit schlich nur so an mir vorüber. Waren es Stunden, Tage oder gar Wochen? Ich konnte es nicht sagen. Als der Nebel sich allmählich lichtete, jagte eine wohlige Wärme durch meine Muskeln. Die Haare an meinen Armen standen mir zu Berge und ein leiser Stich durchzuckte mich, als ich meine Lider auseinanderzog. Klebrige Reste des Schlafes hingen mir an den Wimpern und suchten sich einen Weg in meine Augen. Ein helles Licht blendete mich, aber ich hielt meine Lider davon ab, sich ein weiteres Mal zu schließen. Die Angst, mich nicht erneut aus der Dunkelheit befreien zu können, ließ mich rebellieren. Erst als sich meine Augen allmählich an die Helligkeit gewöhnten, fiel mein Blick auf den weißen Verband über meiner nackten Brust.
Was ist passiert?, fragte ich mich, als ich das Blut sah, das den Stoff befleckte. Es führte geradewegs zu einer Stelle unter meinem Herzen, die schmerzhaft pochte und mir das Atmen erschwerte. Behutsam wanderte ich mit meiner Hand über den rauen Stoff und stockte, als sich der Schmerz über meinen gesamten Oberkörper hinweg ausbreitete. Ein Stöhnen löste sich von meinen Lippen, das sich in ein erleichtertes Seufzen verwandelte, sobald das Leiden verging.
Ich hielt meine Finger von dem Verband fern und wagte es nicht ein weiteres Mal, die Wunde darunter zu betasten. Stattdessen wanderte mein Blick durch den Raum und blieb an einer Person hängen, die es sich neben dem Bett auf einem Stuhl bequem gemacht hatte. Die Augen meines Vaters waren geschlossen und sein Kinn ruhte auf seiner Brust. Keine äußerst angenehme Position, wenn man mich fragte. Neben ihm saß Freya, der weiße, mit grauen Flecken besprenkelte Wolf von Eira. Sie beobachtete mit schiefgelegtem Kopf jede meiner Bewegungen.
»Was machst du denn hier?«, wollte ich sie fragen, doch bevor nur ein Ton meine Lippen hätte verlassen können, atmete ich zischend auf. Ich verzog mein Gesicht und nur mit Mühe und Not gelang es mir, einen Blick auf die leidverursachende Stelle an meinem Arm zu werfen.
Was zur ...? Weiter kam ich nicht, als ich beim Anblick meiner Haut erstarrte. Das schwarze Blut, an das ich mich in den letzten Tagen immer mehr gewöhnt hatte, war durchzogen von lila Schlieren, die sich durch meine Haut nach Außen brannten. Sie formten kryptische Symbole, die ich, selbst wenn mein Verstand nicht von Schmerz vernebelt gewesen wäre, nicht hätte entziffern können. Mit den Fingern meiner rechten Hand strich ich sachte über die mir unbekannten Zeichen, die unter meiner Berührung noch intensiver schmerzten.
»Rowan?« Meine Aufmerksamkeit glitt von meinem Arm zu meinem Vater, der mit einem Gähnen aus seinem Schlaf erwachte. Und als ich erneut einen Blick zurück wagte, waren die Symbole verschwunden und der Schmerz so schnell vergangen, wie er gekommen war. Hatte ich mir das alles etwa nur eingebildet? Ich schüttelte den Kopf. Das war eine Frage, über die ich mir später Gedanken machen würde.
»Was macht Freya hier?« Ich erkannte meine Stimme selbst kaum wieder, so rau und krächzend kam sie mir über die Lippen. Dankend nahm ich das Glas mit frischem Wasser entgegen, welches mein Vater mir hinhielt und trank gierig mehrere Schlucke. Die erfrischende Kälte rann meinen Hals hinunter und ich spürte sie selbst in meinem Bauch nachhallen. Nur mit Mühe verkniff ich mir ein erleichtertes Stöhnen und stellte das Glas auf dem Schrank neben dem Bett ab. Mein Blick huschte erneut zu dem Wolf, der mich noch immer mit schiefgelegtem Kopf musterte und ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. »Geht es Eira gut?«
»Ihr geht es bestens. Sie gab Freya den Befehl, über dich zu wachen«, sagte Hayes und ich atmete auf. Eira war vor unserer Reise nach Naiad in keinem guten Zustand gewesen, wobei diese Beschreibung noch untertrieben war. Und selbst mit den Worten meines Vaters in den Ohren, schaffte ich es nicht, die Sorgen um die Beschützerin Hiems zu verdrängen.
