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Soultaker 3 - Die zwei Seiten der Macht
Soultaker 3 - Die zwei Seiten der Macht
Soultaker 3 - Die zwei Seiten der Macht
eBook527 Seiten7 Stunden

Soultaker 3 - Die zwei Seiten der Macht

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Über dieses E-Book

Band 3 der Soultakerreihe: Das Abenteuer von Alex, Sam und den Soultakern geht weiter...

Finsternis und Erleuchtung...

... bestimmen Alexandras Leben. Gerade hat sie sich zusammen mit Sam und den White Takern ein idyllisches Leben auf dem Land aufgebaut – doch die Ruhe täuscht. Plötzlich sieht sich Alexandra mit einem Anschlag nach dem anderen kon-frontiert, und nicht nur sie scheint den Hass eines Feindes auf sich gezogen zu ha-ben, sondern auch die Menschen, die ihr Nahe stehen. Eine unheilvolle Offenba-rung bringt außerdem die gesamte Soultaker-Gemeinschaft in Bedrängnis und wird die Welt für immer verändern. Ein schwerer Weg liegt vor Alexandra, der sie an die Grenze des Erträglichen bringt und zudem die Liebe zwischen ihr und Sam auf eine harte Probe stellt. Wird es Alexandra gelingen ihre Familie zu beschützen und sich mit den neuen Begebenheiten zu arrangieren?
SpracheDeutsch
HerausgeberPlattini Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2022
ISBN9783947706525
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    Buchvorschau

    Soultaker 3 - Die zwei Seiten der Macht - Christiane Grünberg

    CHRISTIANE GRÜNBERG

    Soultaker

    Die zwei Seiten der Macht

    1. Auflage 2021

    ISBN 978-3-947706-51-8 (Taschenbuch)

    ISBN 978-3-947706-52-5 (e-Book)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

    © Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

    https://www.plattini-verlag.de

    Lektorat: Lektorat Feder und Eselsohr – Troisdorf

    Korrektorat: Jana Oltersdorff – Dietzenbach

    Umschlaggestaltung: Renee Rott – Eitzweiler

    Konvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

    www.soultaker.hamburg

    Diese Geschichte widme ich allen Menschen, die von einem schweren Schicksal getroffen wurden. Auf dass wieder lichtere Tage kommen und die finsteren Momente weichen.

    1 Der Hinterhalt

    Gelangweilt verlagerte ich mein Gewicht von einem auf das andere Bein. Die feucht schwüle Luft erzeugte kleine Schweißperlen auf meiner Stirn, und ich sehnte mich nach einer erfrischenden Dusche.

    Seit zwei Stunden beobachteten wir die angesetzte Corona-Demonstration in Hamburg in der Mönckebergstraße, die vom Bahnhof aus, quer durch die Fußgängerzone verlaufen sollte. Die Straßen waren voll, aber es blieb dennoch ruhig, und die Menschen hielten sich weitestgehend an die Masken- und Abstandsregeln.

    Meine Task-Force, die aus Sam, Jens, Loki und vier weiteren Soultakern bestand, war eingereiht zwischen den Hamburger Polizisten. Die Kollegen wussten zwar, dass wir eine spezielle Aufgabe hatten, die genauen Hintergründe und Fähigkeiten unserer Gruppe waren ihnen allerdings nicht bekannt. Dennoch, die Polizisten zeigten sich für jede Hilfe dankbar und stellten keine Fragen. Immerhin unterstanden wir dem Verfassungsschutz. Das war schon eine Hausnummer und beeindruckte die Männer und Frauen, sorgte jedoch vor allem für das, was bei unserer Arbeit am wichtigsten war: Vertrauen.

    Es war viel passiert in den letzten Monaten. Seit Anfang des Jahres kämpfte die Welt gegen ein Virus, das jeden Menschen, egal in welchem Alter und unabhängig von der körperlichen Verfassung, ereilen konnte. Die Gesellschaft war darauf nicht vorbereitet gewesen. Wie hätte sie das auch sein können? Eine Pandemie dieses Ausmaßes hatte es seit 100 Jahren nicht mehr gegeben.

    Und obwohl alle Länder auf der Erde sich mit dem gleichen Problem konfrontiert sahen, schlug jedes für sich seinen eigenen Weg ein, um damit umzugehen, anstatt dieses Jahrhundertereignis gemeinsam zu bekämpfen – typisch! Wir in Deutschland hatten Glück, die Corona-Pandemie wütete hier nicht ganz so verheerend wie in anderen Ländern. Lag es an dem harten Lockdown vor drei Monaten? Einfach alles wurde damals geschlossen, Restaurants, Schulen, Kitas, Kultureinrichtungen, Firmen, die kein Homeoffice anbieten konnten und keine Systemrelevanz darstellten. Es wurde ein absolutes Kontaktverbot erlassen und eine Ausgangssperre. Das ging vier Wochen lang so. Zudem wurde endlich mehr Geld für die Aufstockung von Pflege- und Krankenhauspersonal ausgegeben. Sogar der Zivildienst würde nach dem Sommer wieder eingeführt werden. Jeder Jugendliche ab sechzehn Jahren musste nach der Schule für mindestens ein halbes Jahr eine gemeinnützige oder systemrelevante Einrichtung unterstützen. Dafür bekam man einen höheren Wartelistenplatz bei der Unianmeldung – vor allem bei Fächern mit Numerus Clausus war das viel wert! – oder bessere Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Zudem wurden diese Arbeiten entlohnt, was für viele junge Menschen eine neue Alternative zu einem unbezahlten Praktikum nach der Schule bot. Nach einem anfänglichen Aufschrei in der Bevölkerung, wurden, nach der Vorstellung des gesamten Belohnungspaketes, die wütenden Stimmen allmählich weniger.

