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Die sanfte Spur des Schmetterlings
Die sanfte Spur des Schmetterlings
Die sanfte Spur des Schmetterlings
eBook305 Seiten3 Stunden

Die sanfte Spur des Schmetterlings

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Über dieses E-Book

Eine mystische Liebesgeschichte über Verrat, Rache und großer Liebe. Der Leser selber wird Teil der Geschichte und wird beginnen sein eigenes Leben neu zu sehen. Starke Gefühle und spannende Wendungen, die unbekannte Ereignisse zu Tage fördern.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Juli 2020
ISBN9783347088795
Die sanfte Spur des Schmetterlings
Autor

Oliver Grudke

Oliver Grudke: Dipl. Ingenieur in der Forstwirtschaft. Seit über 25 Jahren erfolgreich mit eigenem Ingenieurbüro an der Schnittstelle des Naturschutzes und der Forstwirtschaft. Oliver Grudke ist verheiratet und hat einen Sohn. Seit einigen Jahren hat er das Schreiben für sich entdeckt und verfasst Bücher in unterschiedlichen Genres. Mehr zu Oliver Grudke und seinen Büchern unter www.torsteine.de

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    Buchvorschau

    Die sanfte Spur des Schmetterlings - Oliver Grudke

    Es ist dunkel, feucht und kalt. Mir ist kalt und ich zittere am ganzen Körper. Das Gehen fällt mir schwer und doch fühlt sich die Last, die ich trage, mit jedem Schritt, den ich vorwärtskomme, leichter an. Auch wenn es schwerfällt, so will ich weiter. Wohin, das weiß ich nicht, will ich nicht wissen. Nur weg!

    Von was oder wem?

    Von allem, von denen, die mir Schmerzen bereitet haben. Und es gibt keinen, der es nicht getan hat. Keinen Unschuldigen, keinen, der eine reine Seele hat.

    Doch nun ist es mir egal und ich setze meinen linken Fuß noch ein Stück nach vorne. Die Luft ist dünn, doch ich bilde mir ein, den Duft von blühenden Wiesen zu riechen. Ich stelle mir eine solche Wiese vor. Der Wind weht leicht darüber und die großen Blüten nicken leicht dazu. Es ist still. Nur die fleißigen Bienen gehen sanft summend ihrem Tagwerk nach. Ich bilde mir ein, den Nektar, den diese Tierchen sammeln, riechen zu können.

    Wäre das möglich? Gibt es eine Zukunft für mich? Eine, wo der Frieden und die Liebe wohnen? Das wäre so schön. Doch meine Seele kann nicht mehr daran glauben. Die Verletzungen sind zu tief.

    Ich setze meinen rechten Fuß ein Stück nach vorne.

    Es kostet enorm viel Kraft. Wieviel werde ich noch davon haben? Wieviel kann ich noch davon aufbringen? Ich könnte ja auch einfach hierbleiben. Hier in der Dunkelheit und der Leere.

    „Nein", rufe ich aus. Noch ist das Feuer in mir, welches an das Gute und die Liebe glaubt, noch nicht erloschen. Auch wenn es keine Flamme mehr hat und eher einer dünnen Glut ähnelt. Noch kann ich die Wärme spüren und möchte weiter.

    Ich setze meinen linken Fuß nach vorne.

    Wieder habe ich ein Stück geschafft. Habe ich das? Ich weiß es nicht, aber ich versuche es. Versuche vorwärts zu kommen. Weg von all dem Dunkel, welches mich zu lange erdrückt hat. So lange, bis alles Leben aus mir entwichen war. Doch es war gut so. Dort gibt es nichts, was meine Seele nähren würde. Fast denke ich, es wäre besser, wenn es doch ein höheres Wesen gäbe, an das so viele glauben wollen. Dann könnte dieses Wesen seinen Fehler einsehen und all die Menschen vernichten.

    Alle?

    Nein, nur die schlechten! Allerdings habe ich nie einen anderen kennengelernt. Mit jedem Schritt, den ich mich nach vorne schleppe, wird mir dies klarer.

    Ich ziehe nun meinen rechten Fuß nach vorne. Dazu muss ich diesen schon mit beiden Händen unterstützen.