»Aber wie geht es dir?« Hayes musterte mich aus halbgeöffneten Augen heraus, die von einigen schlaflosen Nächten zeugten. Die bläulichen Flecken unter ihnen schienen dies nur zu bestätigen.
»Mir geht es gut«, wiegelte ich ab. »Was ist passiert?«
Hayes rieb sich die Nase, bevor er antwortete. »Ich dachte, das könntest du mir beantworten. Wir wissen nur, dass du vor etwa einer Woche halbtot hier aufgetaucht bist.« Er setzte sich in seinem Stuhl aufrecht hin, bedachte mich mit einem fast schon vorwurfsvollen Blick und fügte hinzu: »Weißt du eigentlich, welche Sorgen ich mir gemacht habe, als Lucy sagte, du hättest für kurze Zeit sogar einen Herzstillstand erlitten? Und Asra ist bis heute nicht aufgetaucht. Also sag mir, was ist in Naiad geschehen?«
Ich war seinem Vortrag stumm gefolgt, doch als die Rede auf meine Schwester kam, setzte ich mich ruckartig auf. Das gefiel meiner Brust so gar nicht, was sie mir mit einem schmerzhaften Ziehen heimzahlte. Zischend atmete ich ein und presste meine Lider zusammen, bis der Schmerz abebbte und meine Lungen wieder genug Luft bekamen.
»Wo ist sie?«, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seit meiner Rückkehr war eine Woche vergangen. Eine Woche und keine Anzeichen von Asra?
»Das würde ich auch gern wissen. Sie war nicht bei dir, als du durch das Portal kamst.«
Mein Vater wollte mir dabei helfen, mich aufzusetzen. Reflexartig schlug ich seine Hand beiseite. Ich ertrug zurzeit keine Berührungen. Vor meinen Augen fuhren die Ereignisse in Credance Achterbahn. Die Flucht vor den Kova, die Falle vor dem Portal ... Asras Gesicht, als sie sich entschied, ihren Körper der Albtraumkönigin zu überlassen. Die Albtraumkönigin und ihr perfides Lächeln auf den Lippen meiner Schwester. Ungewollt krümmte ich meine Hände zu Fäusten, fühlte ihren Hals unter meinen Fingerspitzen. Ich hätte nur zudrücken müssen und hätte damit der Königin ein Ende gesetzt. Und Asra. Der Gedanke an sie ließ mich stocken. Die Königin sagte, ihr gehe es gut. Doch wie viel Vertrauen konnte man in die Worte einer Mörderin legen?
»Sie haben sie«, brachte ich stockend hervor, bevor ich ihm alles erzählte. Von unserem Fund in Naiad bis hin zur Flucht in Credance und der anschließenden Falle. Ich ließ es aus, zu erwähnen, dass Asra einen der Dämonen gekannt hatte, und kam direkt zu ihrer Übernahme durch die Königin. Als ich meine Schilderung beendet hatte, sah mich mein Vater stumm mit geweiteten Augen an. Sein Gesicht eine Grimasse des Entsetzens. Und ihn so zu sehen, ließ auch in mir etwas zerbrechen.
»Wir müssen sie finden. Müssen die Königin der Albträume finden und ihren Körper zurückfordern«, durchbrach ich die Stille, die eingetreten war, und meine Stimme holte Hayes aus seiner Erstarrung. Ich war schon halb aus dem Bett gestiegen, als er mich mit einer Hand zurückhielt. Reflexartig befreite ich mich aus seinem Griff, als ein unangenehmer Schauer durch meinen Körper rann.
»Wir machen gar nichts. Du bist noch zu schwach, um irgendetwas zu tun.«
»Ich werde nicht hier herumlungern und mich ausruhen. Wir müssen uns mit Alba beraten, nach Asra suchen«, protestierte ich und wurde mit jedem gesprochenen Wort unabsichtlich lauter.
»Ich habe nicht gesagt, dass du nicht helfen kannst. Aber fürs Erste musst du dich erholen. Du kannst kaum laufen«, sagte er und deutete auf den Verband um meine Brust. »Bis du wieder auf dem Damm bist, wirst du auf keine Rettungsmissionen gehen.«
»Ich kann nicht tatenlos abwarten«, flehte ich, aber mein Vater blieb hart. Der Ernst in seinen Augen wich keinen Millimeter und ich wusste, heute würde ich bei ihm nicht durchdringen. Geschlagen sank ich zurück in die Laken.
