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Er kam
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eBook492 Seiten6 Stunden

Er kam

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Über dieses E-Book

ER=GOTT

Alice (18) hat schon mehr als genug Probleme. Sie muss mit einem tragischem Schicksalsschlag fertig werden und ihr Abitur bestehen. Als ihr plötzlich verschiedene Persönlichkeiten begegnen, die alle behaupten Gott zu sein, gerät Alices Welt vollends aus den Fugen. Während ihre Schwester und ihre Freunde sie für geisteskrank halten, begreift Alice nach und nach, dass es wirklich einen Gott gibt. Doch Gott hat ein Problem, eine multiple Persönlichkeitsstörung verschleiert seinen Blick. Als Gott dann noch auf die Idee kommt, die Menschheit zu dezimieren und ein Spiel zu beginnen, nimmt die Geschichte eine tragische Wendung. Kann Alice Gott vom Gegenteil überzeugen?

Teil Eins einer packenden Fantasytrilogie um Freundschaft, Größenwahn und Liebe.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum28. Juli 2015
ISBN9783739256092
Er kam
Autor

Larissa Reiter

Larissa Reiter wurde 1993 in Gehrden, bei Hannover geboren. Seit sie schreiben kann, tut sie dieses auch. Ihr Debütroman "ER kam" erscheint im August 2015.

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    Buchvorschau

    Er kam - Larissa Reiter

    töten?

    1. ER

    „Wer nicht hören will, muss fühlen."

    (deutsches Sprichwort)

    Es war dunkel. Doch ausnahmsweise schien ich im Schlaf bei klarem Verstand zu sein. Ich war mir sicher, dass ich meine Augen geöffnet hatte, doch die Dunkelheit blieb und hüllte mich ganz langsam in Furcht und Panik. Meine Hände versuchten etwas zu greifen. Ich versuchte zu tasten, zu fühlen, zu riechen, doch ich schien nicht einen meiner Sinne mehr zu haben. Die Panik, die in mir aufstieg, erstickte mich beinahe. Ich schrie, doch ich konnte mich nicht hören, fühlte nur den Schrei, der in meinem Hals brannte. Ich war erleichtert, wenigstens diesen kratzigen Schmerz zu spüren. Das musste ein Traum sein. Aber warum fühlte ich mich dann so wach? Warum wollte alles in meinem Körper fliehen und Schutz suchen. Wovor hatte ich solche Angst? Vor dieser Dunkelheit? Kleine Kinder hatten Angst vor ihr, aber ich war doch schon achtzehn Jahre alt. Ich konnte im Dunkeln schlafen.

    „Ah, … du stellst fest, dass du vollkommen machtlos bist?", sagte eine tiefe, kalte, männliche Stimme.

    Ich konnte nicht ausmachen, woher die Stimme kam. Wo war derjenige, der mit mir sprach? Über mir? Unter mir? Die Stimme schien ganz nah zu sein und trotzdem sehr weit weg. Muss ich ihr antworten? Wenn ich mich nicht höre, hört die Stimme mich dann? Vielleicht ist das gerade Einbildung?

    Mir fiel nichts Besseres ein und ein ganz leises „Hallo?" rutschte über meine Lippen.

    Doch auch dieses hörte ich nicht. Aber die Stimme hatte auch den Schrei gehört. Sonst hätte sie bestimmt nicht angefangen mit mir zu sprechen. Meine Gedanken überschlugen sich.

    „Eine Frage habe ich an dich. Dann darfst du bestimmen, was ich aus der Menschheit mache", flüsterte jetzt eine helle Frauenstimme.

    Ich muss träumen. Sind hier zwei Personen?

    „Wer zum Teufel bist du?"

    Stille. Diese Stille war genauso beklemmend wie die Dunkelheit. Ich konnte spüren, wie mein Herz in meiner Brust hämmerte. Auf der Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt betastete ich meinen Körper. Er fühlte sich genauso dürr an wie immer. Ich spürte mein Schlaf-Shirt, versuchte mich zu beruhigen und stellte es mir vor. Ein weißes, viel zu großes T-Shirt mit der Aufschrift „Nicht herzlos sein". Zwei Robben waren darauf abgebildet. Doch meine schweißnassen Hände und das Rauschen in meinen Ohren ließen sich nicht vertreiben, selbst mit den niedlichsten Seerobben der Welt nicht. Ich schloss die Augen und riss sie sofort wieder auf. Die Dunkelheit blieb. Sie war eiskalt. Ich träume. Es ist schwachsinnig Angst zu bekommen. Wenn man träumt, dann ist man vollkommen sicher, auch wenn man das Gefühl hat aus dem vierundachtzigsten Stock eines New Yorker Wolkenkratzers zu fallen. Ich war noch nie in New York. Auf diesen Gedanken konzentrierte ich mich. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nicht aus dieser Dunkelheit und in einen schöneren Traum gelangen. Die Minuten verstrichen, bis mir endlich auffiel, dass die Stimmen ihre Frage noch nicht gestellt hatten und mir auch noch nicht verraten hatten, wer sie waren.

    „Deine Frage? Willst du die heute noch stellen?", fragte ich laut und deutlich.

    Interessant, ich konnte mich wieder hören. Seltsamer Traum.

    Inzwischen war ich genervt.

    „Du musst noch viel lernen. Eins müssen wir von vorneherein klarstellen. Du bist mein Spielzeug! Dir steht es nicht zu, genervt zu sein!", zischte die männliche Version der Stimme.

