Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals
Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals
Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals
eBook483 Seiten6 Stunden

Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wahn und Wirklichkeit ...
... lassen Alexandra verzweifeln. Allein, mit Medikamenten ruhig gestellt und ans Bett gefesselt erwacht sie in einer Klinik. Dort erfährt sie, dass sie angeblich an Traumfantasien leiden soll – hat sie sich die Welt der Soultaker und die Ereignisse der letzten Jahre nur eingebildet? Ihre Gabe ist verschwunden, obwohl sie kurz zuvor ihre Fähigkeiten dank ihres anderen Bewusstseins – des Racheengels – erweitern konnte. Nun beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Abgeschirmt von der Gesellschaft hat Alexandra keine Möglichkeit herauszufinden, was Wahn und was Wirklichkeit ist. Je länger sie dort verweilt, desto größer werden die Zweifel an der Existenz ihrer Familie und ihrer großen Liebe Sam. Soll sie fliehen? Oder sollte sie vielleicht einfach ihr neues Schicksal akzeptieren?
Im finalen Band der Soultaker-Reihe begleitet ihr Alexandra auf ihrer Reise durch tiefe Abgründe – Licht und Schatten – Verzweiflung und Hoffnung!
SpracheDeutsch
HerausgeberPlattini Verlag
Erscheinungsdatum14. März 2022
ISBN9783958695238
Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals

Ähnlich wie Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals

Titel in dieser Serie (4)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Soultaker 4 - Die zwei Seiten des Schicksals - Christiane Grünberg

    1. Wahn oder Wirklichkeit

    Alexandra

    Mühsam kämpfe ich mich durch die dichten Nebelschwaden, die mein Bewusstsein von der Wirklichkeit trennten. Die Welt drehte sich und drehte sich, ohne dass ich auch nur einen klaren Gedanken zu fassen bekam. Ich öffnete die Augen, doch die weißen Wände um mich herum kamen immer näher, als wollten sie mich erdrücken. Das Licht war grell, viel zu grell und der Geruch, der meine Nase kitzelte, kam mir so fremd vor. Eine Mischung aus Pfefferminz und Desinfektionsmittel, dezent und auf eine Weise beruhigend, dass ich wieder in einen tiefen Schlaf glitt. Selbst meine Träume waren vor allem eins: verwirrend. Erinnerungen kamen und gingen, vermischten sich miteinander und hinterließen einen schmerzlichen Nachgeschmack. Warum, wusste ich nicht. Ich wusste noch nicht mal genau, wo ich mich eigentlich befand, nur, dass es nicht zu Hause war. Jegliches Zeitgefühl schien mir abhandengekommen zu sein. Da waren Personen, die mir aber nicht vertraut vorkamen. Dann wieder Stimmen, die ich glaubte zu kennen und doch seltsam fremd erschienen. Sobald sich der Nebel etwas lichtete, stellten sich mir die Nackenhaare auf und mein ganzer Körper verkrampfte sich vor Anspannung. Irgendetwas lief hier vollkommen falsch.

    Was war nur passiert? Ich wäre gern in Panik ausgebrochen, mein Geist war allerdings so unbeschreiblich träge und nicht in der Lage, extreme Gefühle zu empfinden. Ich fühlte tief in mich hinein. Suchte nach der starken Kraft meiner Gabe. Ich fand sie nicht. Ich war allein, nein, nicht nur allein, ich war unvollständig.

    Nach einer gefühlten Ewigkeit zogen sich die Nebelschwaden endlich zurück. Meine Wahrnehmung wurde klarer, die Welt drehte sich nicht mehr und die kleinen funkelnden Sternchen vor meinen Augen nahmen ab. Dennoch war mein Geist schwerfällig und mein Sichtfeld wie in einem Tunnel verengt, als ob mein Bewusstsein mit starken Medikamenten ruhig gestellt worden war.

    Mit offenen Augen starrte ich auf eine weiße Wand. Ich wollte meine Hände bewegen, doch sie waren gefesselt. Ans Bett. Jemand hatte mich fixiert! Panik überrollte mich, erstickte mich fast. Ich musste hier weg!

    Ich rüttelte an den Fesseln. Erfolglos. War ja auch nicht anders zu erwarten. Die Rückenlehne des Bettes, in dem ich lag, war etwas angehoben und ich konnte meinen Kopf drehen, um das Zimmer in Augenschein zu nehmen.

    Meine Füße zeigten Richtung Tür. Eine weiße, rostfreie Metalltür mit einem Milchglasfenster. Die Wände waren komplett kahl, kein Bild, keine Regale – nichts. Links von mir stand ein kleiner Kunststofftisch mit einem Stuhl. Beide wie aus einem Guss, ohne Schrauben oder Nieten. Prompt bekam ich eine Gänsehaut und mein Magen rumorte in meinem Bauch. Ich setze mich leicht auf, soweit es meine Hände eben zuließen und drehte meinen Kopf nach hinten. In der Ecke befand sich eine Toilette. Aus grauem Metall, wie in einer Gefängniszelle und ohne eine Abtrennung. Hinter mir gab es ein Fenster in der Mauer, dass aber mit Gittern versehen war. Ich sah den blauen Himmel, so friedlich, nur mit ein paar Schäfchenwolken versehen.

    Eine Erkenntnis machte sich in mir breit: Ich war eine Gefangene. Doch warum? Träumte ich noch? Etwa wieder von der Anstalt? Mir wurde schlecht. Krampfhaft versuchte ich, die letzten Erinnerungen aus meinem Gedächtnis abzurufen. Allerdings war das schwerer als gedacht. Sie waren verwirrend. Szenen, wie in einem Film spielten sich vor meinem inneren Auge ab. Ich hatte meine Gabe auf eine Gruppe gewalttätiger Taker losgelassen. Dann konnte ich mich an nichts mehr erinnern. Wo war Sam, wo waren meine Freunde?