    Meine Kraft lässt nach. „Ach was soll es!", rufe ich in die Dunkelheit und lache. Wie dumm sind die Menschen und glauben an eine höhere Macht! Es gibt nichts. Nichts erwartet uns. Niemand wird uns helfen. Warum auch? Keiner war auf der Seite des Guten. Alle sind dem Bösen und dem Egoismus verfallen. Der Mensch ist ein Fehler. Doch was kümmert dies mich.

    Ich bleibe stehen, denn auch ich bin ein Mensch.

    Nicht besser, denn auch ich habe Fehler begangen. Keine schlimmen und doch war der Weg, den ich ging, oft krumm. Ich denke an meine Träume, die ich hatte, sie sind vergangen, so wie ich nun vergehen werde. Ich lehne mich an die glitschige Wand. Die Nässe durchdringt mein dünnes Hemd. Ich fühle mich müde und möchte schlafen.

    Für immer.

    Denn dann gäbe es keine Schmerzen mehr. Keine, die der Seele schaden können, denn dies sind die schlimmsten Schmerzen, die man erleiden muss.

    Die ich erlitten habe.

    Ich schmecke das Salz einer Träne auf meiner Zunge.

    Es wird das Letzte sein, was ich schmecke. Ich möchte die Tränen, die folgen, wegwischen. Doch plötzlich spüre ich, dass etwas auf meiner Hand sitzt. Ich hebe es hoch, obwohl es sehr anstrengend für mich ist. Auch ist es nicht mehr so dunkel und ich erkenne etwas. Meinen Augen fällt es schwer, doch ich strenge mich an. Und ich erkenne es! Es ist ein dunkelblauer Schmetterling. Er schaut mich an, als wenn er mich ermuntern möchte, weiterzugehen. Mit ihm weiterzugehen.

    Ich möchte das. Ich möchte ihm folgen in sein Land, wo alles so schön ist wie er. Ich strecke meinen Arm aus und er fliegt los. Langsam, aber konstant und es gelingt mir, ihm zu folgen. Meine Beine werden stärker. Es wird leichter und ich rieche den Duft einer Wiese.

    Nun sehe ich das warme Licht. Dort möchte ich hin. Gleich werde ich da sein und alles hinter mir lassen. All die Schmerzen und die Enttäuschung. Gleich werde ich im Licht sein und meine Seele wird sich entfalten und frei sein.

    Ich lächle und freue mich. Mein Herz macht einen Sprung. Ein frischer lauer Wind erfasst mich und mein Körper kommt zur Ruhe.

    Plötzlich höre ich eine Stimme.

    Sie ruft meinen Namen, doch ich möchte nicht zuhören. Nicht mehr! Zu lange habe ich getan, was man von mir erwartet hat. Das war gut, so lange ich diese Dinge geschafft habe. Als es nicht mehr ging, war ich der Versager.

    Deshalb möchte ich nicht mehr zuhören! Nie mehr! Ich werde weitergehen mit dem Schmetterling in das Licht!

    „Komm zurück!", sagt die Stimme, die ich schön finde.

    Wem gehört sie? Eine so schöne Stimme habe ich noch nie gehört. Ich beginne zu träumen.

    Doch das ist zu einfach. Ich gehe weiter.

    „Bitte, komm zurück! Du wirst gebraucht!", flüstert die Stimme und ich stelle mir das Gesicht einer Frau dazu vor. Eine, die mich liebt, so wie ich bin.

    Doch das gab es nicht, und wird es nie geben!

    „Nein!", rufe ich barsch und fast tut es mir leid, denn die Stimme ist sanft und ich möchte niemanden verletzen. Doch ich werde nicht zurückkommen.

    Nie!

    Der Schmetterling möchte, dass ich ihm folge.

    „Ich komme!", rufe ich ihm zu, als könnte er meine Worte verstehen.

    Vielleicht kann er es ja! Das wäre schön, doch so ist es nicht.

    „Ich weiß von deinem Schmerz und dem Unrecht, das dir angetan wurde!" Die Stimme klingt mitleidig. Ich mag kein Mitleid. Ich möchte nicht, dass man mit mir Mitleid hat. Ich möchte weitergehen. Es ist nur noch ein kurzes Stück.

    „Lass mich gehen!", rufe ich und schaue nicht zurück.

    „Du wirst gebraucht!" Die Stimme klingt besorgt.