    Sie lies mich erschaudern. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals solche Angst gehabt zu haben. Doch es war ein Traum. Ein Albtraum zwar, aber sicher. Mir konnte nichts passieren.

    Also überwand ich mich und zischte zurück: „Komm auf den Punkt!"

    Ein Ruck durchfuhr mich und Schmerz, unglaublicher Schmerz. Ich konnte nicht denken. Mein Körper brannte, jede Nervenfaser in ihm stand in Flammen. Ich schrie und diesmal hörte ich mich. Die Stimme lachte, kalt und hämisch. Schmerz. Überall Schmerzen. Die Stimme oder die Stimmen schienen sich an meinen Qualen zu weiden. Doch das Blut pochte so laut in meinen Ohren, dass ich nichts mehr richtig hören konnte. Nach einer Ewigkeit verlangsamte sich mein Puls wieder und das Rauschen ließ nach. Die Marter brach ab und die Qualen verebbten, meine Sinne konnten sich wieder auf die Stimmen konzentrieren. Doch ich hörte nichts mehr. Ich lag einfach nur da auf einem harten Untergrund, der so gar keine Ähnlichkeit mit meinem Bett hatte. Ich war mir sicher, dass ich alle meine Sinne wieder hatte. In einem Traum stirbt man keine tausend Tode. Das konnte kein Traum sein.

    „Eine Frage: Glaubst du an Gott?, fragte die Frauenstimme zuckersüß „oder an Götter, fügte die tiefe, männliche Version der Stimme hinzu.

    Ich saß mit zwei Psychopathen in einer namenlosen Dunkelheit fest. Ich versuchte meinen Oberkörper aufzurichten, jetzt da ich wieder etwas spürte. Doch der Nachhall der Schmerzen hielt mich zurück und drückte mich beständig zu Boden.

    „Antworte!", schrie die schrille Stimme.

    Verstört hörte ich mich „Nein" japsen.

    Ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen.

    „Einen schönen Tag in der Schule wünsche ich dir."

    Plötzlich war alles hell. Ich kniff die Augen zusammen, um mich an den Unterschied zu gewöhnen. Gierig saugte ich die Luft ein, sie roch nach Hund und nach Zigaretten. Zuhause, sofern ich es so nennen konnte. Ich war zurück, ich war wieder wach. Jedes Detail meines Traumes konnte ich mir in Erinnerung rufen, wirklich jedes, doch als ich mich recken und strecken wollte, musste ich feststellen, dass ich wirklich nicht geträumt hatte.

    Mein Körper fühlte sich wie gerädert. Schon beim ersten Versuch, meine Arme nur zu heben, gab ich ein qualvolles Stöhnen von mir. Meine Haut spannte und brannte, als wollte sie reißen. Meine Arme waren voller Brandmale, die sich von den Handgelenken spiralförmig bis zu den Schultern hochzogen. Dass meine Unterarme wehtaten, daran war ich seit drei Tagen gewöhnt. Aber nicht so. Panisch suchte ich mit den Augen die Bettdecke ab, weil ich es nicht wagte mich zu bewegen. Doch es war kein Brandfleck zu sehen. Auch mein weißes Robben T-Shirt wies keine Anzeichen eines Feuers auf, aber ich konnte ganz deutlich sehen, dass die Brandmale unter den Shirt-Ärmeln weitergingen. Meine Haut war an den spiralförmigen Striemen aufgeplatzt. An einigen Stellen sah ich nur kleine Brandblasen, an anderen aber glänzte das Fleisch zum Teil tiefrot. Ich konnte gar nicht mehr unterscheiden, welche Wunden von dem Messer stammten und welche von den Verbrennungen. Mit solchen Verletzungen musste ich unbedingt wieder ins Krankenhaus. Ich versuchte aufzustehen, doch ich konnte die Schmerzen nicht aushalten, die die Verbrennungen mit sich zogen. Ich war erstaunt, wie ruhig ich blieb. Es tat weh, höllisch sogar, aber ich verspürte weniger Panik, als in dieser boshaften Dunkelheit.

    „Papa", rief ich laut.

    Aber keiner kam, etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Nicht, weil er mich nicht lieben und mir zur Seite stehen würde, wenn er den Ernst der Lage realisieren konnte, meistens fehlte ihm dafür einfach die nötige Klarheit. Außerdem musste er sich auch erst einmal wieder daran gewöhnen, ein Vater zu sein. Lange genug hatte er es von sich geschoben. Wimmernd versuchte ich mich zu bewegen und brach unter einer neuen Welle von Schmerzen zusammen. Ein Schrei musste mir entfahren sein, denn im nächsten Moment stürzte meine Schwester ins Zimmer.

    „Alice, was ist los?"

    Tränen strömten über mein Gesicht und ich streckte ihr unwillkürlich die schmerzenden Arme entgegen. Im nächsten Moment staunte ich, dass mir diese Bewegung gelungen war.

    „Hast du wieder von Mama geträumt?" Megan setzte sich neben mich und schlang ihre Arme um mich. Mir entfuhr der nächste Schrei. Megan ließ mich augenblicklich los und musterte mich eingehend. Sie schien die neuen Verletzungen überhaupt nicht zu sehen. Warum rief sie denn keinen Krankenwagen? Warum war sie denn nicht schockiert? Meine Augen waren mit Tränen gefüllt. Ich konnte nur schemenhaft Megans blonde, lange Haare sehen, die ihr über die Schulter fielen.