    »Hallo?«, rief ich laut und so deutlich wie möglich. Meine Stimme klang jedoch rau und belegt.

    Im Raum war es gespenstisch still. Das Einzige, was ich wahrnahm, war wieder der Geruch von Desinfektionsmittel und einem leichten Hauch von Pfefferminze.

    »Hört mich jemand?«, rief ich etwas lauter.

    Meine Zunge fühlte sich immer noch träge an und meine Kehle schmerzte. Wie gern hätte ich jetzt ein Glas Wasser gehabt!

    Endlich hörte ich Geräusche an der Tür und kurze Zeit später wurde sie aufgezogen. Eine Frau in einem weißen Kittel kam herein. Ihr Erscheinungsbild glich dem einer Ärztin, das beruhigte mich ein wenig. Sie war kein Söldner oder so. Immerhin.

    »Frau Winter. Mein Name ist Dr. Kastner. Sie sind im Institut für psychische Störungen in Hamburg. Können Sie mich gut verstehen und bitte mal meinem Finger folgen, damit ich prüfen kann, ob Ihr Reaktionsvermögen besser geworden ist?«

    Verwirrt blinzelte ich die dunkelhaarige Ärztin mit ihren dunkelblauen Augen an. Sie hatte einen leichten ausländischen Akzent, vielleicht osteuropäischer Herkunft? Ihr Haar war streng nach hinten gebunden. Sie wirkte kühl, aber nicht gänzlich mitleidlos. Nichtsdestotrotz waren es ihre Worte, die mich am meisten irritierten. Warum Frau Winter? So hieß ich schon seit zwei Jahren nicht mehr. Und Institut für psychologische Störungen? Was zum Teufel war hier los?

    »Akustisch kann ich Sie gut verstehen. Allerdings weiß ich nicht, was das Ganze hier soll«, sagte ich und hob meine Hand, sodass die Fesseln, die am Bett befestigt waren, ein raschelndes Geräusch von sich gaben.

    »Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Sie hatten einen Nervenzusammenbruch und schlimme Wahnvorstellungen, daher mussten wir zu solchen Maßnahmen greifen. Geht es Ihnen jetzt besser?«

    Ich schnaubte. Mir ging es gar nicht gut. Immer noch fühlte sich mein Geist an, wie durch den Schredder gezogen. Mein Bewusstsein war vielleicht klarer geworden, doch meine Wahrnehmung stimmte bei Weitem noch nicht. Mein Sichtfeld wirkte auf eine gewisse Weise unscharf. Manchmal hatte ich den Eindruck, ich würde auf eine Wasseroberfläche tippen. Das Gesicht der Ärztin verlor immer wieder an Schärfe. Das beunruhigte mich. Und ihre Worte ergaben schon mal gar keinen Sinn.

    »Meine Wahrnehmung stimmt nicht ganz. Was haben Sie mir gegeben?«, fragte ich fordernd.

    »Beruhigungsmittel. Wir werden die Medikamente nach und nach absetzen, wenn wir der Meinung sind, dass Sie nicht länger eine Gefahr für sich und andere darstellen.«

    »Ich heiße nicht mehr Winter, sondern Evert«, fiel ich ihr barsch ins Wort.

    Die dunklen blauen Augen fixierten mich. Sie wirkten wie ein tiefer unergründlicher Brunnen und standen im starken Kontrast zu der hellen Haut der Frau.

    Sie nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mein Bett.

    »Frau Winter. Sie haben eine Krankheit, die in Fachkreisen als maladaptives Tagträumen bezeichnet wird. Wachfantasien, laienhaft ausgedrückt. Sie haben sich in den letzten Jahren immer wieder in eine Traumwelt zurückgezogen. Ihr Freund André Kirchner erzählte uns, dass Ihre Tagträume immer stärker wurden und Sie irgendwann Ihren Alltag nicht mehr bewältigen konnten. Sie haben einen kompletten Realitätsverlust erlitten und als er Sie gestern morgen zur Rede stellte, sind Sie mit einem Messer auf ihn losgegangen. Er hat Sie einweisen lassen, weil wir hier im Institut auf solche Fälle, wie den Ihren, spezialisiert sind. Da Sie bei Ihrer Ankunft immer noch äußerst aggressiv waren, haben wir Sie erst mal ruhiggestellt.«

    Ich blinzelte. Was war das denn für eine verrückte Geschichte?

    »Tut mir leid, ich verstehe nicht ganz, was Sie mir damit sagen wollen. André ist mein Ex-Freund. Wo ist mein Ehemann und wo ist meine Tochter?«

    Bilder von Sam und Cara blitzten in meinen Gedanken auf. Meine Familie.

    »Hören Sie, ich weiß ja nicht, was hier gerade gespielt wird. Aber Ihre Worte sind vollkommen abstrus.« Mehr brachte ich nicht heraus.

