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Salvinas Träume
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eBook510 Seiten7 Stunden

Salvinas Träume

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Über dieses E-Book

Wie ein Stern, der aus der Geborgenheit des Himmels gefallen ist und sich in der Einsamkeit der Stadt verliert, so fühlt sich Salvina.

Sie ist Ende zwanzig und der plötzliche Tod ihres Vaters drei Jahre zuvor hat ihre innere und äußere Ordnung durcheinander gebracht. Ohne Mutter aufgewachsen, hatte sie nur ihn. Mit ihm lebte sie sehr zurückgezogen, ohne Verwandte, ohne Freunde. Nach seinem Tod hat sie ihren Beruf als Krankenschwester aufgegeben, um seinen Antiquitätenladen weiter zu führen.

Ein Laden, der Erinnerungen an ihre Kindheit weckt. Aber auch ein Laden, der Geheimnisse verbirgt. Und so findet Salvina eine alte Truhe aus einfachem Holz mit geheimnisvollem Inhalt: den Habseligkeiten eines achtjährigen Mädchens. Die Truhe hatte ihr Vater all die Jahre akribisch vor ihr versteckt gehalten. Aber warum?

Mit dem Fund ändert sich Salvinas tristes Leben, denn sie will wissen, wer dieses Mädchen war und weshalb ihr Vater die Sachen vor ihr geheim gehalten hatte. Und dann träumt sie von dem Mädchen. Kurz darauf lernt sie Dominik kennen, der als Kind mit dem Mädchen eng befreundet war. Und schließlich träumt sie wahre Begebenheiten aus deren gemeinsamer Zeit. Ihre Träume führen sie auf die Spur zu Dominiks Geheimnis aus dieser Zeit. Ein Geheimnis, das lange vergessen und tief verdrängt in der Tiefe seiner Seele ruhte. Aber auch ein Geheimnis, das Salvina zurückwirft auf die Frage nach ihrer eigenen Identität.

Denn was verbindet Salvina mit dem Mädchen? Was verbindet sie mit Dominik? Und was hat ihr Vater damit zu tun?

Ein stimmungsvoller Roman mit tiefen Einsichten in die reiche Gefühls- und Bilderwelt einer Frau am Scheideweg ihres jungen Lebens.

Ein spannender Roman, der den Leser von Anfang an in seinen Bann zieht und nicht mehr loslässt.

Ein poetischer Roman mit starken Bildern, kraftvollen Impressionen und überraschenden Wendungen.

Ein Roman, den man nicht mehr vergessen wird.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Juli 2015
ISBN9783738033298
Salvinas Träume

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    Buchvorschau

    Salvinas Träume - Stefan von der Weide

    Sehnsüchte

    Es sind die Sehnsüchte, die uns beflügeln,

    die Hoffnungen, die uns geleiten,

    die Ängste, die uns hindern.

    Es gilt, die Ängste zu überwinden

    und die Träume zu leben ...

    Zarina

    Die Turmuhr der nahe gelegenen Kirche schlug dreimal. Ihre Schläge hallten lange nach. Wie sanfte Meereswellen, hob und senkte sich ihr Klang, mal lauter, mal leiser, mal höher, mal tiefer. Schließlich ebbten die Wellen ab, der Ton wurde schwächer und schwächer. Dann verstummten die Schläge und gaben der Nacht ihre Stille zurück.

    Um diese Zeit fuhr kein Wagen mehr durch die kleine Nebenstraße, die unter dem Schlafzimmerfenster vorbeiführte. Auch dem Verkehrslärm der Hauptstraßen der Großstadt gelang es nicht, durch die umliegenden hohen Häuserfluchten hindurch in das Schlafzimmer zu dringen. Das Haus lag in einer Oase der Ruhe inmitten des Stadtzentrums.

    Im Schlafzimmer war es dunkel. Lediglich ein schwacher Lichtschein drang von der Straßenlaterne durchs Fenster herein in den ersten Stock und strahlte von der weißen Zimmerdecke zurück. Bevor er sich in der Dunkelheit der Nacht verlor, zeichnete er die Konturen der Einrichtung nach. Ein Kleiderschrank, eine Kommode, ein Nachttisch und ein Bett drängten sich dicht aneinander und füllten den Raum. Das Zimmer war mehr hoch als breit, so hoch hatte man in Europa zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts gebaut.