    „So schnell werden wir sie nicht verstehen und glaub mir, du bist alt genug, ohne deine Mama zu leben. Sie ist diejenige, die alles kaputt gemacht hat, frag mich nicht, warum. Sie ist krank, du musst das nicht auf dich beziehen. Vielleicht können ihr die Ärzte ja helfen..."

    Sah Megan überhaupt nicht, dass ich am ganzen Körper verbrannt war?

    „Sieh", blaffte ich sie an.

    Megan sah auf meine Arme und fuhr mit den Fingern über meine rosaroten Verbrennungen am Handgelenk. Unter Ihnen konnte man nur schemenhaft die Messerschnitte erahnen.

    „Ich weiß", seufzte sie.

    Rasch riss ich die Arme weg, bevor ich wieder aufschreien musste. „Alli, wir müssen jetzt nach vorne blicken. Ich kann es auch noch nicht glauben, was Mama gemacht hat. Aber wir müssen uns mit den Tatsachen abfinden. Die Wunden werden verheilen und sie werden zu Narben. Mama hat das niemals mit Absicht getan."

    „Megan! Ich bin am ganzen Körper verbrannt, sag Papa er soll mich ins Krankenhaus bringen!"

    „Hast du Fieber? Da ist nichts, nur deine Schnitte. Warum sind die eigentlich nicht mehr verbunden?", fragte sie mit einem Anflug von Ärger.

    Empörung breitet sich in mir aus, wie konnte sie mir nicht glauben?

    „Ich bin verbrannt heute Nacht", schrie ich sie an.

    „Hörst du dich eigentlich reden? Du laberst nur Mist und nun beweg dich endlich mal aus deinem Bett, du kannst nicht noch länger in der Schule fehlen. Alle haben ja Verständnis für dich, aber wir müssen funktionieren, Alli. Papa wird damit sonst auch nicht fertig."

    Mit diesen Worten ging Megan Richtung Tür und schaute mich noch einmal mit einer Mischung von Mitleid und Ärger an. Sie knallte die Tür zu.

    „Die kann man auch leise zumachen!", fauchte ich ihr hinterher.

    Ich konnte das alles nicht begreifen. Immer wieder glitten meine Finger zaghaft über die verbrannten Stellen. Doch mit jeder Minute wurde der Schmerz erträglicher. Ich betrachtete nochmals die spiralförmigen Male. Wenn mich nicht alles täuschte, wurden die dunkelroten Stellen immer heller. Die schlimmsten Wunden sahen schon gar nicht mehr so tief aus. Vielleicht bildete ich mir das alles wirklich nur ein. Megans Worte ärgerten mich maßlos. Ich musste stark sein? Nach allem, was wir durchgemacht haben, muss ich stark sein für den Vater, der sich die letzten Jahre einen Scheißdreck um uns gekümmert hat? Der sich zugesoffen hat. Jedes Wochenende hier haben wir ihn kaum zu Gesicht bekommen. Vater . . . tzz . . . ein Vater war er schon lange nicht mehr für mich gewesen. Für den reiße ich mich garantiert nicht zusammen.

    Zum Glück war ein Lichtschalter gleich neben meinem Bett. Ich schaltete ihn aus, sodass mein Zimmer in ein helles Dämmerlicht getaucht wurde. War ich gestern mit Licht eingeschlafen? Was hatten die Stimmen gesagt? Ich durfte bestimmen, was aus der Menschheit werden sollte? Ich rief mir noch einmal die Fragen in Erinnerung. Warum fragen mich Stimmen im Traum, ob ich an Gott glaube? Vielleicht hat ja Gott höchstpersönlich zu mir gesprochen, um mir mitzuteilen, dass ich die Arschkarte gezogen habe. Was für ein Schwachsinn. Ich schnaubte.

    „Gott", murmelte ich.

    Die Schmerzen wurden immer besser. Ich wagte es, mich ganz langsam auf den Bauch zu drehen, was zwar gelang, doch mich überkam eine alles betäubende Erschöpfung. Das Brennen verblasste. Die Müdigkeit und Erschöpfung kroch in all meine Glieder. Meine Haut spannte und ziepte ein bisschen, aber das ließ sich verkraften. Mich umfing wieder Finsternis. Aber diesmal war es eine warme, erlösende Dunkelheit.

    Etwas Feuchtes berührte mein Gesicht. Langsam nahm ich schlabbernde und grunzende Geräusche wahr.

    „Ach, Kaja!", stieß ich verärgert aus.

    Das niedlichste Geschöpf der Welt saß vor mir. Abwesend glitten meine Finger durch Kajas kurzes hellbraunes Fell. Madame war zwar der Größe nach wirklich kein Schoßhund, trotzdem genoss ich es, wenn sie zu mir ins Bett kam und kuschelte. Allmählich kam die Erinnerung an mein schmerzhaftes Erlebnis von heute Nacht wieder und an das unangenehme Gespräch mit Megan. Aufgeschreckt begutachtete ich meine Arme. Sie schmerzten immer noch, aber ich konnte so gut wie nichts mehr an ihnen erkennen. Mich beschlich das Gefühl, dass ich verrückt würde.

    „Wo warst du eigentlich heute Morgen?", fragte ich an Kaja gewandt.