    „Ha!, rufe ich überheblich. „Niemand hat mich je gebraucht, und niemand wird mich brauchen. Ich bin ein Versager!

    „Nein, deine Seele ist rein. Reiner als alle Seelen und dir wird die Aufgabe zuteil!"

    Ich höre schon fast nicht mehr zu. Ich werde keine Aufgaben mehr übernehmen. Dann werde ich auch nicht mehr verletzt.

    Nun ist es nur noch ein Schritt. Ich sehe blauen Himmel und sanfte Hügel. Der Schmetterling lächelt einladend. Und doch zögere ich! Warum? Es ist meine Seele, die noch nicht bereit ist.

    Doch warum? Was gäbe es, das noch nicht getan ist. Wer würde mich brauchen?

    Eine warme Hand greift nach der meinen. Es fühlt sich gut an. Lebendig.

    „Komm zurück, du wirst gebraucht!"

    Ich sage nichts. Kann nicht. Vielleicht möchte ich ja doch gebraucht werden. Aber vielleicht möchte ich die Augen kennenlernen, die zu der warmen Hand gehören. Das wäre schön.

    Doch die kalte Hand der Erinnerung packt plötzlich mein Herz, das gerade versucht hat, sich zu öffnen. Ich reiße mich los und drehe mich um. Es ist nur noch ein kleiner Schritt.

    „Dein Sohn braucht dich! Er ist in Gefahr! Ihm droht große Gefahr!" Die Stimme ist nun verzweifelt.

    Ich drehe mich um und folge der Stimme. Zurück in das Unbekannte.

    Zurück zu den Bösen.

    Zurück zu meinem Sohn!

    Doch ich habe keinen Sohn.

    Nie gehabt!

    Ich habe die Augen fest geschlossen. Warum? Weil da die Angst ist vor dem, was mich erwartet? Weil ich nicht bereit dazu bin, mich der Wahrheit und der mit ihr verbundenen Schmerzen zu stellen? Weil ich feige bin? Nicht besser als all die anderen?

    Vielleicht!

    Doch vielleicht ist es auch, weil man mit geschlossenen Augen die Dinge besser spüren kann. Alle anderen Sinne werden intensiviert.

    So spüre ich den leichten und warmen Wind, wie er sanft über meine Haut streicht. Ich rieche den Duft von frischem Heu, den er bei sich trägt. Ich höre das Rascheln der Blätter, mit denen er spielt.

    All das ist schön.

    Friedlich und schön.

    Ich weiß nicht, wo ich bin, auch weiß ich nicht, wer ich bin.

    Ich bin ich! Oder?

    Vielleicht, und vielleicht ist es anders. Bin ich anders.

    Doch der Duft, welcher der Wind mit sich trägt, ist der Duft des Sommers. Eines nicht zu heißen, angenehmen Sommers. Es ist mein Duft. Der Duft nach den Dingen, die ich mag. Nach einer Zeit, die schön war.

    War sie das?

    Ich bilde es mir ein, aber ich habe noch immer die Augen fest geschlossen. So kann ich mir Dinge vorstellen, die es vielleicht nie gegeben hat.

    Warum bin ich hier?

    Möchte ich überhaupt hier sein?

    Dinge sehen und erkennen, die mir weh tun?

    Sicher nicht und doch spüre ich, dass es wichtig ist, hier zu sein. Hier zu sein und Dinge so zu sehen, wie sie sind, wie sie waren. Die Erkenntnis wird nicht leicht sein. Sogar sehr schmerzhaft. Doch wenigstens bin ich nicht allein hier. Du bist bei mir.

    Ja, dich meine ich. Jetzt hast du das Buch und die Geschichte noch immer nicht weggelegt. Du bist noch immer bei mir. Das ist schön!

    Natürlich kenne ich dich nicht und noch kennts du mich nicht. Das können wir ändern. Es wäre ein Versuch wert. Ein Experiment. Möchtest du dich darauf einlassen? Antworte nicht zu schnell, denn wenn du mutig bist und mir folgen möchtest, musst auch du genau wie ich die Augen öffnen.

    Du wirst Dinge sehen, die du nicht für möglich gehalten hättest. Du wirst Schmerzen in deiner Seele spüren, die du nicht für möglich gehalten hättest. Du wirst dich einsam und allein fühlen.