    »Ihr Verstand kann die Realität nicht mehr von der Traumwelt unterscheiden. Ihr Freund erzählte uns, dass Sie vor einem Jahr in einer Depression versanken und sich seitdem immer wieder in eine Wachfantasie gestürzt haben. In dieser haben Sie angeblich Superkräfte, eine neue Familie gegründet und die Welt gerettet. Er vermutet, dass Sie in Ihrer Beziehung mit ihm unglücklich waren, sich jedoch nicht im Stande sahen, sich zu trennen. Auch Ihr Studium scheint für Sie eine Sackgasse zu sein. Außerdem gab er uns Hinweise auf ein Trauma in Ihrer Kindheit, dass Sie von Ihren Eltern allein gelassen wurden. Ihre Schwester bestätigte uns die Geschichte. Trennungs- und Verlustängste können sich manchmal in den unterschiedlichsten Formen zeigen. In Ihrem Fall erschuf sich Ihr Verstand ein neue, heile Welt.«

    Mit offenem Mund starrte ich sie an. Superkräfte? Heile neue Welt? Als ob. Das traf nicht im Geringsten auf die letzten Jahre zu. Ja, es gab wunderschöne Momente. Die Hochzeit mit Sam, der Zusammenhalt unserer Familie, das Leben auf dem Hof und die Geburt unserer Tochter Cara. All diese Erinnerungen brachten Wärme und Glück in mein Herz. Gleichzeitig gab es auch immer die dunklen Zeiten, der Kampf gegen die Dark Taker, die Gefangennahme in der Anstalt, der Rachefeldzug von Julian gegen mich. Der Verrat meiner eigenen Mutter, die letztendlich von meiner Schwester getötet worden war, die nun selbst ein Taker war. Das alles soll eine Traumwelt gewesen sein? Nur, um mich von der unglücklichen Beziehung mit André zu befreien? Welcher verdrehte Autor hatte sich denn so eine Geschichte ausgedacht? Mein Verstand mit Sicherheit nicht. So kreativ war ich bestimmt nicht.

    »Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, ich würde Ihnen das abnehmen, was Sie mir da gerade erzählt haben. Ich weiß sehr wohl, was Realität und was Traumwelt ist. Was zur Hölle machen Sie hier mit mir?«

    Die Ärztin seufzte.

    »Ich weiß, dass das für Sie schwer zu akzeptieren sein muss. Trotzdem können wir Ihnen helfen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Sie können auch ohne Ihre Fantasien glücklich werden. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie benötigen.«

    »Ich möchte einen Anwalt. Meine Schwester«, verlangte ich. Auf dieser Grundlage brauchte ich mit der Ärztin gar nicht weiter zu diskutieren.

    »Es tut mir leid, das ist im Moment nicht möglich, Frau Winter. Herr Kirchner und Ihre Schwester haben der Behandlung hier zugestimmt. Sie wurden zwangseingewiesen und entmündigt.«

    Langsam atmete ich ganz tief ein und wieder aus. Wut übermannte mich. Ich fühlte mich wie ein Tier im Käfig. Und wenn ich die Fesseln bedachte, dann war ich auch irgendwie eins. Gleichzeitig ermahnte ich mich, besonnen zu reagieren. Würde ich der Frau an die Gurgel gehen, würde man mich wieder mit starken Drogen vollpumpen. Also musste ich auf meine Erfahrungen der letzten Jahre als Gefangene zurückgreifen. Ich war immerhin so etwas, wie eine Profi-Geisel. Und bislang hatte es sich immer bewährt, sich erst einmal vermeintlich gefügig auf das Spiel der Feinde einzulassen und Informationen zu sammeln.

    »Ich möchte mit André oder meiner Schwester sprechen.«

    »Das kann ich gut nachvollziehen. Ein Besuch wird jedoch frühestens in zwei Tagen möglich sein. Zunächst sollen sich die Patienten an die neue Umgebung gewöhnen. Wenn Sie kooperieren, werden wir Ihnen das Besuchsrecht einräumen.«

    Meine Eingeweide brodelten vor Zorn. Am liebsten hätte ich meine Gabe auf die Frau losgelassen. Gleichzeitig war ich stark verunsichert. Wo war mein inneres Biest geblieben? Warum zerrte mein Racheengel nicht an seinen Fesseln? War sie durch die Drogen blockiert worden? Ich spürte nichts. Und das machte mir Angst. Ich fühlte mich hilfloser als jemals zuvor.

    »Und jetzt?«

    »Sie haben morgen früh Ihre erste Sitzung und dann sehen wir weiter. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie keinen der Pfleger angreifen, kann ich Ihre Hände losbinden. Sie dürfen sich im Zimmer frei bewegen.«

    »Und was soll ich die ganze Zeit hier machen? Gehört Langeweile zur Therapie?«

    Meine Stimme klang schnippisch. Wobei die Ärztin die Mundwinkel leicht nach oben verzog.

    »Keine Angst. Sie bekommen eine Auswahl an Mandalas mit Wachsmalstiften und Sudoku Hefte, sowie etwas zu trinken. Wenn Sie duschen möchten, geht das nur im Waschraum. Das ist erst Morgen erlaubt, nach Ihrer Sitzung.«

    Schließlich nickte ich – pseudo ergeben – und die Ärztin, wenn sie denn wirklich eine war, stand auf und machte sich an meiner Fixierung zu schaffen. Erleichtert atmete ich auf, als sich die Verschlüsse öffneten und meine Hände freigaben. Ich massierte mir abwechselnd die Handgelenke und nickte dankend.

    »Dann bis morgen«, verabschiedete sich die Ärztin und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Die Tür fiel ins Schloss und wurde verriegelt. Dann war es still und ich war mit all meinen Fragen und Ängsten allein.

    Gleichzeitig überkam mich auch das Bedürfnis, in hysterisches Gelächter auszubrechen – was mit Sicherheit dazu führen würde, wie eine komplette Irre zu wirken. Aber mal ehrlich: Ich war eine Gefangene. Mal wieder. Und dazu in einer höchst grotesken Situation, in der man mir weismachen wollte, die Soultaker gäbe es nicht. Gleichermaßen schockiert und genervt schüttelte ich den Kopf und verfluchte das Schicksal.