    Sie antwortete mit einem Niesen. Vermutlich war sie im Keller bei Papa gewesen, denn der steckte dem Hund oft Leckerlies zu. Die sollte er mal lieber selber essen, bei seiner Figur. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich die ersten drei Schulstunden verschlafen hatte. So konnte man nun wirklich kein Abitur machen, das war mir durchaus klar, aber ich war noch nicht wieder bereit in die Schule zu gehen. Ich bewunderte Megan dafür, dass sie das konnte. Nach dem Vorfall waren wir ins Krankenhaus gebracht worden. Von dort hatte Papa uns abgeholt. Vor zwei Tagen dann hatten wir unsere ganzen Klamotten aus unserem Haus geholt, aus meinem Zuhause, das ich hier nicht mehr hatte. Papa hatte kaum ein Wort mit uns gesprochen. Ich konnte sein schlechtes Gewissen uns gegenüber kaum ertragen. Seit dem Vorfall wollte ich nur noch in Ruhe gelassen werden. Daran hielt sich aber leider niemand. Megan ließ mich kaum alleine, sodass ich sie am Montag ‚zwang‘ wieder zur Schule zu gehen – ich konnte es einfach nicht. Heute war Mittwoch. Ich verpasste viel Lernstoff, das wusste ich. Bald sollten die Vorabiturklausuren geschrieben werden. Ich ließ mich ins Bett zurückfallen. Das waren Gedanken, die mich im Moment überforderten.

    Der Traum. Konnte es sein, dass ich alles nur geträumt habe und Megan auch zum Traum gehört hat? Aber wie kann ich mir dann die Schmerzen erklären? Auch jetzt noch spannte die Haut an meinen Armen und war empfindlich. Außerdem, warum sollte ich so etwas träumen? Es ist völlig zusammenhangslos. Ich mache mir nie Gedanken über Gott oder Götter. Ich kann mir einfach nicht erklären, warum mir die Stimmen so eine blöde Frage gestellt haben. Ich glaube nicht an sowas. Schwer vorstellbar, dass dort oben im Himmel ein graues, altes Männchen sitzt und sich das ganze Leid hier auf der Erde anschaut. Solche Themen und Fragen gehörten nicht zu meiner Welt, ich kannte noch nicht einmal die ganze Bibel.

    Ich stand langsam und vorsichtig auf. Zuerst betrachtete ich eingehend meine Beine. Heute morgen, hatte ich nur die Arme gesehen. Da ich von den Schmerzen beinahe Ohnmächtig geworden war, war ich mir nicht sicher, ob noch andere Körperteile betroffen waren. Dies schien nicht der Fall zu sein. Also zog ich mir eine alte, etwas mitgenommene Jeans an und streckte mich. Selbst das stimmte mich traurig.

    Ich hörte Mamas Stimme in meinem Ohr: „Alli, zieh doch mal was Vernünftiges an."

    Das Strecken tat ganz schön weh. Jetzt sah man zwar nichts mehr, aber meine Haut fühlte sich immer noch wund an. Kaja brachte mir meine Hausschuhe und ich schlurfte im Schneckentempo in die Küche hinunter, goss mir ein Glas Orangensaft ein und schmierte mir eine Scheibe Nutellabrot. Eigentlich sollte ich wieder ein wenig auf mein Gewicht achten, ich war wirklich zu dünn, also bereitete ich noch zwei weitere Stullen vor. Irgendwann hörte ich Schnaufen und Stampfen und Papa begab sich in die Küche. Er stampfte nicht, weil er dick gewesen wäre, sondern, weil er den Boden unter seinen Füßen nicht mehr gut spürte. Leider gehörte er zu der Sorte Mann, „bloß keinen Arzt. Heilt alles von selbst." – unwahrscheinlich bei einem Alkoholproblem.

    „Na, was los Wutzel, gar nicht in der Schule?"

    „Nee", murmelte ich.

    Ich betrachtete Papa. Ein wirklich beachtlich großer, hagerer Mann, fast siebzig, kaum noch Haare auf dem Kopf. Die Falten hielten sich noch in Grenzen. Er zündete sich eine Zigarette an und sofort stieg mir dieser widerliche Geruch in die Nase und mir wurde schlecht. Nicht einmal darauf hatte er in den letzten Tagen Rücksicht genommen. In diesem Haus stank einfach alles nach Rauch. Zwar war ich in diesem Haus groß geworden, aber dennoch war es nicht mein Zuhause. Seit der Scheidung hatte Papa sich immer mehr gehen lassen. Er trank und rauchte und kümmerte sich nicht um das Haus. Mama hatte hier, als wir klein waren, immer alles so schön dekoriert und der Garten war eine wahre Pracht gewesen. Sie fehlte mir schrecklich.

    „Ich geh’ mit Kaja", gab ich ihm als Information und verließ den Raum.

    Als ich die Leine in die Hand nahm, lief Kaja schnell auf mich zu und wuselte mir um die Beine. Sie sprang freudig an mir hoch und plumpste immer wieder unbeholfen auf den Boden. Kaja hatte eine wirklich schlechte Koordination für einen Hund. Die Außentemperatur betrug höchstens sechs Grad, es war also noch ziemlich kalt, aber ein paar Sonnenstrahlen schafften doch den Weg auf mein Gesicht, während der Matsch unter meinen Schuhen schmatzte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon nach eins war. Anscheinend war ich bereits seit einer Stunde mit Kaja unterwegs. Gedankenlos durch die Gegend laufen, gehörte bei mir zur Tagesordnung, es war die einzige Möglichkeit für mich, den Kopf zu leeren. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und wählte Megans Nummer, sie würde jetzt Schulschluss haben.