    Als die Pandemie so weit eingedämmt war, dass man jede Infektion innerhalb weniger Stunden nachverfolgen konnte, wurden die Beschränkungen in allen Bereichen gelockert, gleichwohl mit einem striktem Hygiene- und Kontrollplan. Daran hielten sich die Einrichtungen, um nicht wieder in einen absoluten Lockdown gehen zu müssen. Die Wirtschaft war zwar angeschlagen, begann sich allerdings schnell durch Hilfsgelder zu erholen. Was uns noch blieb, waren die AHA-Regeln sowie Neustrukturierungen von Großveranstaltungen.

    Es gab außerdem einen weiteren Grund für den milden Verlauf in Deutschland: die Soultaker. Unsere Heiler arbeiteten inzwischen auf fast jeder Intensivstation, um schwere Verläufe zu unterbinden. Dadurch wurden Todesfälle und eine Überlastung der Krankenhäuser vermieden. Im Gegensatz zum Ausland setzten wir außerdem nicht nur auf die Erforschung eines Impfstoffes, sondern auch auf Medikamente zur Behandlung von Corona selbst. Das Ziel war, aus Corona eine neue jährliche Grippe zu machen, denn eines war klar: Eine Ausrottung des Virus war, durch die vielen Mutanten, so gut wie ausgeschlossen. Also mussten wir das Beste aus unserem Schicksal machen.

    Die Soultaker halfen natürlich bei der Erforschung der Behandlungsmedikamente mit. Dabei wurde während eines Energietransfers untersucht, wo die Heilkräfte zuerst ansetzten. Die medizinischen Möglichkeiten sollten genau das kopieren und unabhängig von uns behandeln können. Das zeigte Wirkung. Mehrere Stoffe sollten nun in einem Medikament vereint werden, welches in einigen Monaten, spätestens im Winter, zugelassen werden sollte.

    Viele unserer Nachbarländer hatten nicht so viel Glück, die Beschränkungen blieben für längere Zeiträume bestehen, was die Wirtschaft stark schädigte. Doch es gab auch Ausnahmen, und wir überlegten, ob die Regierungen dort ebenso mit Soultakern zusammenarbeiteten wie in Deutschland.

    Loki, der Sprecher des Rates der Soultaker, war ständig im Gespräch mit dem Verfassungsschutz und auch anderen hochrangigen Politikern. Wenn er nachfragte, inwieweit sich die Regierungen untereinander über unsere Gabe austauschten, blieben sie unkonkret und verschwiegen. Es musste ein Austausch stattfinden, doch mit welchem Land, oder besser gesagt, welchen Ländern und in welchem Ausmaß, wussten wir nicht.

    Im Großen und Ganzen war mir das dann auch egal. Bis zur Pandemie hatte sich mein Leben sehr angenehm entwickelt. Meine Arbeit in der Praxis, mein Zusammenleben mit Sam, alles schien entspannt und friedlich zu verlaufen. Nur das Trauma, das mir die Zeit in der Anstalt verpasst hatte, war hartnäckig. Zuerst sah es so aus, als würde ich das alles und auch das, was zuvor bei den Dark Takern passiert war, ganz gut wegstecken. Ein paar Albträume, ja, aber die hatten wir alle. Erst Monate nach der Befreiung begann meine Schutzmauer der Verdrängung zu bröckeln. Denn genau das hatte ich getan: es verdrängt. Je ruhiger mein Leben wurde, desto mehr kamen die Erinnerungen an die Oberfläche. Tanja erklärte mir, dass viele traumatische Erlebnisse manchmal erst Jahre später aufgearbeitet werden konnten. Das menschliche Gehirn entschied, wann es dazu bereit war.

    Kurz nach der Gefangenschaft hatten wir ja auch kaum Zeit zum Nachdenken. Doch nun war Beständigkeit in mein Leben eingekehrt, und das öffnete dem Trauma Tür und Tor.

    Manchmal kämpfte ich mit Panikattacken, ich hatte Angst, plötzlich anderen Menschen die Energie zu nehmen. Allerdings konnte ich meine Fähigkeiten die letzten Monate über sehr gut steuern. Sonst hätte man mich gar nicht erst für den aktiven Dienst bei der Task-Force eingesetzt. Zudem war ich glücklich über jede freie Minute mit Sam. Unsere Beziehung hatte sich sehr harmonisch entwickelt. Genau, das, was ich die letzten Monate dringend gebraucht hatte. Obwohl auch an ihm die Erlebnisse nicht spurlos vorbei gegangen waren. Wir halfen einander, so gut wir konnten.

    Gleichwohl gab es noch weitere Glücksmomente. Irina und Michael haben letztes Jahr im Juli ein kleines Mädchen bekommen – obwohl wir alle dachten, es würde ein Junge werden. Die kleine Linnea war eine schöne Überraschung und ein wahrer Schatz. Die Eltern schwelgten seitdem im Familienglück, und diese Freude übertrug sich auf die gesamte Gruppe. Ihre Auren strahlten einfach so viel Glück aus, dass wir uns dem gar nicht entziehen konnten. Es gab nicht nur das Taken und die Arbeit, wir bauten uns immer mehr ein Privatleben auf, etwas, auf das wir alle viel zu lang hatten verzichten müssen, solange die Soultaker unter dem Radar lebten.

    Allerdings brachte die Corona-Pandemie viel Unruhe in unsere Gemeinschaft. Durch den Lockdown gab es Sonderregelungen zum Taken. In den Großstädten errichtete man Taker-Zentren, wo wir uns gegenseitig die Energie nehmen konnten, damit wir keine Entzugserscheinungen bekamen. Es mag vielleicht auf den ersten Blick barbarisch klingen, allerdings bekam man Geld dafür, wenn man seine Lebensenergie von anderen absorbieren ließ. Ähnlich wie bei einer Samenspenderbank, wobei man dazusagen musste, dass Samenspenden nicht weh taten, Energie abgezogen zu bekommen schon. Je nachdem, wie aggressiv der andere dabei vorging, konnten die Schmerzen wirklich stark sein – ich wusste das aus Erfahrung. Das Geschäft war allerdings für viele ein lukrativer Nebenverdienst, gleichwohl nur für diejenigen, die ihre Kräfte gut unter Kontrolle hatten. Die anderen konnten dagegen kostenlos Energie erhalten, solange sich alles im Rahmen hielt. Fiel jemand wegen zu hohem Verbrauch auf, wurde er sowohl einem Psychologen als auch einem Ärzte-Team vorgestellt, um zu prüfen, inwieweit seine Sucht eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellte.