    Doch nicht ganz allein, denn ich werde den Weg mit dir gehen. Wir können ihn gemeinsam gehen. Gemeinsam die Augen öffnen, gemeinsam unser Leben neu entdecken. Doch sei gewarnt: Am Ende wird dein Leben ein anderes sein. Du wirst erkennen, wie und wer deine Freunde sind. Und ob es überhaupt welche gibt. Du wirst dich gemeinsam mit mir auf die Suche nach der Liebe machen. Und ich kann dir nicht versprechen, dass wir sie finden werden.

    Du hast diese schon gefunden?

    Vielleicht! Vielleicht denkst du das auch nur, so wie ich es dachte. Und deshalb ist es auch vielleicht besser, die Augen nicht zu öffnen. Gehe den Weg, den du eingeschlagen hast, einfach weiter. Er könnte im Glück enden. Doch viel wahrscheinlicher ist es, dass eines Tages jemand dich zwingt, die Augen zu öffnen, und dann wird es noch mehr weh tun. Aber das ist nicht sicher und mit etwas Glück wirst du nie die Dinge sehen und spüren, wie sie wirklich sind.

    Es ist allein deine Entscheidung. Ich kann verstehen, wenn du das Buch weglegst und dein Leben so weiterlebst, wie du denkst, dass es ist.

    Es aber nicht ist.

    Auch ich würde am liebsten meine Augen ganz fest geschlossen halten und mir die Welt so vorstellen, wie ich es möchte.

    Wäre das nicht schön?

    Aber es wäre eine Lüge. Und ich mag keine Lügen. Du etwa?

    Also sind wir beide einfach mutig und öffnen nun die Augen. Bist Du bereit? Bereit, den Schmerz zu ertragen? Aber vielleicht auch die wahre Liebe und Freundschaft zu finden und zu spüren?

    Sind wir bereit für ein Experiment? Wir beide? Jetzt?

    Dann lass uns die Augen öffnen auf drei … zwei … eins …

    -----------------

    Die Sonne blendet mich. Mit meiner rechten Hand versuche ich meinen Augen etwas Schutz zu geben. Doch vielleicht möchte ich ja auch nur meine Hand wieder vor die Augen halten und mich so nicht den Dingen stellen, denen ich mich stellen muss.

    Muss ich?

    Habe ich eine Wahl?

    Hatte ich je eine?

    Ich möchte, dass es dieses Mal anders wird. Anders als es war und anders als man es von mir verlangt hatte.

    Einfach so, wie ich möchte.

    Wie ich bin.

    Doch bin ich hier auch so?

    Wo ist hier?

    Wer bin ich?

    Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht. Ich schaue nach oben, dort ist der Himmel so blau wie das Meer im Süden.

    Ist das so?

    Ich war noch nie im Süden. Ich habe es nur schon so gesehen. In Magazinen und Fernsehsendungen.

    Und es ist nicht der Himmel im Süden. Es ist kein fremder Himmel, der gemeinsam mit der Sonne versucht, sich immer wieder zwischen den im Wind spielenden Blättern eine Lücke zu suchen, sodass ich ihn erblicken kann. Nein! Ich kenne den Himmel und das Grün der kleinen herzförmigen Blätter der mächtigen Birken. Hier bin ich aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe geheiratet. Hier war ich gerne und eigentlich war ich nie weg.

    Nie, bis zu jenem Tag.

    Der Tag, an dem sich so vieles geändert hatte.

    Ich senke meinen Kopf und mein Blick fällt auf eine schwarze Teerfläche. Schwarz und leer. Dahinter steht etwas erhöht ein graues Gebäude mit bunten Fenstern aus Glas.

    Ich kenne das Gebäude, in dem sich nur Leid und Schmerzen widerspiegeln, und das Unausweichliche und Vergängliche.

    Ob auch ich dort war?

    An jenem Tag, an dem sich alles verändert hatte?

    Gemeinsam mit all jenen, die mich vermissen.

    Ob sie Tränen vergossen haben? Wegen mir? Weil ich gegangen bin?