    „Hi Meg, kannst du mir sagen was heute Morgen passiert ist?"

    „Hey Alice, warst du in der Schule?"

    „Nein, ich bin wieder eingeschlafen."

    „Alice, es ist echt nicht meine Aufgabe dich zu bemuttern, aber da Papa ja anscheinend keinerlei Erziehungsmethoden hat, bleibt mir kaum was anderes übrig, als dir zu sagen, dass du zur Schule gehen musst. Du bist achtzehn! Benimm dich doch mal so! Ein Abi bekommt man nicht geschenkt."

    „Ich weiß, du machst dir Sorgen, aber mir ist heute Morgen wirklich was ganz komisches passiert. Wir haben doch heute Morgen geredet, oder? Ich war wach, oder?

    Megan hörte sich mittlerweile wirklich besorgt an: „Du hast irgendetwas von Verbrannt-Sein gestammelt, du hast geschrien, als wenn du sonst was für Qualen erleiden musst. Du hattest aber gar nix! Nicht mal einen blauen Fleck."

    „Mhm …Wenn ich dir nun sage, dass meine Haut immer noch brennt und ich Schmerzen habe und heute Morgen aufgewacht bin und mein ganzer Körper aussah als wäre ich auf einem Scheiterhaufen gelandet, würdest du mir dann glauben?"

    „Alice, wir reden heute Abend mal mit Papa, es ist, glaube ich, echt besser, wenn du dich in therapeutische Behandlung begibst. Du scheinst mit Mamas Verhalten nicht fertig zu werden." Und mit diesen Worten legte Megan auf.

    Ich wusste, dass sich alles, was ich sagte, ziemlich wirr und seltsam anhörte, aber ich wurde das Gefühl einfach nicht los, dass ich letzte Nacht mit etwas Realem konfrontiert worden war, vielleicht doch einem Gott oder irgendetwas Übermächtigem, das aus einem Fantasybuch entsprungen war. Egal was es gewesen war. Es war gefährlich und nicht mehr ganz dicht. Oder ich bin nicht ganz dicht. Immerhin habe ich verschiedene, grausame Stimmen gehört. Ich schaute Kaja zu, wie sie über die Felder wetzte und einen überdimensionalen Stock aus dem Bach holte. Neben diesem Stock wirkte sie um die Hälfte kleiner. Für heute reichte es erst einmal mit dem Spazierengehen. Ich konnte den Rest des Tages nutzen, um irgendetwas Sinnvolles zu tun. Lernen zum Beispiel oder Hausaufgaben machen. Zumindest einmal fragen, was für Hausaufgaben wir aufbekommen hatten. Warum die Lehrer sich in der Oberstufe noch die Mühe gaben, noch etwas aufzugeben, war mir schleierhaft, die meisten machten ihre Hausaufgaben eh nie. Ich konnte mich davon nicht freisprechen. Die vielen Nachrichten auf meinem Handy waren wie eine Anklage.

    Ich schaffte es kaum, mich bei jemanden zu melden. Seit ich klein war, hatte ich eine eingeschworene Clique. Und alle machten sich natürlich Sorgen. Jeder hatte die fette Schlagzeile in der Zeitung gesehen. Ich stieß meine Freunde mit meiner Eigenbrötlerei vor den Kopf, das war mir klar, aber ich wollte mich den Gesprächen noch nicht stellen. Die meisten Nachrichten waren von Toby, meinem allerbesten Freund. Mein Freund mit dem ich Schlammkuchen gebacken hatte und den ich im Kindergarten geheiratet hatte. Ihn musste ich anrufen. Seit dem Vorfall hatte ich nur einmal kurz mit ihm gesprochen und auch da hatte er mich angerufen – außerdem hatte ich ihn bald abgewimmelt und ihm quasi verboten, mich besuchen zukommen. Als ich Zuhause war und in meinem Zimmer saß, wählte ich mit zitternden Händen seine Nummer. Ich hatte Angst, dass ich der Situation, über all das sprechen zu müssen, noch nicht gewachsen war.

    „Hey-ho, ich wollte nur mal fragen, ob wir was in Deutsch aufhaben", schallte meine Stimme mit aller Fröhlichkeit durch das Telefon, die ich aufbringen konnte.

    „Hey Alli, du lebst noch?", tastete sich Toby vor.

    Ich genoss es, eine meiner Lieblingsstimmen zu hören. Toby war wirklich meine bessere Hälfte, mein allerbester Freund und egal, wie schlecht es mir ging, er munterte mich immer wieder auf. Allerdings war die bessere Hälfte schon seit dem Sandkasten in mich verliebt – es gab Phasen, da war es erträglich und dann wieder war er unangenehm offen. Ich konnte ihn aber auch nicht missen. Toby würde fast alles für mich tun.

    „Ja, ähm …", stammelte ich.

    Meine aufgesetzte Fröhlichkeit zerbröckelte.

    „Alli, soll ich mal zu dir kommen?"

    „Nein", wehrte ich sofort ab.