    Das Bett stand mit dem Kopfende neben dem Fenster in der Ecke des Schlafzimmers. Die Bettdecke hob und senkte sich im gleichmäßigen Rhythmus des Atems der jungen Frau. Das schwache Licht verlieh ihrem Gesicht einen gelassenen und entspannten Ausdruck. Sie wirkte zufrieden, beinahe glücklich. Sie schlief.

    Neben ihrem Bett kniete ein älterer Mann. Still und abwartend kniete er, beinahe stoisch. Seine Hände ruhten in seinem Schoß, seine Schultern hingen leicht herab. Dann richtete er sich langsam auf. Er stützte sich vorsichtig auf die Bettkante und blickte auf die geschlossenen Lider der jungen Frau. Zögernd, fast unentschlossen streckte er seine Hand nach ihr aus.

    Jetzt begannen die Augen der jungen Frau, sich schnell hin und her zu bewegen. Ihre Augenlider zitterten. Ihr Atem wurde kürzer. Eine heftige Bewegung ihres Armes wehrte seine Berührung ab. Kaum sichtbar öffnete sie die Lippen und stöhnte Unverständliches. Im Schlaf sprach sie zu ihm. Im Schlaf spürte sie seine Nähe. Noch einmal stöhnte sie. »Hau ab!«, sagte sie, diesmal deutlicher, und schlief weiter. Unruhig jetzt, aber noch schlief sie.

    Hastig legte er seine Hände zurück in den Schoß und nahm wieder seine wachende Stellung ein. Die Worte der jungen Frau galten ihm, daran gab es keinen Zweifel. Dennoch blieb er. Dennoch wartete er, als hoffte er auf ihre Milde.

    Nach kurzer Zeit stieß sie einen tiefen Seufzer aus und drehte ihren Kopf zur Wand. Danach atmete sie wieder ruhiger. Ihre Augen bewegte sie nun nicht mehr. Noch einmal sank sie zurück in ihren tiefen Schlaf.

    Der ältere Mann fasste neuen Mut. Nochmals richtete er sich auf. Er beugte sich über sie und nahm vorsichtig ihre Hand. Zweimal küsste er ihre Hand, dann legte er sie behutsam zurück auf die Bettdecke. Danach rutschte er langsam auf den Knien entlang der Bettkante. Wieder beugte er sich vor. Mit seinem Mund an ihrem Ohr verweilte er einen Moment. Schließlich flüsterte er:

    »Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht!«

    Salvinas Augen begannen, sich wieder heftiger zu bewegen. Bald wurde auch ihr Atem wieder schneller und gepresster. Sie bewegte die Arme und drehte ihren Kopf dem Mann zu. Nach ein paar heftigen Atemzügen öffnete sie langsam die Augen. Zuerst lächelte sie, als sie ihren Vater erkannte, doch in ihrer Schlaftrunkenheit wusste sie nicht, was seine Anwesenheit bedeutete. Erst als sie mehr und mehr erwachte, begann sie, die Situation zu begreifen.

    Vor Entsetzen riss sie die Augen noch weiter auf. Sie wollte zurückweichen, versuchte sich aufzurichten. Mit beiden Füßen drückte sie sich von der Matratze weg, verlor den Halt, setzte ihre Füße erneut an und verlor abermals den Halt. Nur Stück für Stück gelang es ihr, vor ihrem Vater zurückzuweichen. Doch schon bald versperrte ihr die Wand den Weg zurück. Sie presste ihren Rücken in die Ecke und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen und möglichst viel Abstand zu ihrem Vater zu gewinnen. Schließlich begann sie, am ganzen Körper zu zittern.

    Für einen kurzen Moment kribbelte es in ihren Beinen. Dann erschlafften ihre Schenkel und Waden und wurden taub. Plötzlich konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen. Als wären sie von ihrem Körper abgetrennt, so lagen sie nun ausgestreckt vor ihr. Verzweifelt versuchte sie, ihre Beine anzuwinkeln, um sich mit ihren Füßen weiterhin von der Matratze wegdrücken zu können, aber sie gehorchten ihr nicht mehr. Salvina verlor den Halt und sank mit ihrem Oberkörper zurück auf die Matratze.

    Bebend öffnete sich ihr Mund. Sie wollte schreien, laut ihre Angst in die Dunkelheit der Nacht hinausschreien. Doch sie brachte keinen Ton heraus. Wie gelähmt lag sie in ihrem Bett und konnte sich nicht wehren. Hilflos und verletzbar.