    Oder war es diesmal meine eigene Schuld, dass ich hier gelandet war? Angestrengt versuchte ich mir die letzten Stunden ins Gedächtnis zu rufen, allerdings fiel es mir schwer, eine geordnete Abfolge der Geschehnisse hinzubekommen. Ich wurde das Gefühl nicht los, einen Fehler gemacht zu haben. Nur welchen? Seufzend setzte ich mich auf das sterile Bett. Ich musste die Wirkung der Medikamente irgendwie mildern. Es lag eine Menge Arbeit vor mir.

    2. Alexandra

    Den restlichen Tag und die Nacht verbrachte ich durchgehend damit, mir über meine Situation Gedanken zu machen. Am meisten ängstigte mich die Abwesenheit meiner Gabe. Immer wieder schlich sich für einen kurzen Moment die Frage ein, ob die Ärztin nicht vielleicht sogar recht hatte? Selbstzweifel, Melancholie, Angst. Alles wechselte sich ab. Dabei hatte ich in den letzten Jahren besonders im Hinblick auf meine Unsicherheit so viel Stärke dazugewonnen, sollte sie zusammen mit meinen Fähigkeiten verschwunden sein? Hatte ich mir vielleicht wirklich eine Wunschwelt erschaffen? Nein, so ein Schwachsinn! Das konnte nicht sein. Sam und meine Tochter waren weder eine Fantasie noch eine Idee eines potenziell verwirrten Geistes. Ich hatte so viele Erinnerungen an die Zeit als Soultaker, wer könnte sich eine so komplexe zweite Realität ausdenken und sich darin verlieren? Oder war wirklich alles nur eine Illusion gewesen? Nein! Hör auf, diesen Schwachsinn zu glauben! , schimpfte ich mit mir selbst. Dennoch, es war schwer, nicht zu zweifeln.

    Mehrmals hatte ich versucht, aus dem Fenster zu schauen, doch bis auf den oberen Schlitz von circa zehn Zentimetern war das gesamte Glas mit einer milchigen Folie beklebt. Licht kam durch und ich konnte im oberen Teil einen Ausschnitt des Himmels erkennen. Sprach das jetzt für die eine oder die andere Möglichkeit? Wenigstens schon mal Tageslicht – ein Privileg, wenn ich an die Gefangenschaft in der Anstalt dachte, wo wir in einem Bunker unter der Erde untergebracht worden waren. Auch kam hier niemand herein und drohte mir oder missbrauchte meine Kräfte. Noch nicht. Wer weiß, ob das nicht irgendwann noch käme. Irgendeinen Grund musste es ja dafür geben, mich gefangen zu halten. Und bisher war es immer um meine Fähigkeiten gegangen.

    Die Pfleger waren zwar wachsam und vorsichtig, aber menschlich. Es schien keine direkte Gefahr von ihnen auszugehen. Ganz anders als in der Vergangenheit. Das irritierte mich.

    Ich erhielt die versprochenen Malutensilien und Bücher, darüber hinaus eine Trinkflasche. Gegen Abend durfte ich mir die Zähne putzen und mich notdürftig Waschen. Die Schale mit Wasser und die Kosmetikartikel wurden jedoch sofort wieder mitgenommen, nachdem ich fertig war. Der Gang auf die Toilette war extrem befremdlich, ich besaß hier absolut keine Privatsphäre. Das erinnerte mich wieder stark an die Anstalt. Gott, wie ich diese Psychospielchen hasste!

    Wenn ich herausbekam, wer für das alles hier verantwortlich war, konnten die sich auf etwas gefasst machen!

    Gleichzeitig schlich sich ein verzweifelter Gedanke in meinen Kopf: Was, wenn ich wirklich selbst meinen Zustand verursacht hatte? Wachfantasien. Ich musste zwangsläufig an den Film »A beautiful Mind« mit Russel Crowe denken. Seine schizophrenen Gedanken wirkten für ihn absolut echt und real. Was, wenn es mir genauso erging?

    So ein Quatsch! Man versuchte eindeutig, mich einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Warum auch immer. Ich würde den Grund schon noch erfahren. Ich ließ mich weder von irgendwelchen Ärzten noch von deren Medikamenten unterkriegen. Das hatten schon ganz andere versucht!

    In der Nacht träumte ich von Sam und Cara. Meine kleine süße Tochter, die vor achtzehn Monaten auf die Welt gekommen war. Mit rotblonden Haaren und strahlend blauen Augen – das Ebenbild ihres Vaters. Nach einer Blitz-Geburt mit nur drei Stunden Wehen, legte Tanja sie mir in die Arme. Meine ganze Welt stand plötzlich auf dem Kopf. Vergessen waren die Schmerzen der Geburt, ein enormes Glücksgefühl übermannte mich und eine Liebe, die ich nie für möglich gehalten hatte. Meine Welt drehte sich nur noch um dieses kleine wunderhübsche Wesen.

    Die Wochen danach waren zwar anstrengend und ungewohnt gewesen, allerdings waren wir nicht allein. Meine Schwester, meine Freunde auf dem Hof, es war immer jemand da, der uns unterstützte. Der Schlafmangel war zwar heftig, zum Glück gab es allerdings immer jemanden, der bereit war, Cara für eine Weile zu hüten, damit wir wenigstens ein bisschen Schlaf nachholen konnten. Trotzdem ähnelten Sam und ich in der ersten Zeit eher Zombies als Menschen.