»Solange du dich erholst, werde ich alles Menschenmögliche unternehmen, um Asra zu finden. Ich verspreche es dir.«
Mein Blick glitt zum Fenster neben meinem Bett. Der Himmel war wolkenlos, gemalt in einem hellen Blau und doch wanderten meine Gedanken immer wieder zu Asra. Ob es ihr gut ging? Ich hatte keine Wahl, als zu hoffen, dass sie in Sicherheit war. Dass die Königin nicht gelogen hatte.
»Du solltest noch ein wenig schlafen«, holte Hayes mich aus meinen Gedanken. Er hielt mir erneut das Wasserglas entgegen und ich nahm einige Schlucke daraus. Ein komischer Nachgeschmack bildete sich in meinem Mund, der zuvor nicht da gewesen war, und mit einem Blick in das Gesicht meines Vaters bestätigte sich mir, was ich bereits befürchtet hatte. Meine Lider wurden immer schwerer und die Dunkelheit gewann erneut die Überhand.
»Es tut mir leid, Rowan.«
***
»Deine Verletzung ist in den letzten Tagen hervorragend geheilt. Aber auch ungewöhnlich schnell, wenn du mich fragst.« Lucys skeptischer Blick lag auf dem rötlichen Streifen, der sich über meine linke Brust zog. Der einzige Beweis für meine Begegnung mit der Albtraumkönigin. Eine Wunde, die mich das Leben hätte kosten können. »Ich würde gern dein Blut noch einmal untersuchen. Ich vermute, deine schnelle Selbstheilung könnte etwas damit zu tun haben.«
Ich hörte Lucy nur mit halbem Ohr zu, denn meine Gedanken drifteten immer wieder ab. Zu Asra, die noch immer nicht gefunden worden war, und zu Hayes, den ich seit unserem Gespräch vor vier Tagen nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht ganz gut so. Nachdem er mich mit Tabletten ausgeschaltet hatte, konnte ich ich in seiner Gegenwart für nichts mehr garantieren. In dieser Zeit hatte ich nicht nur einmal versucht, meinem Zimmer zu entfliehen. Wenn Lucy mich nur hätte gehen lassen ...
»Rowan? Hörst du mir überhaupt zu?« Blinzelnd wandte ich mich meiner Tante zu, die mich mit besorgten Augen und schiefgelegtem Kopf musterte. »Wo bist du nur mit deinen Gedanken?«
»Überall und nirgends«, antwortete ich mit Blick auf meine Finger, mit denen ich unbewusst an dem Pflaster auf meiner Hand gespielt hatte. Das unnütze Herumsitzen brachte mich noch um den Verstand. Das tägliche an die Decke starren und nicht wissen, wann ich den Raum endlich würde verlassen dürfen. »Sind wir fertig?«
»Ja, ich habe alles, was ich brauche. Du kannst dich wieder anziehen.«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich war längst auf den Beinen, als sie den Satz zu Ende sprach. Vor etwa zwei Tagen hätte ich nicht einfach so aus dem Bett springen können, ohne dass mich im nächsten Moment der Schwindel packte. Lucy hatte recht, meine Verletzung und ihre Nebenwirkungen hatten sich recht schnell gelegt. Ein Grund mehr, mich endlich nützlich zu machen.
Ich schnappte mir mein Hemd vom Stuhl neben meinem Bett und zog es mir über die Arme. Vor dem Spiegel schloss ich die vielen Knöpfe, doch ich hielt inne, als mein Blick auf mein Spiegelbild traf. Es war wundervoll, nach Tagen endlich wieder normale Kleidung zu tragen, anstelle der lockeren Patientenkluft, die meine Verletzung hatte schonen sollen. Ein Schritt mehr in Richtung Normalität. Obwohl ich davon noch immer meilenweit entfernt war. Die Schatten unter meinen Augen zeugten von den schlaflosen Nächten, die ich damit zugebracht hatte, mir Sorgen zu machen und mir einen Plan zu überlegen. Meine blonden Haare hingen mir verstrubbelt auf den Schultern. Es wurde Zeit, dass ich sie mal wieder ordentlich zurechtstutzte. Ansonsten sah ich aus wie immer. Äußerlich hatte sich nicht viel verändert, während mein Inneres eine 180° Wendung durchlebt hatte.