    Ihr Vater rührte sich nicht. Er sah sie nur an. Die Verzweiflung seiner Tochter nahm er ohne Regung hin. Er nahm sie hin, als wäre es die Verzweiflung einer geistig Verwirrten. So, als wartete er auf den Pfleger mit der Spritze oder der täglichen Dosis eines Neuroleptikums. Dann wiederholte er seine Worte:

    »Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht!«

    Jetzt löste sich in Salvinas Brust der erste Ton. Zuerst leise und verhalten, doch von Atemzug zu Atemzug wurde er lauter und tiefer. Bald dröhnte eine alles erschütternde Stimme aus ihrer Brust, einer Brust, die viel zu schmal und viel zu zart schien, um solch eine tiefe und kräftige Stimme zu erzeugen.

    Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein. Trotzdem kniete ihr Vater neben ihr. Als wäre nichts geschehen, als wäre das Leben weiter verlaufen wie zuvor. Aber das war es nicht.

    Vor drei Jahren hatte sie ihn gefunden, am Abend seines Todes. Sie hatte seinen viel zu kalten Körper berührt, vergeblich versucht, seinen offenen Kiefer zu schließen. Dennoch hatte sie in ihrer Verzweiflung gehofft, sie könnte ihn ins Leben zurückholen. Sie hatte sein Herz massiert, ihn beatmet und gleichzeitig gewusst, dass es zu spät war. Sie kannte die sicheren Zeichen des Todes, die Starre, die Flecken. Trotzdem hatte sie auf ein Wunder gehofft, als sie den Notarzt verständigte. Erst als dieser den Tod bestätigte und den Totenschein ausstellte, gab sie ihr Hoffen auf eine Wiederbelebung auf. Es gibt kein Zurück, hatte der Arzt gesagt, ihr Vater war schon seit Stunden tot, wahrscheinlich seit dem frühen Vormittag, vielleicht sogar schon seit dem Morgengrauen.

    Dann ging er, der Arzt. Er ließ Salvina mit dem Körper ihres Vaters allein, und plötzlich war es still. Wie grauer Nebel machte sich die Stille im Raum breit und verdrängte alles Lebendige. Die Anwesenheit des Todes lässt alles Leben verstummen. Salvina saß noch lange neben dem leblosen Körper, der noch vor wenigen Stunden ihr Vater gewesen war. Sie spürte einen tiefen Schmerz in ihrem Leib, ihr Bauch schnürte sich zusammen, ihre Atmung wurde flach, ihr Geist leer, ihr Gemüt taub. Erst jetzt hatten sich die ersten Tränen gelöst. Es war der Schock, der sie – wie eine Wand aus dickem, milchigem Glas – von der Realität getrennt hatte. Es war auch der Schock, der sie die vergangenen ein, zwei Stunden wie in Trance hatte handeln lassen. Doch jetzt löste sich der Schmerz und überflutete ihre Seele mit einem Sturzbach aus Trauer, Verzweiflung und auch Wut. Lange saß sie am Bett ihres toten Vaters, halb auf ihm liegend, ihr Leib bebte, ihre Haut im Gesicht und am Hals weichte auf von der Flut ihrer Tränen und wurde rot und wund. Salvina konnte die Tränen nicht stoppen. Gegen diesen Schmerz und diese Trauer war sie machtlos.

    Später rief sie ein Bestattungsinstitut an, und nach wenigen Stunden musste sie zusehen, wie zwei Männer den Körper ihres Vaters in einen Sarg legten, den Sarg verschlossen, und ihren Vater darin wie eine Ware abtransportierten. Plötzlich war sein Leben nicht mehr. Seine Wohnung war leer und stumm, zu einer Kulisse erstarrt.

    Doch jetzt kniete er neben ihr, in ihrem Schlafzimmer, das damals das seine gewesen war. Hier hatte er gelegen, in seinem Bett, als sie ihn gefunden hatte. Salvina hatte sein Bett nach seinem Tod verkauft. Damals lag er im Bett und bewegte sich nicht mehr, und Salvina kniete neben ihm und versuchte, ihn ins Leben zurückzuholen, zurück zu ihr, sie hatte nur ihn. Jetzt lag sie in ihrem neuen Bett, und er kniete neben ihr.