    Das gefiel nicht jedem Soultaker und als die Benutzung der Taker-Zentren durch Corona noch stärker reguliert und eingeschränkt wurde, gab es Aufstände und viele Angriffe auf Unschuldige.

    Im Prinzip hatte Corona also ein echt mieses Timing gehabt. Wir waren gerade dabei gewesen, uns einen Platz innerhalb der Gesellschaft aufzubauen, unsere Nische zu finden, ohne der breiten Öffentlichkeit von unseren Fähigkeiten berichten zu müssen, das war an sich schon schwierig genug. Es gab so viele Regeln für uns, Regeln, die es vorher nicht gegeben hatte, Beschränkungen und dergleichen, die sicherstellen sollten, dass wir niemanden in Gefahr brachten. Allerdings hatten die Taker schon so lange auf ihre eigene Art gelebt, dass Konflikte vorprogrammiert gewesen waren. Dann kam noch das Virus obendrauf, das dafür sorgte, dass diese Regeln noch weiter verschärft wurden und es noch mehr Einschränkungen gab, gerade in dieser sensiblen Zeit der Umstellung – das konnte nicht gut gehen.

    Daher waren wir auch hier, bei einer ganz normalen Demo von Andersdenkenden – ‚Querdenker‘, wie sie sich nannten –, die sich gegen jegliche Einschränkung durch Corona beziehungsweise durch die Regierung im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen wehrten. Die Dark Taker liebten diese Demonstrationen und mischten sich unter die Leute. Wenn es dann mit der Polizei zu Auseinandersetzungen kam, nahmen sie den Menschen die Energie. Es sah jedes Mal so aus, als ob die Polizei dafür verantwortlich war, dass es den Menschen schlecht ging, dass sie zusammenbrachen oder gar dem Tode nah waren. Das schadete nicht nur ihrem Ansehen, sondern animierte auch weitere Taker dazu, ähnlich zu agieren. Es gab im Darknet etliche Foren mit Anleitungen, wo und wie man am besten unbemerkt an Lebensenergie herankam.

    Der Job meiner Sondereinheit war es also, die schwarzen Schafe unter uns aufzuspüren und zu selektieren – möglichst unauffällig natürlich.

    Sam stand genauso gelangweilt neben mir und nutzte die Gelegenheit, sanft mit den Fingern über meine Handinnenfläche zu streicheln und dann ganz leicht über meine Taille. Ein wohliges Gefühl überkam mich, und ich zwinkerte ihm zu. Mein Lächeln sah er leider unter der Maske nicht, aber er kannte meine Augen und wusste, wie sie strahlten, wenn er mich berührte.

    „Ich freue mich schon darauf, wenn ich dich aus deinen dick vermummten Arbeitsklamotten befreien kann", hauchte er mir heiser zu, zum Glück in das richtige Ohr, das, in dem kein Mini-Kommunikator saß. Mein Bauch fing sofort an zu kribbeln, bei dem Gedanken, wie er mit akribischer Sorgfalt und Ruhe jedes einzelne Kleidungsstück von meinem Körper schälte und mich dabei zärtlich berührte. Die Hitze sorgte für weitere Schweißperlen auf meiner Stirn, die sowieso schon von der hoch am Himmel stehenden Sonne befeuert wurden. Unser Juli war wieder einmal sehr heiß und trocken. Heute Nacht hatte es ausnahmsweise kurz geregnet, das brachte aber trotzdem kaum Abkühlung. Dafür war nun eine drückende Schwüle zu spüren, der Regen auf dem Asphalt war längst verdunstet, hing jedoch in der Luft, da kein Wind wehte. Gott, was würde ich jetzt für eine Dusche geben!

    „Wir sind im Dienst, Herr Evert. Muss ich Sie etwa wegen sexueller Belästigung verhaften?"

    Seine Augen funkelten spöttisch, nicht nur bei der Erwähnung seines Nachnamens. Bei den White Takern hatten wir uns alle immer nur mit Vornamen angesprochen – bei den meisten wusste ich gar nicht, wie sie mit vollem Namen hießen. Im Umgang mit dem Verfassungsschutz war es allerdings gang und gäbe, beim Nachnamen genannt zu werden. Eigentlich auch bei den Task-Forces. Nur unser jetziger Leiter hielt wenig von Förmlichkeit unter Kollegen.

    „Den Gedanken finde ich äußerst reizvoll", raunte er, die erotische Spannung war kaum auszuhalten. Die ganze Woche waren wir unterwegs gewesen und hatten kaum Zeit für Zweisamkeit gehabt.

    „Oh Gott, könnt ihr euch nicht zusammenreißen, bis wir wieder zu Hause sind?", grummelte Jens uns von der Seite an, er stand neben Sam und trotz unseres Flüsterns und der Umgebungsgeräusche hatte er das meiste scheinbar mitbekommen und warf uns einen genervten Blick zu. Ups.

    Sam und ich mussten ein Lachen unterdrücken und versuchten, uns dann wieder auf die Straße mit den Demonstranten zu konzentrieren.

    Einige Protestierende wurden ermahnt, weil sie keine Masken trugen, doch sonst kam es kaum zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ein Glück, da hatte es schon ganz andere Versammlungen gegeben.

    Mein Part war es, mit meiner Auren-Erfassung die Menschenmenge zu scannen, um Soultaker herauszufiltern. Das gelang mir inzwischen schon richtig gut. Die Signatur der Lebensenergie von Soultakern unterschied sich leicht von der der Norms. Letzteres war ein Begriff für die normalen Menschen, irgendwie hatte er sich in unseren Sondereinheiten durchgesetzt. Ursprünglich kam er von den Berliner Soultakern, und Annalena, die zweite Sprecherin des Soultaker-Rates, schmuggelte ihn in unseren Sprachgebrauch ein. Selbst unsere Kollegen ohne die Gabe verwendeten ihn mittlerweile.