»Ich würde dich nur bitten, nichts zu überstürzen. Morgen sehe ich mir das noch einmal an und dann bist du mich hoffentlich fürs Erste los.« Lucy schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das ich nicht erwidern konnte. Mir war einfach nicht nach Lachen, Lächeln, Freude. In mir war nur Platz für eine Sache: meine Schwester. Bis ich sie gefunden hatte, würde ich keine Ruhe finden.
»Danke, Lucy«, sagte ich, bevor sie mein Zimmer ohne ein weiteres Wort verließ. Erneut war ich allein. Mit einem letzten Blick auf mein Krankenbett öffnete ich die Tür und verließ den stickigen Raum, der prompt von einem in Blau gehaltenen Gang abgelöst wurde. Der Geruch von Desinfektionsmittel umnebelte meinen Geist und verfolgte mich bis zur Eingangstür. Ich freute mich schon darauf, endlich wieder klare Luft atmen zu können.
Im Eingangsbereich der Praxis war keine Spur von Lucy. Kein so unmöglicher Gedanke, wie ich fand, war meine Tante die meiste Zeit recht mysteriös.
Ich verließ die Praxis durch die Eingangstür und wurde umgehend von einer seichten Brise umweht, die mir die Haare ins Gesicht blies. Es war ein traumhaftes Gefühl, die Sonne und den Wind auf der Haut zu spüren. Das erste Mal seit vier Tagen umgab mich der Geruch von frischer Luft, von Natur und Freiheit Der Gestank nach Desinfektionsmittel war verklungen und machte einem nahezu himmlischen Geruch Platz.
Gemächlich schlenderte ich durch die Stadt, beobachtete die Menschen bei ihren alltäglichen Aufgaben und genoss den Anblick der bunten Blätter, die allmählich von den Bäumen fielen. Doch erfasste mich bei diesen Bildern erneut die Trauer. Ich vermisste meine Schwester, die den Herbst von allen Jahreszeiten in Vanity am liebsten mochte. Wie gern hätte ich beobachtet, wie sie versuchte, die Blätter im Fall zu fangen und lachend durch die Laubhaufen zu wandern. Sie hätte all das hier geliebt, und alles, was mir blieb, war die Hoffnung, dass wir sie schon bald finden würden. Dass die Königin nicht gelogen hatte. Tränen brannten in meinen Augen, die ich mit einer einfachen Bewegung der Hand verscheuchte. Jetzt war nicht die Zeit, Trübsal zu blasen. Ich würde mit Hayes reden und mich dann sogleich auf die Suche nach Asra machen. Und ich würde sie finden.
Mit einem letzten Blick auf die Blätter betrat ich das Haus der Schatten, das wie ein kleiner Hoffnungsschimmer vor mir aufragte.
Ich werde dich finden, Asra, das verspreche ich dir.
Im Inneren des Gebäudes blendete mich das grelle Weiß der Wände für einen kurzen Moment, bevor mein Blick auf eines der ersten Bilder traf. Ein Gemälde des Hüters höchstpersönlich. In seinem weißen Anzug und mit dem von Schatten verdeckten Gesicht starrte er auf mich hinab. Verhöhnend, verspottend. Bei seinem Anblick hätte ich kotzen können,und die Zweifel, die mich befielen trugen nur dazu bei. Zweifel an dem Hüter, an dem Allmächtigen, der uns alle geschaffen hatte. Der über uns wachte, unsere Schritte beobachtete und uns half, wenn wir Hilfe brauchten. So hieß es zumindest in den vielen Legenden, die über ihn erzählt wurden. Doch wo war er gewesen, als die Albtraumkönigin erwachte? Wo war er gewesen, als sie Asras Körper stahl und sich ihrer bemächtigte? Wenn es ihn denn überhaupt gab.
»Rowan?« Die Stimme meines Vaters holte mich aus meinen Gedanken. Meine Aufmerksamkeit wandte sich von dem Gemälde ab und ihm zu. »Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete ich knapp. Hayes sah mich aus übermüdeten Augen heraus an. Es schien so, als hätte auch er in den letzten Tagen nur bedingt Schlaf bekommen. Seine gesamte Haltung zeugte von Stress, Anspannung und Trauer. Ein Anblick, der mich erweichte. Auch er litt darunter, dass Asra nicht hier war.