    Salvina schrie aus voller Brust. Sie hatte Angst. Der Mann an ihrem Bett konnte unmöglich ihr Vater sein. Ihr Vater war tot, sie selbst hatte doch seinen Tod festgestellt, sie selbst hatte ihn begraben. Und trotzdem war er es, der neben ihr kniete. Entgegen jeglicher Vernunft wusste sie, spürte sie, dass er es war.

    Wie oft hatte sie in den vergangenen Jahren glauben wollen, er hätte lediglich eine Reise unternommen. Wie oft hatte sie glauben wollen, er stünde plötzlich vor der Tür, zurückgekehrt von dieser Reise. Immer wieder versuchte sie zu begreifen, dass seine Reise eine Reise ohne Wiederkehr war. Aber sie konnte es nicht begreifen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wohin ihr Vater so plötzlich verschwunden war. Sie wollte es nicht glauben, dass sich das Leben auflöst und nichts davon übrig bleibt.

    Plötzlich wurde sie von einem lauten Donnerschlag aufgeschreckt. Der Donner befreite sie aus der Umklammerung ihrer lähmenden Angst. Noch im Aufwachen schrie sie mit ihrer tiefen Stimme. Doch ihr Schrei war nicht so kräftig und frei, wie sie ihn geträumt hatte, er war verhalten, mehr ein tiefes Stöhnen. Sie saß aufrecht in ihrem Bett, nur ihre Füße steckten unter der Bettdecke. Wieder durchzuckte ein gleißend heller Blitz die dunkle Nacht. Sofort zischte und polterte der Donner, als wollte er die ganze Stadt in Schutt und Asche legen. Dann prasselte der Regen.

    Im Schein des Blitzes konnte Salvina sehen, dass sie alleine war. Wo war ihr Vater? Noch eben hatte er seine Bitte ausgesprochen, er konnte nicht plötzlich verschwunden sein. Panisch griff sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Mehrmals musste sie nachfassen, bis ihre Finger den Kippschalter greifen konnten. Als sie ihn drückte, und die kleine Lampe ihr Schlafzimmer in ein mildes Licht tauchte, erkannte sie die Wirklichkeit. Sie hatte geträumt. Sie hatte die Rückkehr ihres Vaters nur geträumt.

    Allmählich schlug ihr Herz ruhiger, und ihre Anspannung legte sich. Erschöpft sank sie zurück in ihr Bett. Sie zog die Decke bis unters Kinn und atmete tief durch. Manchmal durchlebte sie ihre Träume so realistisch, dass sie nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Es waren die Details, die es ihr schwer machten, ihre Erlebnisse einzuordnen.

    Sie starrte auf die Zimmerdecke und klammerte sich mit beiden Händen an die Bettdecke, so, als wollte sie sich darunter verstecken. Sie fragte sich, weshalb sie im Traum diese panische Angst vor ihrem Vater hatte. Niemals zuvor hatte sie Angst vor ihm gehabt. Weder zu seinen Lebzeiten noch in ihren Träumen nach seinem Tod. Es konnte also nicht sein, dass sie vor ihm Angst hatte. Ihr Vater musste in diesem Traum für etwas stehen; in Form eines Gleichnisses etwas repräsentieren. Doch was?

    Sie wusste, dass Träume mit Symbolen arbeiten. Schon oft hatte sie versucht, die Symbolsprache ihrer Träume zu entschlüsseln. Schon oft war sie daran gescheitert. Und diesmal drohte sie wieder zu scheitern, denn das Einzige, was ihr zu ihrem Vater einfiel, war, dass er tot war.

    Das ist es, dachte sie augenblicklich. Mein Vater symbolisiert in diesem Traum den Tod!

    Und davor hatte sie Angst. Sie hatte Angst vor der Unabänderlichkeit des Todes. Sie hatte Angst, sterben zu müssen.

    Aber es gab keinen Grund, keinen aktuellen Anlass. Sie war jung, sie war gesund. Sie hatte ihr Leben noch vor sich. Aber das Leben raste an ihr vorbei. Sie lief Gefahr, ihr Leben zu versäumen. Sie lief Gefahr, sich im Alltag zu verlieren.