    Die Aura der Taker wurde von einem zusätzlichen Schleier begleitet, hell oder dunkel, je nach Gesinnung. Manchmal gelang es mir sogar, Leute mit unserer Gabe zu finden, die noch nicht aktiv ihre Fähigkeiten genutzt hatten. Ähnlich wie Xaviar. Ein Schatten legte sich über mein Gemüt, als ich an ihn dachte.

    Er hatte für eine gefährliche Institution namens „Die Anstalt" gearbeitet, die mich vor zwei Jahren zusammen mit Tanja, André und Sam gefangen genommen hatte, um unsere Kräfte auszunutzen. Wir konnten fliehen, und Xaviar wurde von mir unschädlich gemacht. Er gehörte einem riesigen Netzwerk von Norms und Takern an, die versuchten, die Gabe für ihre eigenen Interessen zu verwenden. Dank des Verfassungsschutzes wurden wir nun vor solchen Gemeinschaften weitestgehend geschützt. Dafür mussten wir uns aber auch ihren Regeln unterwerfen und die Meldepflicht für uns akzeptieren. Das ermöglichte ein vorwiegend entspanntes Leben – der Preis war also für die meisten von uns akzeptabel. Für mich und die anderen, die entführt und gefoltert worden waren, definitiv! Ich würde alles tun, um zu verhindern, jemals wieder in so eine Lage zu geraten.

    Aber die Erlebnisse meiner Vergangenheit suchten mich immer noch heim, vorwiegend in Albträumen. Ob sie wohl jemals verschwanden? Die Nächte, in denen ich schwitzend, keuchend, mit Steinen im Magen und rasendem Herzen aufwachte, wurden weniger, doch die Intensität blieb. Flashbacks nannte man das. In diesen Momenten saß ich wieder in der Zelle und zuckte bei jedem Geräusch zusammen, panisch vor Angst, abgeholt zu werden, um unschuldigen Menschen die Energie nehmen zu müssen. Von den anderen Dingen ganz zu schweigen. Zusehen zu müssen, wie einem geliebten Menschen mit Gewalt die Energie entzogen wurde … verantwortlich zu sein, dass dies Freunden angetan wurde, als Bestrafung … Ich fragte mich immer wieder, wie lange ich wohl brauchen würde, um diese Ängste und Erinnerungen loszuwerden.

    Meinen Freunden ging es ähnlich, allerdings versuchte jeder auf seine Weise, mit den Erlebnissen fertig zu werden. Sam verdrängte seine Ängste und spielte sie mit Humor herunter, nichtdestotrotz hatte auch er unruhige Nächte, in denen er meine Nähe suchte und mit unserer Zweisamkeit die Schatten verscheuchte. Allgemein war es ihm stets ein Bedürfnis, mich zu berühren, auch im Alltag. Er nahm oft meine Hand oder hielt mich mit seinen Armen umschlungen. Vielleicht musste er einfach spüren, dass ich da und in Sicherheit war.

    Die Bevölkerung ahnte immer noch nichts von unserer Macht und damit das auch so blieb und unsere Leute sich an die Regeln hielten, wurden unsere Task-Forces der Geheimpolizei in jede Stadt und deren Brennpunkte geschickt.

    Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen, um mich von den erotischen Gefühlen zu befreien, die Sam in mir ausgelöst hatte, und schickte meine Nebelschwaden los, um die Demonstranten zu scannen.

    Nach einer Viertelstunde wollte ich mir schon eine Pause gönnen, als ich mitten in der Menge drei ungewöhnliche Energie-Signaturen wahrnahm. Ich hob die Hand, um die anderen aus meiner Gruppe zu warnen, dass ich etwas entdeckt hatte und es möglicherweise gleich ernst werden würde. Sie warteten nun aufmerksam auf weitere Anweisungen von mir.

    „12 Uhr: Frau mit blauer Jeans-Weste, Mann mit rotem Shirt, Mann mit Sternenmaske", sagte ich nur. Die Blicke der anderen erfassten die Zielpersonen.

    Milan, der Leiter unserer Einheit, übernahm nun das Kommando, obwohl er ein Norm war. Doch er hatte eine jahrelange Ausbildung als Polizist und Sonderermittler, die uns natürlich fehlte. Taktisches Vorgehen war also definitiv sein Job. Wir gaben lediglich Rückendeckung. Sollte einer der Taker die Polizisten angreifen, würden wir uns ihnen entgegenstellen. Gabe gegen Gabe sozusagen.

    „Alex, Sam, Ingo, Johannes. Ihr verfolgt die Ziele direkt und drängt sie nach außen. Jens, Loki, Henrik, wir halten uns am Rand auf und nehmen sie in Empfang."

    Alle nickten und mischten sich unter die Menge. Mein Atem ging schneller, und Adrenalin pumpte mir durch die Adern. Hoffentlich kam es zu keiner öffentlichen Rauferei. Dann mussten wir dem Verfassungsschutz-Ausschuss Rede und Antwort stehen, und der Aufenthalt hier in Hamburg würde sich wieder verlängern – ganz abgesehen vom Papierkram! Ich glaube, die meisten von uns schreckten davor zurück, ihre Gabe während eines Einsatzes einzusetzen, nicht wegen der Anhörungen, sondern wegen des Papierkrams – so viele Formulare und alles in dreifacher Ausfertigung! Das hatten sie bestimmt mit Absicht gemacht.

    Ohne andere Demonstranten zu berühren, versuchte ich mich durch die Bahnen zu pirschen und überprüfte nebenbei noch mal meine Auren-Erfassung, ob ich mich auch nicht geirrt hatte. Sekunden vergingen, und auf einmal wurden die ausfindig gemachten Taker nervös. Sie warfen immer wieder ein Blick in unsere Richtung und spürten, dass wir sie einkreisten. Ihre Laufrichtung änderte sich, sie strebten zum Rand. Allerdings waren sie nicht die einzigen. In Begleitung von vier Norms verließen sie die Menschenmenge und bogen in eine Gasse ab. Ob sie sich kannten oder vielleicht sogar etwas planten, konnten wir nicht sagen. Sam und ich erreichten sie zuerst.