    Mein Blick schweift weiter und trifft das schwarze Kreuz aus Metall, das alles überschattet. Überschattet mit seinen geschwungenen Formen, mit denen ein unbekannter Künstler versucht hatte, die harten und realen Dinge sanft erscheinen zu lassen. Doch das ist ihm nicht gelungen. Im Gegenteil, das dunkle, schwarze und kalte Kreuz strahlt ein Gefühl der Angst und der Bedrohung aus.

    Ein Geräusch lässt mich aus den Tiefen meiner Gedanken zurückkehren. Gerade noch rechtzeitig, bevor diese mich noch tiefer in den Abgrund gezogen hätten.

    Ein kleines silbernes Auto fährt auf den Parkplatz vor dem Friedhof meines Heimatdorfes. Es wirkt fremd, runder als ich die Autos in Erinnerung hatte.

    Eine große alte Frau steigt aus. Sie trägt einen dunklen Rock und eine dunkle Strumpfhose. Dazu eine ordentliche Bluse. Ihr Haar ist grau mit einem Stich violett. Sie wackelt angestrengt mit dem Kopf.

    Ich kenne die Frau.

    Sie trägt immer Röcke und ordentliche Blusen. Ihr Haar ist immer ordentlich, so wie ihr Haus und ihr ganzes Wesen. Sie ist eine der wenigen, die nie über jemanden schlecht geredet hätte und nie jemanden verurteilt hatte.

    Ich kannte sogar ihre Mutter.

    Alle hatten ihrer Mutter immer nur Schlechtes hinter hergesagt. Warum? Weil sie sie nicht kannten. Nie kennenlernen wollten. Weil sie oberflächlich und egoistisch sind. Eines Tages, ich mag so sieben oder acht gewesen sein, habe ich sie beobachtet, wie die alte Frau sich mit ihrer Einkaufstasche abmühte. Da beschloss ich ihr zu helfen und habe die Tasche bis nach Hause getragen. Die Frau war so dankbar, dass ich 5 Mark und eine Tafel Schokolade bekommen habe.

    Und dann hat sie mir erzählt, wie hart es die Leute in unserm engen Tal früher hatten. Das Futter für die Tiere hat oft nicht gereicht. Also sind die Leute in die Wälder und haben das Laub der Bäume geholt. Und trotzdem hat es nicht gereicht. Dann sind sie oft tagelang auf Reisen gegangen, um selbstgeschnitzte Ware zu verkaufen.

    All das können wir uns nicht mehr vorstellen. Wir wollen es uns nicht mehr vorstellen, da wir ein Recht auf Überfluss haben.

    Das haben wir nicht!

    Ich schaue zurück zu Frau Rietmann. So heißt die große Frau mit den violetten Haaren. Sie ist älter geworden und wirkt zerbrechlich. Jetzt hat sie sich eine Karre geholt und stellt diese hinter das silberne Auto. Sie öffnet den Kofferraum und versucht, einen Sack mit Erde auszuladen.

    Ich stehe auf und gehe über den dunklen und schwarzen Teer zum silbernen Auto.

    „Hallo!", sage ich und sie erschrickt und hält sich die Hand an die Brust.

    „Oh, jetzt haben Sie mich aber erschreckt. Meine Güte! Ich habe Sie gar nicht gesehen."

    „Das wollte ich nicht, aber es sah so aus, als könnten Sie Hilfe gebrauchen!" Ich lächle. Frau Rietmann lächelt auch. Anders. Etwas verlegen.

    „Das würden Sie tun? Also, das wäre wirklich nett von Ihnen. Wissen Sie, in meinem Alter fallen die Dinge einem immer schwerer."

    Genau das waren die Worte ihrer Mutter vor einer langen Zeit in einer anderen Zeit, die längst nicht mehr ist. Ich hebe den Sack aus dem silbernen Auto und lege ihn auf den Karren. Frau Rietmann kramt umständlich in ihrer Geldbörse.

    „Nein, kommt nicht in Frage. Ich nehme nichts. Das habe ich gerne getan!", höre ich mich sagen.

    „Vielen Dank, das findet man heute nicht mehr so oft, dass einem die Leute helfen. Jetzt nehmen Sie doch etwas, bitte. Kaufen Sie sich einen Kaffee damit." Sie drückt mir fünf silberne Münzen, auf denen Euro steht und die ich nicht kenne, in die Hand.

    „Danke!", sage ich schüchtern.