    Als Kind hatte sie davon geträumt, in Weiß zu heiraten. Sie hatte davon geträumt, nicht mehr allein zu sein. Gemeinsam mit ihrem Mann wollte sie ihre Einsamkeit überwinden. Und Kinder wollte sie haben, mindestens einen Jungen und ein Mädchen. Damals hatte sie sich oft Geschwister gewünscht; ihre eigenen Kinder sollten es besser haben als sie. Doch Kinder ahnen nichts davon, dass viele ihrer Träume Stück für Stück zerbröckeln, sobald sie erwachsen werden. Das mit der Hochzeit hatte bis jetzt nicht geklappt. Das mit den eigenen Kindern auch nicht. Jetzt war sie achtundzwanzig und hatte immer noch keinen Mann gefunden, mit dem sie Kinder haben wollte. Es gibt keine Männer mehr, die Verantwortung übernehmen wollen, dachte sie. Zumindest lernte sie solche Männer nicht kennen. Aber das war kein Wunder, denn die Männer, die sie kennenlernte, waren ausschließlich Kunden ihres Ladens, und die waren meist wesentlich älter als sie, etabliert und uninteressant. Sie sehnte sich sehr nach Liebe, nach Zweisamkeit, nach Vertrauen und nach einer eigenen Familie.

    Salvina löschte das Licht und schlief weiter.

    Am Morgen stand sie mit weißen Socken in ihren weißen Sandalen am offenen Fenster ihrer Küche. Kühle Morgenluft umwehte ihr Gesicht. Sie liebte das befreiende Gefühl der frischen Luft an Hals und Nacken. Meist flocht sie ihr Haar zu einem dicken Zopf, mit dem sie auch die Stirn- und Schläfenhaare bändigte, damit kein Haar ihren Hals bedeckte.

    Sie schloss die Augen und atmete dreimal tief durch. Danach beugte sie sich weit nach vorne, stützte sich auf die Ellbogen und sah an der Außenmauer des Hauses hinab auf die Straße.

    Der heiße Sommer war nun endgültig vorbei. Die Luft war klar und rein an diesem Montagmorgen. Die Gewitterfront der Nacht hatte alles abgekühlt und die Schwüle vertrieben. Das Grün der Bäume in dem kleinen, nahe gelegenen Park war schon seit vielen Tagen mit braunen Flecken durchsetzt. Viele Blätter waren während der nun vergangenen Hundstage vertrocknet und schrumpelig geworden, für eine herbstliche Färbung war es noch viel zu früh. Aber der nächtliche Regen würde den Bäumen das Grün nicht wieder zurückgeben können. In zwei Monaten würde sich die Natur dann ihrem Winterschlaf mit einem letzten Feuerwerk ergeben.

    Die Natur und auch wir Menschen streben gerne auf Höhepunkte zu. Im Höhepunkt liegt die Fülle des Lebens. Die Quellen der Freuden und des Glücks scheinen unversiegbar zu sein, solange es – dem Höhepunkt entgegen – bergauf geht. Doch jeder Höhepunkt ist auch der Beginn des Abstiegs. Der Höhepunkt ist gleichzeitig der Wendepunkt in der Natur, im Leben – und auch bei uns Menschen. Dort, wo das Leben am üppigsten ist, zeigt sich schon dessen Ende. Am Höhepunkt des Sommers sind die ersten Früchte gereift, und es fallen die ersten Blätter von den Bäumen. Am Höhepunkt des Sommers wird die Erde trocken und das Gras braun. Was dann noch kommt, trägt nicht mehr die Hoffnung auf eine Steigerung in sich. Was dann noch kommt, sind letzte Feuerwerke, sind die Funken des erlöschenden Feuers. Was dann noch kommt, ist die Erinnerung an die Blütezeit des Lebens. Es ist der Abstieg, der schneller geht als der Aufstieg. Die Knochen schmerzen, die Muskeln sind müde, die Kraft lässt nach. Im Abstieg freuen wir uns auf die Ruhe. Doch im Abstieg lauert eine große Gefahr, denn nicht selten kommt mit dem Abstieg auch der Fall.

    Salvina kannte diese Gefahr sehr gut. Sie hatte sie schon bei sich selbst gespürt, bei anderen erlebt. Und nun sah sie am Ende der schmalen Straße einen alten Mann um die Ecke kommen. Wie eine schwere Bürde lastete sein knielanger, verschlissener Mantel auf seinem Körper. An den hängenden Schultern und der gebückten Haltung konnte sie ihn sofort erkennen. Dicht an die Mauern der alten Stadthäuser gedrängt, humpelte er in kleinen, langsamen Schritten seinen mühevollen, vom Fall gekennzeichneten Weg.