    Plötzlich begannen sie zu laufen. Durch den Funksender in unseren Ohren konnten wir Milan unsere Beobachtung mitteilen, der uns befahl, die Verfolgung aufzunehmen. Loki, Jens und die anderen hatten inzwischen aufgeholt. Zusammen rannten wir los.

    Mein Atem ging stoßweise, und die Hitze schien mich schier zu erdrücken. Feuchtigkeit sammelte sich an meiner Nase unter der Maske, und die Luft war so stickig, dass ich kaum atmen konnte. Wie konnte man dauerhaft so arbeiten? Ich bewunderte die Einsatzkräfte, die den ganzen Tag mit diesen Dingern rumlaufen mussten und dabei oft noch körperlich aktiv waren. Ich wusste schon, warum ich beruflich als Arzthelferin arbeitete und nicht als Polizistin.

    Die Gruppe vor uns teilte sich auf einmal auf.

    „Sam, Alex – links. Loki, Henrik – rechts. Jens und ich vorne. Rest bleibt", ertönte Milans Stimme von hinten.

    Wir gehorchten, ohne unsere Bewegungen zu unterbrechen, und sprangen über einige Kisten, die uns den Weg in einer kleinen Gasse versperrten. Vor Sam und mir liefen zwei Personen. Allerdings waren das die Menschen und nicht die Taker, ich wusste nicht, warum sie vor uns flohen.

    „Stehen bleiben, wir sind von der Polizei", rief ich mit fester Stimme. Sie reagierten nicht und liefen unbeirrt weiter. Ein Zickzack-Kurs aus Containern, Kisten und Müll forderte unsere Kondition heraus. Dabei waren wir eigentlich gut im Training.

    Plötzlich kam aus einer Tür zu unserer rechten ein Mann mit einem Müllbeutel heraus. Ich konnte ausweichen, doch Sam prallte direkt mit dem Mann zusammen. Er fluchte und wurde zur Seite gerissen. Ein Blick über meine Schulter verriet mir, dass Sam wohlauf war, aber dem anderen Mann helfen musste, der sich anscheinend am Kopf verletzt hatte. Ich rannte unbeirrt weiter. Fast hätte ich den einen Demonstranten am Ärmel erwischt, sie sprangen allerdings nach rechts in eine Hauseinbuchtung und blieben vor einer Wand stehen. Außer Atem hielten sie sich an der Hauswand fest und starrten mich an. Zwei Meter vor ihnen blieb ich stehen und versuchte, mein hämmerndes Herz zu beruhigen und die dringend benötigte Frischluft in meine Lunge zu pressen.

    „Warum sind Sie weggelaufen?", fragte ich ohne Umschweife. Keine Antwort, nur trotzige Blicke.

    Nun nahm ich sie näher in Augenschein. Es handelte sich um zwei Männer so um die Dreißig. Ihre kurzgeschnittenen dunklen Haare befanden sich unter zwei Baseball-Caps mit der Aufschrift „Keine Macht den Lügen". Der eine Mann war von der Statur her kleiner und muskulöser gebaut, während die andere Person schlaksig und groß war. Sie funkelten mich aus hellen Augen provozierend an und schwiegen verbissen. Der Große hatte rote Flecken im Gesicht von der körperlichen Anstrengung der Verfolgung. Ich wollte gar nicht wissen, wie ich unter meinem Anzug aussah.

    „Antworten Sie mir."

    „Sie haben kein Grund, uns hier festzuhalten. Wir sind normale Demonstranten", sagte der Kleine mit tiefer, bedrohlicher Stimme.

    „Warum sind Sie dann plötzlich losgelaufen?"

    Ich durfte nicht nach den Soultakern fragen, vielleicht hatten sie gar nichts miteinander zu tun.

    „Es ist ein freies Land", gab der andere nun dazu.

    Mit einem nervösen Blick über die Schulter suchte ich nach Sam, aber er war nirgends zu sehen.

    „Alex, alles gut bei dir?", fragte Milan durch den Sender im Ohr.

    „Ja, ich habe zwei potenzielle Gefährder. Sie sagen aber nichts. Wo ist Sam?"

    „Ich komme gleich dazu", antwortete dieser nun mit abgehackter Stimme durch sein Mikro.

    Plötzlich traten die beiden Demonstranten einen Schritt auf mich zu.

    „Keinen Schritt weiter! Wir werden Sie noch mal kurz befragen, wenn mein Kollege dazukommt, und Ihre Daten aufnehmen. Dann können Sie gehen."

    „Sicher nicht", sagte der andere drohend. Plötzlich wurde mir die Energie entzogen. Erschrocken keuchte ich auf und ließ mich auf die Knie nieder. Der Vorgang war so schnell und stark über mich hereingebrochen, dass ich völlig überrascht wurde. Meine Gabe reagierte schneller. Meine Nebelschwaden schossen auf die Gestalten zu und erreichten ihre Aura in Sekundenschnelle. Sie stöhnten auf und hielten sich den Hals sowie die Brust. Dennoch zerrte eine fremde Macht weiterhin an meiner Lebensenergie. Irgendwas stimmte hier nicht. Mit letzter Konzentration versuchte ich, meine Auren-Erfassung zu aktivieren. Es waren tatsächlich nur Menschen, keiner von beiden war für meinen Kräfteverlust verantwortlich. Was passierte hier? Ich unterbrach meinen Angriff auf die Demonstranten und suchte nach dem Taker, der meine Kraft absorbierte. Aus den Augenwinkeln nahm ich gleichzeitig wahr, dass sich auch die beiden Männer weiterhin unter Schmerzen wanden. Verwirrt und panisch hielt ich keuchend meine Brust.