    Außerdem gab es noch weitere frischgebackene Eltern. Drei Monate zuvor hatten André und Tanja den kleinen Gabriel bekommen und ein paar Monate später folgten Theo und Ella. Die Zwillinge waren ein kleines Wunder für sich, denn Leonie und Jan hatten es nicht leicht gehabt, bei dem Versuch schwanger zu werden. Leonie konnte wegen einer hormonellen Dysfunktion nicht auf natürlichem Wege ein Kind bekommen. Doch die moderne Medizin machte es letztlich möglich und das sogar in doppelter Ausführung. Ich konnte mich noch gut an den Gesichtsausdruck von Jan erinnern, als Tanja die erste Ultraschalluntersuchung durchführte und man zwei Fruchtblasen sah, statt einer. Er musste sich erst mal setzen. Aber nachdem die Jungs ein paar Drinks in ihn hineingeschüttet hatten, ging es wieder und er freute sich voller stolz auf seine Zwillinge. Ich schmunzelte bei den Erinnerungen. Gleichzeitig spürte ich in meinem Herzen einen Stich. War das alles wirklich passiert? Oder war ich einfach nur verrückt?

    Am nächsten Morgen wachte ich ziemlich gerädert auf und war ehrlich gesagt zutiefst enttäuscht, dass ich mich immer noch in diesem Gefängnis aus Weiß befand. Selbst meine Klamotten bestanden aus einem perlmuttweißen, langärmeligen Shirt und einer gleichfarbigen Baumwollhose. Es tat einem schon fast in den Augen weh. Weiß war noch nie meine Lieblingsfarbe gewesen, es erinnerte mich zu stark an Krankenhäuser und sterile Umgebungen, aber anderthalb Tage in diesem Raum und schon lernte ich, sie inbrünstig zu hassen.

    Nach dem Frühstück kam dann endlich der angekündigte Psychologe zu mir ins Zimmer. Ein kleiner rundlicher Mann setzte sich auf den Kunststoffstuhl an meinem Tisch, während ich auf dem Bett saß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

    Sofort verglich ich ihn, nicht optisch, sondern eher sein Auftreten, und das, was er mich fühlen ließ, mit Dr. Seyfahrt.

    Die Haut in seinem Gesicht war leicht gerötet, als ob er einen längeren Fußmarsch hinter sich gebracht hätte. Das musste ich mir merken, vielleicht war die Information wichtig.

    Kleine graue Augen lugten hinter einer eckigen Lesebrille hervor. Er trug einen weißen Kittel über einer grauen Anzugshose. Das Grau stach besonders hervor, weil es die einzige andere Farbe in dieser weißen Umgebung war.

    Unglaublich, wie sich meine Seele über ein langweiliges Grau freuen konnte.

    »Frau Winter, schön, dass es Ihnen besser geht, oder zumindest gut genug, dass wir reden können.«

    Ich schüttelte leicht mit dem Kopf, um meine Fassungslosigkeit zu demonstrieren, gleichwohl ich mir jeglichen Kommentar verkniff. Allerdings fiel mir die Anwesenheit eines Pflegers auf, der sich neben der offenen Tür positioniert hatte.

    Als der Arzt meinen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Reine Vorsichtsmaßnahme. Damit Sie mich nicht angreifen.«

    Meine Antwort bestand aus einem leisen Schnauben. Früher hätte mein Racheengel nur müde darüber gelacht, denn ich konnte über einige Entfernung hinweg anderen Menschen in Sekundenschnelle die Energie entziehen. Ich hätte sogar anhand der Auren allein erkennen können, ob der Wächter oder der Arzt vielleicht Soultaker waren oder Verstärker, was erklären würde, warum meine Kräfte blockiert waren. Jedenfalls war das vor meiner Gefangennahme so gewesen. Nun fühlte ich nichts in mir. Nur eine beklemmende Leere in meinem Kopf. Ob die Medikamente meine Kräfte unterdrückten? Wäre möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich.

    Unbehaglich rutschte ich auf meinem Bett hin und her.

    »Ich bin Dr. Germond und betreue Sie während Ihres Aufenthaltes hier. Frau Dr. Kastner hatte Ihnen bereits ein paar Einzelheiten erläutert. Haben Sie, bevor wir anfangen, noch Fragen?«

    Eine ganze Menge, dachte ich. Trotzdem durfte ich nur mit äußerster Vorsicht antworten. Wenn ich mal meine bisherigen Erfahrungen mit Psychologen Revue passieren ließ, dann wusste ich auch, wie schnell einem hier das Wort im Mund verdreht werden konnte.

    »Kennen Sie einen Dr. Seyfahrt?«, fragte ich ihn nach meinem Psychologen vom Verfassungsschutz. Er sollte damals nach einem Zwischenfall bei meiner Arbeit in der Taskforce des Verfassungsschutzes meine Arbeitstauglichkeit prüfen. Er war der einzige Psychologe, den ich kannte, der seinem Berufsstand wirklich alle Ehre gemacht hatte und dem ich ein objektives und nüchternes Urteil zutraute. Seit wenigen Wochen war er sogar unser Hauspsychiater geworden und besuchte uns wöchentlich. Einige unserer Leute hatten durch die ganzen Erlebnisse der letzten Jahre viel aufzuarbeiten. All die Kämpfe, die Verluste, der Stress und das ein oder andere Trauma. Sagen wir mal so, langweilig würde es Dr. Seyfahrt so schnell bestimmt nicht werden.

    »Das ist der Arzt aus Ihrer Wahnvorstellung«, erwiderte mein Gegenüber.

    Verdammt. Was wussten Sie denn noch alles aus meiner Vergangenheit? Definitiv zu viel, das stand schon jetzt fest.