    „Nein, ich bin es, der sich bedanken muss. Sie sind nicht von hier? Oder?", sagt sie und wackelt wieder mit dem Kopf.

    „Nein, nur auf Besuch!", lüge ich, doch was hätte ich sagen sollen.

    „Das dachte ich mir. Wissen Sie, ich kenne all die Leute von hier, wobei das ja so auch nicht mehr stimmt. Die vielen Fremden, die nun hier wohnen und die ganzen junge Leute. Nein, ich denke, ich kenne doch nicht mehr alle. Nein, nein!" Sie schiebt die Karre hoch zum Eingang und zum dunklen und schwarzen Kreuz. Ich drehe mich um und möchte zurück zu meiner Bank, auf der ich gesessen bin. Doch mein Blick streift das dunkle Dach eines Hauses, welches etwas unterhalb des Parkplatzes steht.

    Plötzlich verkrampft sich alles in mir. Angst steigt auf und steigert sich zur Panik. Zielstrebig gehe ich auf das Haus zu, das ich kenne. Unzählige Gedanken tauchen auf und verbinden sich mit der Panik.

    Was wird mich an jenem Ort erwarten?

    Was erwarte ich?

    Nach so langer Zeit.

    Ich sollte nicht dorthin gehen, und doch bin ich zurück und kann tun, was ich will.

    Will ich den Ort und das Haus aufsuchen?

    Nein, eigentlich nicht. Doch möchte ich Gewissheit haben. Gewissheit, welche Schatten das Kreuz bereits gesehen hat. Oder Gewissheit, dass es so noch nicht ist. Dass noch alles gut ist.

    War es je gut? Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein, und es war noch nie gut? Vielleicht wird es dieses Mal gut. Anders!

    Ich renne und eine Träne sucht ihren Weg über meine Wange. Ich spüre ihr Salz auf meiner Lippe, wie es brennt und ich spüre den Schmerz, wie er brennt in meiner Seele.

    -------------------

    Der Wind ist heißer geworden und verbindet sich mit den Strahlen der Sonne zu einer schweißtreibenden Mischung. Ich stehe am Tor des Grundstückes und gehe nicht weiter.

    Warum?

    Weil ich Angst habe?

    Angst vor der Gewissheit und Angst vor den Schmerzen.

    Ja, aber auch, weil an der Klingel ein fremder Name steht.

    Es ist nicht mein Name und der Name meiner Familie.

    Er stand immer an dem Holzbrett neben dem Briefkasten. Geschwungene Schrift aus Messing.

    Doch dort ist kein Schild aus Messing mehr und kein Brett aus Holz. Eine neue Mauer aus Beton steht an dieser Stelle. Kalt und grau.

    Und mit schwarzer Schrift steht dort eine anderer Name einer anderen Familie. Die Farbe der Schrift verbindet sich mit dem Schwarz und der Kälte des Kreuzes. Es nimmt meine Seele mehr und mehr gefangen.

    „Achtung, Achtung!", ruft eine sanfte Stimme. Ich schaue auf. Weg von der Mauer und weg von dem fremden Namen. Ein kleiner blonder Junge schiebt einen Trettraktor mit Anhänger die steile Auffahrt hoch. Auf dem Anhänger steht eine gelbe Gießkanne aus Kunststoff.

    „Hallo!", sage ich mit belegter Stimme.

    „Hallo!", sagt der Junge und hält an. Mühevoll entlädt er die Kanne, die bis oben hin mit Wasser gefüllt ist.

    „Soll ich dir helfen?", frage ich tollpatschig.

    „Nein, das schaffe ich mit links! Sieh mal, wie stark ich schon bin!" Der Junge zeigt mir seine Muskeln am Oberarm.

    „Wow! Echt stark." Ich spiele den Überraschten.

    „Ich muss meine Bäume gießen. Sonst verdursten die", sagt er und gießt das Wasser an kleine Pflanzen.

    „Du hast Bäume gepflanzt?", sage ich und bin wirklich interessiert.

    „Ja, ganz, ganz viele. Schau mal! Das wird einmal der größte Wald der ganzen Welt!", sagt der Junge stolz.

    „Bestimmt!, lüge ich. „Wohnst du hier?

    „Ja, mit Papa und Mama! Ach, und mit meinem kleinen Bruder, den kann

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