    Plötzlich hörte ich ein Geräusch aus einem Fenster über mir. Ein Klacken. Ich sah nach oben und erblickte eine vermummte Person, die mich anstarrte. Sie hatte außerdem ein Handy in der Hand, welches auf mich gerichtet war.

    Scheiße, rief ich in Gedanken laut, während die beiden Männer bereits auf dem Boden lagen und drohten, das Bewusstsein zu verlieren. In diesem Moment kam Sam angerannt und versuchte, die Situation zu erfassen.

    „Alex, was machst du?", rief er irritiert.

    In diesem Augenblick versiegte die Macht, die sich an meiner Aura festgesogen hatte. Keuchend und erschüttert hockte ich auf dem Boden. Ein Blick nach oben verriet mir, dass die Person am Fenster verschwunden war. Mir gegenüber lagen noch die beiden Demonstranten auf dem kalten Boden. Ihre Augen geschlossen. Aber sie atmeten noch.

    „Dort oben … war jemand", krächzte ich und zeigte mit dem Finger auf das Fenster, das jetzt verlassen war.

    Sam kniete sich zu mir auf den Boden.

    „Ist die Person noch in der Nähe?", fragte er.

    „Ich erreiche sie nicht mehr", sagte ich nur knapp und schloss die Augen.

    „Das sind Menschen", fuhr ich entkräftet fort und zeigte auf die beiden bewusstlosen Männer.

    „Wer hat ihnen die Kraft genommen, die Person vom Fenster?", wollte Sam wissen.

    „Ja, aber ich auch", meine Stimme versagte bei diesen Worten. Und in diesem Moment wurde mir mit voller Wucht bewusst, dass die Männer mit hoher Wahrscheinlichkeit nur mich gesehen hatten und annehmen würden, ich wäre für ihren Zustand verantwortlich. Kalt lief es mir den Rücken runter. Das würde richtig Ärger geben.

    Soultaker

    2 Ein Sturm zieht auf

    Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt. Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Wir befanden uns in einem Konferenzraum, in einem Altbausitz an der Innenalster. Hier saß der Verfassungsschutz von Hamburg und somit auch eine Untereinheit der Abteilung für Soultaker-Angelegenheiten.

    Seit mehr als einer Stunde mussten wir uns einem Verhör durch die Richter unterziehen, die den Zwischenfall auf der Demonstration untersuchten.

    „Wir sagten bereits, dass Frau Winter rein aus Notwehr agiert hat und nicht, weil sie überreagierte. Es handelte sich mutmaßlich um einen provozierten und geplanten Zwischenfall", teilte Loki mit.

    Milan bekräftigte Lokis Ausführungen mit einem Nicken. Sam, Jens und die anderen mussten draußen vor der Tür warten, was besonders Sam nicht sonderlich gefiel. Aber er hatte keine andere Wahl. Und nun saß ich hier mit Milan und Loki und versuchte, mein Handeln zu rechtfertigen. Der Konferenzraum hatte hohe Wände und Decken mit Stuckverzierungen. Der Tisch, an dem wir saßen, war weiß und hatte eine glänzende, marmorierte Oberfläche. Die Stühle waren mit schwarzem Leder überzogen, aber recht bequem. Ein paar Zimmerpflanzen sorgten in dem sonst sehr kahlen Raum für etwas Farbe. Dennoch wirkte die Atmosphäre trotz des Altbauflairs von Hamburg kühl und distanziert.

    „Frau Winter, Sie sagten, Sie haben bereits bei der Verfolgung gewusst, dass es sich um normale Menschen handelte. Warum haben Sie ihnen dennoch die Energie genommen?", fragte ein älterer, circa sechzig Jahre alter Mann mit einer viereckigen Brille auf der Nase, die er weit heruntergezogen hatte.

    Drei Richter saßen uns gegenüber, eine Frau und zwei Männer. Alle nicht jünger als fünfzig Jahre. Ruhig, besonnen, dennoch knallhart in ihren Ausführungen. In unterschiedlicher Reihenfolge bombardierten sie uns mit Fragen.

    Ich war müde und erschöpft. Der ganze Vorfall lastete schwer auf meiner Seele. Wie konnte mir nur so ein Fehler unterlaufen? Und wer war die Person gewesen, die mich gefilmt hatte? Grassierte das Video bereits in den Medien? Ich versuchte, die nächsten Worte mit viel Bedacht zu wählen.

    „Es besteht immer die Möglichkeit, dass ein Mensch seine Gabe noch nicht aktiviert hat. Nicht immer kann ich sein Potenzial erkennen. Gerade in so einer Situation. Und da keine andere Person augenscheinlich in der Nähe war und ich abrupt angegriffen wurde, musste ich handeln."

    Auch wenn ich einen Großteil meiner Arbeitsklamotten bereits ausgezogen hatte, schwitzte ich immer noch, und meine Haare klebten unangenehm an meinem Gesicht. Ich hoffte, dass die Befragung bald ein Ende hatte, damit wir nach Hause konnten.

    Ich hasste es, so im Mittelpunkt zu stehen. Mein Magen zog sich zusammen, bei jedem missbilligenden Blick, den mir einer der Richter zuwarf. Loki und Milan saßen zum Glück an meiner Seite und verteidigten mich. Trotzdem fühlte ich mich unbeschreiblich klein.

    „Hätten Sie denn nicht mit Ihrer, wie nennen Sie das, Auren-Erfassung, die angebliche Person über Ihnen spüren müssen?", fragte nun die Frau.

    Sie hatte ihre dunklen Haare streng nach hinten gekämmt, nur hier und da waren sie von kleinen weißen Strähnen durchzogen, die etwas von ihrem fortgeschrittenen Alter verrieten. Ihre blauen Augen hatten einen stechenden Blick und verfolgten jede Bewegung von mir. Ihr Kinn nach oben gereckt und die Hände vor sich verschränkt, empfand ich sie als ziemlich einschüchternd und autoritär. Aber das musste man als Richter wahrscheinlich auch sein.