    »Ihr Freund hat mir alles über Ihre Wahnfantasien berichtet und auch erzählt, dass dieser Dr. Seyfahrt Sie angeblich therapiert. Damit haben Sie Ihrem Partner weismachen wollen, dass alles okay mit Ihnen sei. Doch es gab nie einen Dr. Seyfahrt im Ärzteregister von Hamburg.«

    Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Die Unterhaltung würde noch schwieriger werden als angenommen. Ich musste die gesamten letzten Jahre als Fantasie abtun, um hier als gesund eingestuft zu werden. Ich musste alles verleugnen, was ich erlebt, ja sogar geliebt hatte. Eine andere Wahl blieb mir nicht. Das würde echt schwer werden. Verdammt, warum immer ich?

    »Ist gut. Dann brauche ich darüber ja nichts mehr erzählen, wenn Sie schon so detailliert Bescheid wissen«, entgegnete ich säuerlich. Es fiel mir schwer, die Fassung zu bewahren. Alles in mir sehnte sich nach einem gepflegten Wutanfall.

    »Im Gegenteil, Ihre Sichtweise hilft uns, Ihre Bedürfnisse herauszufinden. Anschließend werden wir einen Weg finden, Ihnen Möglichkeiten aufzeigen, um in Ihren Alltag zurückzukehren.«

    Hartnäckig. Oder es war eine Falle und jemand versuchte, über mich an die White Taker oder gar den ganzen Verfassungsschutz heranzukommen? Wollten sie mir Informationen entlocken? Gott, das musste es sein! Diese Erkenntnis ließ mich eine Gänsehaut bekommen. In diesem Fall würde ich wahrscheinlich nie freigelassen werden; oder vielleicht sogar getötet, sobald sie die Informationen bekommen hatten, hinter denen sie her waren? Verdammter Mist!

    Auch Herr Germond hatte einen ausländischen Akzent. Vielleicht war ich gar nicht mehr in Deutschland? Bei meinem letzten Einsatz hatten wir uns an der Grenze befunden, vielleicht hatte ich sie übertreten oder war verschleppt worden und befand mich nun in Tschechien? In diesem Fall musste ich einfach nur warten, bis mich der Verfassungsschutz raushandeln würde. Oder?

    Die White Taker, meine Familie, würden alle Hebel in Bewegung setzen, um mich zu befreien. Wenn es sie gab ... so ein Quatsch – natürlich gab es sie! Ich hasste es, wie ich mich immer wieder verunsichern ließ.

    »Wenn Sie sagen, dass die letzten Jahre nur eine Art Wunschfantasie waren, dann kann ich ja wohl mit André sprechen und mich bei ihm für den Angriff entschuldigen«, sagte ich nüchtern.

    Der Doktor grinste nur.

    »Ich weiß, was Sie versuchen. Sie denken, wenn Sie uns nach dem Mund reden, kommen Sie hier schnell wieder raus. So funktioniert das jedoch nicht. Wollen Sie sich bei Ihrem Freund vergewissern, ob wir die Wahrheit sagen?« Seine grauen Augen taxierten mich.

    Was sollte ich darauf antworten?

    »Ehrlich gesagt: ja. Ich versuche meine Erinnerungen, Gedanken und Gefühle zu ordnen und André könnte mir dabei helfen. Schließlich ist er mein Vertrauter. Wieso sollte ich mich wildfremden Menschen öffnen, ohne zu wissen, wie ich hier überhaupt hergekommen bin? Immerhin bin ich in einem Gefängnis aufgewacht, mit gefesselten Händen.«

    Ehrlichkeit hatte noch nie geschadet. Hauptsache, ich kam schnellstens an André heran.

    »Da ist was dran. Und zeigt, dass Sie gerade in der Lage sind, klare Gedanken zu fassen. Das ist schon mal etwas, wo wir ansetzen können.«

    Eine kurze Pause entstand. Erwartungsvoll sah ich ihn an, während er sich Notizen auf dem Block machte. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie die Wache sich am Kopf kratzte und gelangweilt mit den Fingernägeln spielte.

    Gott, warum landete ausgerechnet ich immer wieder in solchen Situationen? Ich zog Schwierigkeiten magisch an, wie das Licht die Motten.

    »Wenn Sie sich ruhig verhalten, dürfen Sie Ihren Freund morgen empfangen. Aber nur für eine halbe Stunde. Vorausgesetzt Sie bleiben bei dem Gespräch in einer stabilen Verfassung. Oft erleiden Patienten bei Besuchen einen weiteren Nervenzusammenbruch.«

    Mit Sicherheit nicht, sagte ich mir, unterdrückte jedoch den Impuls, das laut auszusprechen.

    »Wie sieht denn meine Therapie aus?«, wollte ich nun wissen und schaffte es, das Wort ganz wertneutral auszusprechen. Es war wichtig, abzuschätzen, was die nächsten Tage auf mich zukam.

    »Für Sie wurde eine Einzeltherapie angesetzt, jeden Tag zweistündige Sitzungen mit mir. Je nachdem, wie die verläuft, werden wir in vier Wochen hoffentlich schon Fortschritte erzielen und ein Konzept erarbeiten, wie sie sich in der richtigen Welt ein neues Leben aufbauen können. Dann ist auch eine Verlegung in eine offene Wohnsiedlung denkbar.«

    Vier Wochen? Wohnsiedlung? Neues Leben? Mir wurde schwindelig. Immer noch wehrte ich mich gegen die Vorstellung, wirklich einer psychischen Krankheit erlegen zu sein. Selbst wenn es so war, warum dann ein neues Leben, warum nicht mein altes Leben? Irgendetwas war hier faul.

    »Wollen Sie mich den Rest des Tages in das kleine Zimmer sperren? Meinen Sie, das würde gegen das Abtauchen in eine Wunschwelt helfen?«

    Mein Ton war immer noch angriffslustig. Er grinste.