    „Ich weiß, dass du unangenehme Sachen lieber totschweigst, aber sperr mich nicht aus, Alli", sagte Toby verständnisvoll.

    „Tu ich nicht", verteidigte ich mich.

    „Dann komm zur Schule. Wir machen uns alle Sorgen um dich. Lass uns für dich da sein."

    „Ich will aber nicht, dass irgendwer für mich da ist", blaffte ich ihn mit zitternder Stimme an.

    „Alli, du musst so oder so wieder zur Schule. Du brauchst das Abi und die Lehrer fragen schon nach dir. Wie lange willst du dich verkriechen?", fragte er nun etwas fordernder.

    Ich verstand nicht, warum Toby das machte. Er wusste ganz genau, dass ich dicht machte, sobald man mich in die Enge trieb.

    „Ach, ihr macht mir alle immer nur Vorwürfe. Megan auch schon die ganze Zeit. Ist schon schlimm genug, dass meine zwei Jahre jüngere Schwester wirklich alles besser wegsteckt als ich." In meinem Tonfall schwang eine gehörige Portion Wut mit.

    „Alice, … wir vermissen dich. Die alte Alice, die immer lacht und auch immer brav in die Schule gekommen ist. Wir machen uns nur Sorgen, dass du dich zu doll verkriechst und da gar nicht mehr raus kommst. Komm doch bitte morgen in die Schule."

    „Ja, … morgen bin ich am Start, versprochen. Kannst du mir sagen, was wir in Mathe aufhaben? Ich werd‘s eh nicht können, aber dann kann ich vielleicht wenigstens Fragen stellen", bat ich schon viel versöhnlicher.

    „Seite dreiundsechzig Nummer zwei und sechs. Wir können uns aber auch morgen in der Mittagspause zusammensetzen und ich zeige dir, wie das alles geht. Wir können auch zum Chinesen, was zu essen holen."

    „Ja, mal schauen. Weiß nicht, wonach mir morgen der Sinn steht. Haben wir noch was in Deutsch auf?"

    „Keine Ahnung, Alli. Ich pass da nicht so auf. Ist doch eher dein Fach."

    „Gut, dann bis morgen", würgte ich ihn ab.

    „Tschü..", hörte ich noch Tobys Ansatz einer Verabschiedung.

    Zu mehr Kommunikation war ich heute nicht in der Lage. Ich wusste, dass Toby früher oder später hier auftauchen würde, wenn ich nicht in die Schule kam. Die Aufgaben überflog ich nur schnell, lösen konnte ich in Mathe schon lange nichts mehr, ich hatte dieses Semester komplett den Faden verloren, das lag noch nicht mal an meiner Mutter. Also kuschelte ich mich schon um achtzehn Uhr in mein warmes Bett, um Megan und meinem Vater heute Abend zu entgehen. Zum Glück hatte Megan nach der Schule meistens noch etwas vor. Sie spielte Basketball in der Schulmannschaft, die beinahe jeden Tag trainierte. Sobald ich im Bett lag und krampfhaft versuchte zu schlafen, kreisten meine Gedanken wieder um den heutigen Morgen. Die verschiedenen Stimmen spukten mir im Kopf herum wie Geister. Ich bekam sie einfach nicht aus meinen Gedanken. Ich musste mir eingestehen, dass ich ein wenig Angst hatte, zu schlafen. Ich verstand die Frage nach dem Glauben auch überhaupt nicht. Selbst, wenn es ein Traum gewesen war, wie kam ich darauf, von Religion, Glaube oder Gott zu träumen? Papa zahlte zwar Kirchensteuer und ich war zumindest getauft, aber …

    Einmal waren wir zu Weihnachten mit Mama in die Kirche gegangen, aber auch nur weil ihre Freundin dorthin ging. Mama hatte auch keinen Funken Religiosität in sich. Ich musste lächeln, als ich mich daran erinnerte, dass sie damals vor der Kirche so böse ausgerutscht und auf dem Allerwertesten gelandet war. Wir wollten zu der Krippenspielaufführung und die Treppe vor der kleinen Dorfkapelle war ganz vereist gewesen. Mama ließ es sich nicht nehmen, sich hübsch zu machen, doch mit ihren hochhackigen Schuhen war sie auf einer glatten Stelle ausgerutscht. Danach konnte sie vier Tage lang nur noch auf weichen Kissen sitzen. Warum gingen die Leute überhaupt in die Kirche? Was war Glaube eigentlich? Ich spielte mit der Versuchung, den PC anzumachen, um Gott oder Glaube zu googeln. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit zu groß, dass Megan und Papa gerade dann hochkamen. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen, Megan war Zuhause. Sie ging hinunter in den Keller. Der Keller war das Reich meines Vaters. Man fand ihn fast immer dort unten, auf seinem großen Sessel, vor diesem riesigen Schreibtisch. Manchmal fragte ich mich, was er als Rentner den ganzen Tag dort unten trieb. Er war einmal Steuerberater gewesen und hatte unter anderem für die beste Firma der Stadt gearbeitet. Damals hatten wir noch Geld. Eine gefühlte Stunde später klopfte es an meiner Tür. Ich tat so, als ob ich schliefe. Das war um diese frühe Uhrzeit zwar ziemlich ungewöhnlich, aber ich konnte mich gut schlafend stellen. Megan betrat das Zimmer.

    „Alice", flüsterte sie.