    „Nein. Meine Gabe ist nicht in jedem Moment aktiv. Vor allem nicht, wenn ich mich auf einen ganz anderen Bereich konzentriere."

    Ich versuchte, meine Stimme so bestimmt wie möglich klingen zu lassen. Die Frau nickte nur als Antwort.

    „Wir werden die Demonstranten morgen noch mal befragen. Bis jetzt waren sie sehr wortkarg und aufgelöst wegen dem, was passiert war. Da Sie die Taker, die Sie zuerst verfolgt haben, leider nicht verhaften konnten, bleiben uns nur die beiden mutmaßlich geschädigten Männer zur Befragung. Und da müssen wir vorsichtig vorgehen. Wir wenden die übliche Ausrede an, eine defekte Tränengasdose in Ihrem Gürtel, die zur Bewusstlosigkeit der umstehenden Personen geführt hat", erklärte der zweite männliche Richter, der mit knapp fünfzig Jahren, der jüngste im Bunde war. Seine dunkelbraunen Augen taxierten mich, dennoch wirkte er recht emotionslos bei dem Gespräch und sagte nur wenig. Er strich sich gelangweilt durch sein dunkles Haar, das ihm wegen seiner Fülle und Vitalität ein relativ junges Aussehen verlieh. Er lehnte sich in seinen Stuhl nach hinten und verschränkte die Arme vor der Brust. Anscheinend war für ihn die Angelegenheit so gut wie abgeschlossen.

    „Bei allem Respekt: Sie sollten den Männern richtig auf den Zahn fühlen, auch wenn es nur Menschen waren. Sie haben womöglich mit den Takern zusammengearbeitet und einen unserer Leute bewusst in einen Hinterhalt gelockt und gefilmt. Das kann alles kein Zufall sein", brachte Milan sich nun ein.

    „Mag sein, aber die Verhafteten haben die Person am Fenster nicht gesehen und wissen nichts von einer Inszenierung. Wenn wir Ihr Geheimnis bewahren wollen, dürfen wir ihnen keine Details offenbaren, von denen sie nichts ahnen. Damit würden wir die Situation nur verschärfen und kämen dann wirklich in Erklärungsnot."

    „Lassen Sie uns an der Befragung teilnehmen", bat Loki bestimmt, aber in seiner gewohnten freundlichen und gelassenen Art. Nicht umsonst hatten wir ihn zum Ratsvorstand gewählt.

    „Nein. Zunächst wollen wir das Thema nicht weiter aufbauschen. Wenn die Männer keine Anzeige gegen Frau Winter erheben – und danach sieht es derzeit aus –, lassen auch wir das Thema auf sich beruhen. Die IT ist bereits vorgewarnt, falls ein Video von diesem Vorfall auftaucht, werden sie es zurückverfolgen und löschen. Mehr werden wir nicht tun", sagte die Richterin mit dem strengen Blick.

    Milan knirschte mit den Zähnen, und bei Loki nahm ich ein leichtes Zucken um die Augen wahr. Ich hingegen wollte einfach nur hier raus.

    „Sie sind dann erst mal aus dem Vorfall raus. Allerdings werden wir Frau Winter von der Arbeit in der Task-Force vorübergehend befreien, bis der Vorfall geklärt ist und sie sich einem Psychologen vorgestellt hat. Der wird dann ihre Arbeitstauglichkeit überprüfen", führte die Richterin fort.

    „Was? Ich lehnte mich erschrocken nach vorne und starrte mein Gegenüber an. „Das kann nicht Ihr Ernst sein? Meine Stimme überschlug sich fast. Warum wurde ich nun bestraft? Und dann noch ein Psycho-Klempner? Das war wohl ein schlechter Scherz.

    „Hören Sie, wir müssen die Menschheit schützen und dürfen kein Risiko eingehen. Das ist reine Formsache", erwiderte nun der ältere Mann.

    „Mag sein, Frau Winter allerdings eine derartige Bedingung aufzuerlegen, lässt auf einen Generalverdacht schließen. Die Ärztin des Soultaker-Rates, Frau Westphal, kann jedoch gern das Gutachten übernehmen", wandte Loki ein mit einem warnenden Blick zu mir, der mich aufforderte, nichts mehr zu sagen.

    Mir war das nur recht. Bei dem Wort Psychologe geriet meine ganze Seele in Aufruhr. Kindheitserinnerungen blitzten vor meinen Augen auf. Ich war völlig durcheinander.

    „Nein. Wir wissen um Ihre sozialen Verbindungen untereinander. Die Untersuchung wird ein neutraler Psychologe bei uns im Hause übernehmen. Frau Winter, Sie bekommen einen Kontakt genannt und sollten sich zeitnah bei ihm melden. Je schneller Sie das Gutachten haben, desto eher können Sie wieder arbeiten. Das gilt genauso für Ihre Arbeit im Haus für Körper und Seele."

    Mir klappte die Kinnlade herunter. Unfassbar. Wütend stand ich so schnell auf, dass mein Stuhl scheppernd gegen die hintere Wand knallte. Loki wollte meinen Arm erfassen, doch ich rannte aus dem Raum. Rote Schleier bildeten sich vor meinen Augen. Ich war dermaßen wütend und aufgewühlt wie schon lange nicht mehr. Von der Wucht meiner Emotionen getroffen ging ich raus in den Gang und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Jens und Sam saßen in einem Wartebereich etwa fünf Meter weit entfernt und sahen mich wie eine Furie aus dem Besprechungsraum laufen. Verwundert traten sie mir entgegen. Aber ich hielt die Hand abwehrend hoch und presste aus zusammengekniffenen Lippen heraus:

    „Ich muss an die frische Luft. Allein."

    Sam und Jens blickten mir stirnrunzelnd nach. Kurze Zeit später hörte ich noch, wie Milan und Loki aus dem Konferenzraum traten und zu ihnen gingen.