    »Sicher nicht. Daher bekommen Sie die Möglichkeit, im Gruppenraum an Angeboten teilzunehmen. Malen, Töpfern, Stricken. Was auch immer Ihnen hilft, eine sinnvolle Beschäftigung zu finden, die verhindert, dass Sie abdriften.«

    Stricken und Malen? Ich beherrschte weder das eine noch das andere. Ich verspürte außerdem wenig Lust dazu. Aber es war besser, als hier die weißen Wände anzustarren.

    »In Ordnung.«

    Dr. Germond musterte mich, schließlich schlug er die Beine übereinander und räusperte sich.

    »Nun gut, dann fangen wir zunächst mal an, Ihre Traumwelt näher zu beleuchten. Erzählen Sie mir von Ihrer Gabe«, forderte er mich auf.

    Mein Herz klopfte vor Aufregung, ich befand mich in einer Zwickmühle. Wenn ich nicht kooperierte, würden sie mich André nicht sehen lassen. Wenn ich es aber tat, war das Risiko groß, etwas auszuplaudern, was andere möglicherweise in Gefahr bringen könnte. Wie weit würde die Befragung gehen? Würden sie mir vielleicht sogar weitere Medikamente verabreichen? Vielleicht hatten sie mich ja schon mal befragt und ich war zu stark unter Drogen gesetzt worden, um mich daran zu erinnern? Doch warum? Warum ich? Es gab so viele andere bekannte und starke Soultaker.

    »Ich kann anderen Menschen die Energie entziehen. Und ich kann sie heilen.« Das war kein Geheimnis, dazu war ich zu oft schon mit meinen Kräften im Fernsehen gewesen.

    »Was glauben Sie, warum Sie das können?«

    »Vererbt. Meine Eltern konnten das ebenfalls. Und falls Sie nicht gerade die letzten Jahre fernab der Gesellschaft gelebt haben, wissen Sie auch, dass es die Soultaker wirklich gibt.«

    »Dem muss ich widersprechen. Aber es ist okay. Erzählen Sie mir, wie Sie Ihre Gabe auslösen und was sie alles damit machen können.«

    Sicher, murmelte ich tief in mich hinein. Mein Racheengel hätte bestimmt schon längst die Geduld mit ihm verloren, ich hatte allerdings keinen Zugang zu ihr. Ein Teil von mir fühlte sich immer noch wie in Watte gepackt. Ein dicker, dichter Nebel in meinem Geist, der mich fest im Griff hielt. Vielleicht war es dieser Nebel, der mich von meinem anderen Ich trennte?

    »Alles bleibt vertraulich zwischen Ihnen und mir. Ihr Freund wird nichts erfahren. Je detaillierter Sie mir von Ihren Fantasien berichten, desto eher bin ich in der Lage, Ihre Sehnsüchte und Bedürfnisse herauszufiltern. Dann können wir Sie wieder in die reale Welt eingliedern.«

    In die reale Welt. In meinem Bauch baute sich ein enormer Widerwillen auf. Eine Wut, die auf einen einzigen Wunsch abzielte, das Verlangen einfach nur zu fliehen.

    Der Doktor bemerkte mein Zögern.

    »Hören Sie, an Ihrer Stelle würde ich einfach mitmachen, Sie möchten sicherlich schnell wieder hier raus.«

    »Wollen Sie mir drohen?«, fragte ich frei heraus und ein Zucken ging durch das Gesicht von Dr. Germond. Auch der Pfleger spannte sich an. Keine Frage, sie hatten Angst vor mir.

    »Dann benutzen Sie doch mal Ihre Gabe«, konterte der Doktor. Arschloch.

    »Ich ... ich kann nicht. Die Medikamente unterdrücken sie irgendwie«, murmelte ich nun etwas kleinlauter. Ein Zucken im Mundwinkel des Doktors und ein triumphierendes Funkeln war in seinen Augen abzulesen. Dafür hätte ich ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

    »Wenn Sie solch starke Kräfte hätten, wie sollten diese dann unterdrückt werden, ohne dabei ihren Verstand zu behindern?«

    »Wer sagt, dass sie das nicht tun? Immerhin fühle ich mich vollkommen fremd in meinem Körper.«

    »Vielleicht, weil sie seit Monaten das erste Mal wieder in die Realität eingetaucht sind?«

    Mir reichte es. Der Zweifel nagte an mir und machte mich ganz verrückt. Ich wollte das nicht. Ich wollte hier raus.

    »Ohne dass ich mit meinem Freund geredet habe, sage ich hier gar nichts mehr«, konterte ich selbstbewusst. In Wahrheit versuchte ich meine Angst und meine Unsicherheit zu verbergen, so wie ich es mir in den letzten Jahren antrainiert hatte.

    Dr. Germonds Blick wirkte unergründlich und er sah mich nachdenklich an. Ob er überlegte, einen anderen Weg als Reden einzuschlagen?

    Als ich schon befürchtete, er würde nun die Spritze rausholen, zuckte er nur mit den Schultern und stand auf.

    »Sie haben vorläufig die Erlaubnis, den Waschraum zu nutzen. Denken Sie daran, dass sich immer ein Pfleger in Ihrer Nähe aufhalten wird.«

    Meine Nackenhaare stellten sich auf. Die Dusche würde ich dankend annehmen, doch mit einem Voyeur an meiner Seite? Mein Blick blieb an meiner männlichen Wache hängen.

    »Keine Sorge, wir haben auch weibliche Pflegerinnen. Unser Mitarbeiter sind alle bestens ausgebildet und zertifiziert. Ihnen droht hier keine Gefahr«, fügte er noch hinzu. Ha! Als ob!