»Können wir reden?«, fragte ich, was Hayes mit einem Nicken quittierte und in Richtung seines Büros deutete. Ich folgte ihm durch die Gänge bis zu seiner Tür, die er mir aufhielt, damit ich eintreten konnte. Das Zimmer sah so aus, wie ich es in Erinnerung hatte, und unwillkürlich glitt mein Blick zu dem Bücherregal an der linken Wand. Dorthin war auch Asras Blick immer zuerst gewandert, zu dem einzigen Fleck Farbe, den dieser Raum zu bieten hatte. Dem roten Lesezeichen in einem der vielen weißen Bücher. Ein kleines Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, als ich es fand. Wieso steckte es in einem seiner Bücher?
Hayes bedeutete mir, mich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch zu setzen, während er selbst sich auf seinem niederließ.
»Wie geht es dir?«, fragte er, als ich in das weiche Leder sank.
»Wie schon gesagt, mir geht es gut. Lucy sagt, meine Verletzung heilt problemlos ab.«
»Das freut mich zu hören.« Hayes lächelte, aber es erreichte nicht seine Augen. Ich merkte, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.
»Ist denn bei dir alles in Ordnung?«, stellte ich die Gegenfrage und holte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Sein fragender Blick wanderte über mein Gesicht, bevor er sich klärte. »Was? O ja, mir geht es gut.«
Ich glaubte ihm kein Wort. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
»Geht es um Asra? Habt ihr sie gefunden?« Ich beugte mich mit bebendem Herzen ein Stück nach vorn, allerdings verflüchtigte sich meine Hoffnung, als Hayes den Kopf schüttelte.
»Nein, wir haben sie noch nicht gefunden, aber wir sind dabei.«
»In Ordnung, dann schick mich los«, sagte ich und kam damit auf das Thema zu sprechen, weswegen ich hergekommen war.
»Was?«
»Schick mich in eine der Welten, lass mich helfen«, wiederholte ich.
»Nein«, erwiderte er, was mich im ersten Moment verwirrt zurückließ, bevor die Bedeutung dieses Wortes mit voller Wucht bei mir ankam. Aus einem Impuls heraus sprang ich auf. Meine Hände landeten hart auf dem Tisch und meine Wunde zwickte schmerzhaft, was ich mit einem tiefen Atemzug zu verstecken versuchte. Mein Blick sprühte Funken, als er auf den meines Vaters traf und die Wut toste wie ein Wirbelwind in mir, bereit, freigelassen zu werden.
»Wieso?«, fragte ich mit fester, ruhiger Stimme, die das Gegenteil von dem war, was ich tief in mir fühlte.
»Ich bin nicht bereit, noch ein Kind zu verlieren. Wir suchen bereits tatkräftig nach Asra. Du würdest dazu nichts beitragen können«, erwiderte Hayes ebenso ruhig und fast hätte ich ihm geglaubt, hätte er nicht weitergesprochen. »Du wärst nur eine Ablenkung.«
»Eine Ablenkung?!«, schrie ich und mit diesen Worten war meine Wut entfesselt. »Wie genau sucht ihr denn nach ihr? Niemand kann so leicht durch die Welten reisen wie ich. Sucht mir eine Anomalie und ich werde sie finden.«
Hitze schoss durch meinen gesamten Körper, feuerte mich an und ließ mich erzittern. Meine Fingerknöchel wurden weiß, so fest hielt ich den Tisch umklammert, um nicht etwas zu tun, was ich später mit großer Wahrscheinlichkeit bereuen würde. Mein Vater blieb eine Zeit lang still, erwiderte nichts auf meine Worte, wirkte fast schon unsicher.
Bis ein einfaches Wort über seine Lippen kam. Ein Wort, das mich in tausend kleine Stücke zerbrechen ließ. »Nein.«
»Aber «, begann ich, doch unterbrach er mich, bevor ich erneut ansetzen konnte.
»Ende der Diskussion. Ich werde keine Reisen erlauben.«
Und damit war es beschlossene Sache. Hayes verschloss sich, verriegelte seine Gefühle hinter einer Mauer aus Eisen. Kein Durchkommen möglich.
Ich atmete tief ein,