    Ich bemühte mich verschlafen zu stöhnen. Die Tür schloss sich wieder. Ich hörte wie Papa und Megan unten stritten. Irgendwann knallten Türen und ich versank in einem unruhigen Schlaf.

    2. Viele Persönlichkeiten

    „Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgetan."

    (Friedrich Wilhelm Nietzsche)

    Ich fühlte mich sofort pudelwohl. Ein Feuer brannte im Kamin. Alles wirkte kuschelig und mollig-warm. Ich saß auf einer durchgesessenen Couch und vor mir stand ein Becher. Auf einem niedrigen Holztisch befand sich eine Kanne mit Tee. Mir gegenüber stand ein Sessel, dessen Rückenlehne mir zugewandt war und auf dem Boden lag eine ungeheure Zahl verschiedener bunter Teppiche. Entspannt ließ ich mich in die Couch zurücksinken und schloss die Augen. Ich konnte das warme Feuerspiel auf meinem Gesicht spüren. Komisch, eigentlich hätte das unangenehm sein müssen, angesichts dessen, dass ich mich gerade noch von Kopf bis Fuß verbrannt gefühlt hatte. Ich stutzte. Irgendetwas hatte hier doch eben gequietscht. Es hatte sich angehört, wie wenn jemand mit Fingernägeln über eine Schultafel kratzte.

    „Hallo Alice, ich habe dich erwartet", ertönte eine sanfte Männerstimme, sie glich der von gestern Nacht, nur in freundlich.

    Ich schreckte von der Couch hoch und stellte mich hinter sie. Dem Frieden hier war nicht zu trauen.

    „Na-nu, hast du etwa Angst vor mir? Ach ja, entschuldige mein schlechtes Benehmen gestern Nacht."

    „Wer … wer ... bist du"? stammelte ich.

    „Ach, ich bin alles was ich sein möchte, die entscheidendere Frage ist, wer möchtest du bei meinem Spiel sein?"

    Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter und meine Finger krallten sich in die Lehne der alten Couch.

    „Ich will nicht spielen", sagte ich mit fester Stimme.

    Ich erwartete wieder die Griffe aus Feuer, doch sie blieben aus.

    „Nun sei doch nicht so spießig. Vielleicht habe ich mir doch die Falsche für meine Aufgabe ausgesucht. Weißt du, wer ich bin?"

    Seine Stimme klang amüsiert und flößte mir eine ungeheure Furcht ein.

    „Nun setz´ dich wieder hin. Dann drehe ich auch den Sessel herum, sodass du mir in die Augen sehen kannst", fügte er hinzu, als ich nichts erwiderte.

    Ich gehorchte und setzte mich auf die Couch zurück, die leise ächzte. Der Sessel, ein hässlicher, grün-gelber Ohrensessel, rotierte langsam um seine Achse und quietöschte bestialisch.

    Ich hatte wirklich alles erwartet, von einem Baby bis zu einem alten Mann, von mir aus auch eine Frau mit Männerstimme, doch vor mir auf dem Sessel saß ein Meerschweinchen. Ich musste losprusten, ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Ich Narr hatte solch eine Angst gehabt. Dort saß ein quietschgelbes Meerschweinchen, das mit mir spielen wollte. Nach einem bestimmt zehnminütigen Lachanfall, starrte ich das Meerschweinchen einfach nur noch an. Von der Nasenspitze bis zum Stummelschwanz war es gelb wie ein Küken mit zwei schwarzen Knopfaugen. Es sah niedlich aus.

    „Na, bist du endlich fertig, ich wusste doch, dass du das lustig finden würdest. Dir wird das Lachen schon noch vergehen, das schwöre ich dir", drohte die Männerstimme.

    Die Drohung kam jedoch nicht wirklich bei mir an.

    „Was möchtest du denn spielen?", prustete ich erneut.

    Was für ein Traum, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte nur kurz einen Blick zum Kaminfeuer geworfen, doch als ich mich wieder dem Ohrensessel zuwandte war dieser leer. Verwundert schaute ich mich um. Ich beugte mich vor, um unter dem niedrigen Holztisch nachzusehen. Vielleicht war das Meerschweinchen herunter gesprungen.

    „Wo bist du? Komm spielen", rief ich amüsiert unter den Tisch.

    Plötzlich tippte mir etwas Hartes auf die Schulter.

    „Hier oben, Madame", sagte eine gebrechliche, alte Stimme.

    Und in der Tat, vor mir stand ein sehr alter Mann mit graublauen Augen, einem langen, glatten Bart und schütterem, weißen Haar. Er stützte sich auf einem Stock ab und hinkte hinüber zum Sessel, wobei sein lumpenähnliches, graues Gewand um seine dürren Beine baumelte. Es sah aus, als hätte er ein viel zu großes, seit Jahren nicht gewaschenes Nachthemd an. Er erinnerte mich an den griesgrämigen, alten Mann aus der Weihnachtgeschichte. Sein Mund verzog sich zu einem belustigten Lächeln, als er meinen verdatterten Gesichtsausdruck sah.

    „Tee?", fragte er freundlich.

    Mein Blick schwankte unsicher durch den Raum. Mir fiel auf, dass er keine Tür besaß. Wo war der alte Mann hergekommen?

    „Kann ich dir trauen?", erwiderte ich.