    Anstatt des Fahrstuhls nahm ich das Treppenhaus. Bewegung tat mir gut, um meine Gabe im Zaum zu halten. Es war Monate her, dass sie sich nach draußen bahnen wollte, ohne dass ich sie bewusst aktiviert hatte. Derart aus der Haut zu fahren, war überhaupt nicht meine Art. Der Vorfall schien mir mehr zuzusetzen, als ich dachte. Einen Fehler bei einem Einsatz zu machen, war schon schlimm genug, aber die Erkenntnis, dass mich jemand bewusst in eine Falle locken wollte, sorgte für ein Gefühl des Kontrollverlustes und der Scham, denn ich war auch noch mitten in die Falle hineingelaufen.

    Doch der eigentliche Auslöser meiner Wut war das Gutachten, genau genommen, das Vorstellen bei einem Psychologen. Ich hatte eine natürliche Aversion gegen diesen Berufsstand. Meine halbe Kindheit hatte ich bei ihnen verbracht. Und warum? Weil meine Mutter mich und meine Schwester einfach zu unserer Tante abgeschoben hatte, als mein Vater gestorben war. Ich war damals drei, meine Schwester sechs Jahre alt gewesen. An meine Eltern konnte ich mich kaum erinnern und auch nicht an den tragischen Tod meines Vaters. Allerdings sorgte unsere Tante dann dafür, dass wir wöchentlich bei einem Psychologen ausharren mussten, für etliche Jahre, um unser ‚Trauma‘ aufzuarbeiten. Das waren einige der schrecklichsten Erlebnisse meines Lebens gewesen, mal abgesehen von der Anstalt oder den Dark Takern.

    Normalerweise behielt ich meine Kindheit schön versteckt und verdrängt im hintersten Winkel meiner Seele. Jahrelang hatte das funktioniert. Nie redete ich darüber. Nur André und Sam wussten einige wenige Details. Da die meisten von uns Soultakern eine schwere Kindheit oder schlechte Familienverhältnisse durchlebt hatten, war es bei uns allen üblich, nur wenig darüber zu reden. Es gehörte zu einem anderen Leben.

    Doch mit einem Schlag, durch diesen einen Satz des Richters, war alles auf einmal wieder präsent, und ich fühlte mich in die Enge getrieben. Das Gefühl war so übermächtig, dass ich nicht wusste, wie ich es bewältigen sollte.

    Was, wenn dieser Psychologe eben nicht neutral war? Was, wenn er es auch auf mich abgesehen hatte? Wenn er alles zu Tage fördern würde, was ich so sorgfältig verstaut hatte? Oder noch schlimmer, wenn er mich zwang, alles noch einmal ganz genau mit ihm durchzugehen? Wer wusste schon, ob dann mein inneres Gleichgewicht nicht wieder ins Wanken geraten würde? Mein Leben war die letzte Zeit so schön gewesen, ich wollte es mir nicht ausgerechnet von einem verfluchten Psychologen durcheinanderbringen lassen.

    Unten auf der Straße angekommen beruhigte sich mein Herz ein wenig, auch wenn mich die stickige Luft wie eine Wand traf, während ich aus dem klimatisierten Gebäude trat. Ich strich mir übers Gesicht und ging vor der Tür auf und ab. Das Sicherheitspersonal beäugte mich misstrauisch, ließ mich aber in Ruhe. Sollten sie doch denken, was sie wollten.

    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis meine Freunde endlich auch aus dem Gebäude traten. Auf dem Weg zum Auto wandte sich Loki weiterhin an Sam und Jens, während er von dem Gespräch berichtete. Ich stapfte wortlos vorneweg. Sam legte ganz vorsichtig seine Hand auf meinen Rücken. Das war die einzige Berührung, die ich gerade zulassen konnte, ohne ihn anzufahren. Er konnte ja auch nichts dafür. Wütend und durcheinander setzte ich mich sofort auf die Rückbank und starrte aus dem Autofenster.

    „Willst du darüber reden?", fragte mich Sam mitfühlend.

    „Nein. Jetzt nicht", brummte ich, ohne ihn anzuschauen. Er verstand, und sie ließen mich in Ruhe, führten allerdings die gesamte Fahrt hinweg eine hitzige Debatte über die Richter.

    „Ich verstehe einfach nicht, warum sie die Sache auf sich beruhen lassen wollen. Da läuft doch irgendetwas schief", bemerkte Sam und musterte mich immer noch besorgt von der Seite.

    Jens setzte sich nach vorne zu Loki, der das Auto Richtung Neuenfelde steuerte. Unsere Heimat. Je nach Verkehr würde die Fahrt knapp eine Stunde dauern. Ich wünschte, ich wäre innerhalb eines Wimpernschlages zu Hause. Warum konnte ich nicht die Fähigkeit haben, mich durch die Gegend zu beamen? Das wäre viel cooler als die Taker-Sache. Und das würde mich auch nicht ständig zur verdammten Zielscheibe machen. Zusätzlich wuchs in mir die Angst, dass dies vielleicht nur der Anfang von einem neuen Chaos war, das sich schrittweise anbahnte. Ich betete, das Schicksal möge es bei diesem einen Vorfall belassen.

    „Einerseits kann ich sie verstehen, andererseits glaube ich auch, dass mehr dahintersteckt. Allein schon, weil die anderen, die wir verfolgt haben, sich so gut in den Gassen auskannten, dass sie durch eine Hintertür abhauen konnten. Das war alles kein Zufall", bemerkte Loki.

    „Ist halt nur die Frage, ob es speziell um Alex ging oder allgemein um einen von uns", fragte Jens.

    Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Was ist, wenn das schon wieder irgendein Rachefeldzug war? Warum ausgerechnet jetzt? Ich schüttelte den Gedanken ab. Ich konnte mich damit heute nicht auseinandersetzen. Ich war fertig mit den Nerven, und meine Kontrolle hing am seidenen Faden.

    „Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen und erst mal abwarten. Ich werde morgen nachhaken und sehen, was ich alles in Erfahrung bringen kann. Ich werde es auf jeden Fall nicht auf sich beruhen lassen, und zur Not stellen wir eigene Nachforschungen an."

    Ich bemerkte, wie

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