    Ich nickte brav. Daraufhin verließen der Doktor und der Pfleger das Zimmer und ließen mich allein. Ohne zu wissen, ob ich nun André sehen könnte oder nicht.

    Einsamkeit und Heimweh übermannten mich. Ich wollte Sam und meine Tochter in meine Arme schließen. Wollte sie fühlen, ihre Nähe spüren und wissen, dass es ihnen gut ging. Mir fehlte einfach alles an ihnen. Ihr Duft, Sams Zärtlichkeiten, Caras Babygebrabbel … Mein armer Sam. Er war bestimmt schon längst am Durchdrehen wegen meines Verschwindens. Wusste er, was mit mir passiert war?

    Und dann immer wieder diese nervigen Schwindelattacken. Mein Körper kämpfte noch mit den Medikamenten. Der einzige positive Nebeneffekt war, dass ich keinerlei Schmerzen hatte. Keine Kopfschmerzen oder Verspannungen. Was auch immer sie mir gaben, es musste hoch dosiert sein.

    Nach dem Mittagsessen durfte ich endlich duschen gehen und wie versprochen begleitete mich eine weibliche Pflegerin. Sie war wortkarg, dennoch hatte ich das Gefühl, dass jeder in meiner Gegenwart sehr angespannt war und sekündlich auf einen Angriff wartete. Verwunderlich war außerdem, dass ich sonst noch keinem anderen Patienten begegnet war. Das änderte sich aber, als ich nach dem Duschen in den Aufenthaltsraum geführt wurde.

    Dieser war, wie nicht anders zu erwarten, weiß, steril und kahl. Der Raum hatte ungefähr die Größe unseres Lofts auf dem Hof. Überall waren Tische und Sitzgelegenheiten. An den Wänden standen Pfleger und eine Glasfront separierte diesen Raum vom Mitarbeiterzimmer. Die Fenster an der Wand zu meiner Rechten besaßen keine Milchglasfolie und erlaubten einen Blick nach draußen. Direkt auf einen großen Wald. Mehr gab es nicht zu sehen, das war allerdings schon mal ein Anblick, der mich insgeheim beruhigte. Endlich mal wieder ein wenig Farbe und eine natürliche Umgebung. Ein Teil von mir überlegte sofort, ob es einen Wald wie diesen in der Umgebung von Hamburg gab. Welche Hinweise lieferte mir die Aussicht?

    Es gab hier nur zwei weitere Patienten, die sich jedoch kaum bewegten. Der eine saß auf einer Sofaecke und starrte in ein Bilderbuch, die andere Frau am Fenster und sah nach draußen. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

    Nach so einer Gesellschaft hatte ich mich alles andere als gesehnt. Vermutlich würde mir der Aufenthalt hier noch nicht mal eine Unterhaltung oder weitere Informationen einbringen.

    »Drüben im Regal sind Farben, Strickutensilien und weiteres Bastelmaterial. Töpfern bieten wir nur ein Mal in der Woche an. Da das letzte Mal gestern war, müssen Sie darauf noch eine Woche warten.«

    »Wie sieht es mit Fernsehen aus?«, fragte ich gelangweilt.

    »Kein Zugang. Nicht förderlich«, meinte die Schwester nur knapp und gesellte sich zu einem anderen Pfleger an der Wand. Sie nickten sich zu, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

    Nicht förderlich. Ja, klar. Wäre ja auch schön blöd, wenn da zufällig eine Nachrichtensendung liefe oder sogar eine Sondersendung zu meinem Verschwinden.

    Gruselig, einfach nur gruselig dieser Laden. Dieser Ort, diese Situation. Ich schüttelte das beklemmende Gefühl ab und schlenderte zu der Kommode mit den Malutensilien. Ich fand einen Mandalablock und Wachsmalstifte. Anscheinend hielten sie Buntstifte und Filzstifte für zu gefährlich. Meine Errungenschaften breitete ich auf einem Tisch, nahe des Fensters, aus und begann die Bilder auszumalen. Nebenbei beobachtete ich das Geschehen um mich herum. Es passierte nichts. Der Raum war gespenstisch still. Nach einer Stunde malen, suchte ich mir ein paar Bücher aus dem Regal und begann einen Groschenroman zu lesen. Gegen Abend brachte man mich zurück und ich bekam das Abendessen. Für einen Moment überlegte ich, es zu verweigern. Vielleicht hatten sie da ja die Medikamente reingemischt, die mir so zusetzten? Aber andererseits, verhungern wollte ich auch nicht und brave Gefangene – pardon, Patienten – aßen, was man ihnen vorsetzte.

    Dann war da wieder diese Stille. Das Sonnenlicht wurde immer weniger. Wenigstens konnte ich allein den Lichtschalter betätigen und bestimmen, wann ich schlafen wollte. Was für ein tolles Grundrecht. Keinerlei Privatsphäre, jede Menge Drogen, Psychogewäsch und eine erneute Gefangenschaft. Ich lag im Bett und starrte die Decke an. Plötzlich war da wieder ein leichter Geruch nach Pfefferminze. Was war das? Kurze Zeit später fielen mir bereits die Augen zu, ohne dass ich noch groß über meine missliche Lage oder die Herkunft des Geruchs hätte nachdenken können.

    3. Alexandra

    Nervös zupfte ich an meinem Shirt herum. Das Frühstück war schon lange beendet und ich wartete jetzt auf den Besuch von André. Würde er wirklich kommen? Oder würde dieser Dr.-keine-Ahnung-mehr-wie-der-hieß auftauchen und mir wieder erzählen, dass ich mir alles nur einbildete? Mein Kopf fühlte sich immer noch wie in Watte gepackt an. Ich musste bereits einige Tabletten

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1