    Meine Gedanken waren nicht mehr zu ordnen und kreisten in diesem Raum wie ein kleiner Wirbelsturm. Es störte mich, dass ich keinen Fluchtweg hatte. Zuerst waren da Stimmen, die mir Schmerzen zufügten, dann ein Meerschweinchen, das sich dafür entschuldigt, nun dieser alte Mann. Wie passte das alles zusammen? Waren sie Eins? Die Stimme von gestern gehörte auf jeden Fall zum Meerschweinchen, auch wenn sie heute ansatzweise freundlich gewesen war und gestern kalt und hämisch, war sie dennoch unverkennbar gewesen. Was, wenn dieser alte Mann noch gefährlicher war, als das Ding von gestern? Den Alten würde ich eigentlich problemlos niederschlagen können müssen – mal abgesehen davon natürlich, dass das nun gar nicht zu meinen moralischen Vorstellungen passte, aber die vergas man in Notsituationen sowieso. Ich wusste nicht ganz warum, aber dieser alte Mann flößte mir nicht wirklich Angst ein. Dennoch wäre es mir sehr lieb gewesen, einen Fluchtweg zu haben.

    „Also den anderen vielleicht nicht, aber mir schon, ich passe nämlich auf alle auf", riss er mich aus meinen Gedanken.

    „Wie meinst du das, ‚du passt auf alle auf‘?"

    „Ich Dummerchen, du bist noch gar nicht eingeweiht", murmelte er eher zu sich selbst als zu mir.

    „Worin eingeweiht?" Das Ganze wurde mir zu dumm. Auf diesen Traum hatte ich keine Lust mehr.

    Mit zitternder Hand goss sich der alte Mann Tee ein.

    „Gut, kannst du zuhören und mir nicht ins Wort fallen? Das finde ich immer so wahnsinnig respektlos und ich habe gesehen, dass du das gerne tust", sagte er in einem geschäftsmäßigen Tonfall.

    „Wie? Du hast das gesehen? Ich bin dir noch nie ins Wort gefallen! Wer zum Kuckuck bist du?"

    Ich war genervt und das sollte der Opa da ruhig merken.

    „Na na, Alice, ich kenne dich, seit du geboren bist. Du bist meine Schöpfung."

    Er fingerte mit seinen dürren Fingern in seinem Bart herum, strich sein Gewand glatt und betrachtete seine schlichte komplett weiße Teetasse. Sehr langsam nahm er einen Schluck und fuhr sich mit seiner freien Hand erneut durch den Bart. Er rutschte ein Stück zurück in seinem Sessel. Die Stille war unangenehm. Er schien sie regelrecht zu inszenieren. Er beugte sich erst vor, um die Teetasse abzustellen und lehnte sich dann langsam und bedächtig wieder zurück. Dann richteten sich seine grau-blauen Augen auf mich.

    „Ich bin Gott."

    Die Worte hallten selbst in dem kleinen, gemütlichen Raum wieder. Das Ganze war so wahrscheinlich, wie dass ich mein Abitur mit einer glatten Eins bestand. Dennoch legte sich eine bedrückende Stille über den Raum und füllte ganz langsam jede Nische. Meine Gedanken überschlugen sich. Meine Hände wurden schweißnass und ich begann nervös an meinem Schlafshirt zu nesteln. Bloß nicht zeigen, wie sehr mich diese Information aus dem Takt bringt.

    „Ja nee, ist klar, du bist eher eine Ausgeburt meiner Fantasie", durchbrach ich die Stille.

    Seine Miene wurde ernst. Er legte die Hände vor seinem Kinn zusammen und durch sein Gesicht zogen sich tiefe Furchen.

    „Ich warne dich, sei froh, dass ich hier bin und kein anderer. Ich bin Paul – und alle, die du noch kennenlernen wirst, sind Gott. Das Problem an der ganzen Sache ist, ‘wir’ sind ‘ein’ Gott. Im Moment habe ich wieder ein wenig Macht erlangt, doch meistens lässt ER mich nichts tun."

    „Wer ist ER?", hörte ich mich fragen.

    Ich verstand eigentlich kein Wort von dem, was Paul-Gott mir erzählte.

    „Du hast ihn gestern Nacht kennengelernt. ER ist mehr oder weniger ‚die Dunkelheit‘. ER wird sich dir nie vorstellen."

    „Gut, um ehrlich zu sein, bin ich auch nicht so erpicht darauf, ihn nochmals zu treffen."

    „Ich fange am besten von vorne an, solange wir Zeit haben. Lehn´ dich zurück, trink ein wenig Tee und hör einfach nur zu und bitte, bitte reiz´ mich nicht, sonst kommt ER. Und noch etwas ist ganz wichtig: erzähl ihm nie von mir oder von den anderen."

    Ich wurde einfach nicht schlau aus seinen Worten, doch ich beschloss lieber zu schweigen und zuzuhören. Wie bei einer Märchenstunde.

    Paul räusperte sich scheppernd. Ich wüsste gerne, wie alt er ist, aber ich frag‘ das besser nicht.

    „Es gibt eigentlich immer Götter. Wir leben so etwa zweitausend Jahre – manche ein wenig länger, andere ein wenig kürzer – aber in der Regel gibt es, auf die Jahre gesehen, meist nur einen Gott. Wenn wir so um die tausendachthundert Jahre alt sind, erschaffen wir uns einen Nachfolger. Wir lehren ihn bis zu unserem Tode und dann übernimmt er die –

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