    Nach ein paar Schritten blieb er stehen und beugte sich noch tiefer. Nur mit Anstrengung konnte er den Boden erreichen. Dort hob er etwas auf, betrachtete es von allen Seiten und steckte es schließlich zwischen seine Lippen. Aus seiner Manteltasche holte er ein Feuerzeug und zündete den Zigarettenstummel an. Mehrmals zog er an dem Stummel, er nahm ihn nur vom Mund, um den inhalierten Rauch wieder auszuatmen.

    Plötzlich bekam er einen Hustenanfall. Der wenige Tabak war verbrannt, und die feinen Kunststofffäden des Filters begannen zu schmoren. Der ätzende Rauch raubte ihm den Atem. Nach mehreren Hustenattacken drehte er seine starre Hand, um die Glut der Zigarettenkippe sehen zu können, die er zwischen Zeigefinger und Daumen hielt. Schließlich warf er sie zu Boden und zwang seine schwachen Beine, den Weg fortzuführen.

    Salvinas Augen folgten ihm auf seinen letzten Metern. Noch einmal atmete sie kräftig durch. Sie wollte die Entschlossenheit der frischen, reinen Luft in ihren Tag hinüberretten. Dabei schaute sie dem alten Mann zu, wie er vor dem Eingang des Antiquitätenladens unterhalb ihrer Wohnung stehen blieb und sich wie jeden Tag dicht an die Tür drängte.

    Salvina schloss leise das Fenster, nahm den Schlüsselbund vom Tisch und verließ ihre Küche. Kurz inspizierte sie noch die Wohnung, ob alle Fenster geschlossen und alle Lichter gelöscht waren, dann trat sie von ihrem durch Spiegel und weiße Wände erhellten Flur ins düstere, stickige Treppenhaus. Schon als Kind hatte sie von einer Fensterfront geträumt, die sich über alle vier Etagen des Hauses erstrecken sollte, damit Licht und Leben das alte Treppenhaus durchfluten könnten.

    Die Deckenbeleuchtung stammte aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine einzige Lampe je Stockwerk, mehr wäre damals Luxus gewesen. Zu dieser Zeit war ihr Vater noch ein Kind. Für Luxus hatte seine Familie kein Geld. Das sah Salvina ein. Aber später hätte er eine weitere Lampe über der Wohnungstür anbringen und statt der schwachen Glühbirne eine mit hoher Leistung einsetzen können. Wie hatte er nur in dieser Dunkelheit das Schlüsselloch finden können?

    Einen Stock tiefer betrat Salvina den Laden. Sie schaltete das Licht im Verkaufsraum und in der kleinen Küche des Ladens ein, denn auch hier war es düster. Dann ging sie zur Eingangstür. Der alte Mann richtete sich bei ihrem Anblick auf, und seine Augen begannen zu leuchten. Lächelnd öffnete ihm Salvina die Tür und bat ihn herein. Ein morgendlicher Ritus.

    »Salvina, meine Kleine. Du wirst von Tag zu Tag noch hübscher. Aber was ist mit dir? Du lächelst und siehst trotzdem aus, als würdest du einen Trauerzug anführen.«

    »Findest du mich wirklich hübsch?«, fragte Salvina.

    »Also hör mal. Wenn ich jung wäre, dann …« Er stockte. Mit einer heftigen Armbewegung wischte er den Gedanken beiseite und trat an Salvina vorbei in den Laden.

    Paule kannte den Weg in die kleine Küche. Wie jeden Tag eilte er voraus, ohne die dicht gedrängten Möbelstücke, Vasen, Gläser etc. zu streifen. Schon oft war Salvina aufgefallen, dass er in ihrer Nähe nicht humpelte. Sie schloss die Tür und folgte ihm.

    In der Küche blieb Paule wie jeden Tag neben dem Tisch stehen. Als würde er sich erst dort bewusst werden, dass der Laden nicht sein Zuhause war, wartete er, bis Salvina ihm seinen angestammten Platz anbot. Aber Salvina trat an die Arbeitsplatte und bereitete den täglichen Kaffee. Sie vergaß es, Paule Platz anzubieten. Während die Kaffeemaschine lief, fragte sie: »Was wäre dann, wenn du noch jung wärst?«

    Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er sich noch immer unsicher an der Stuhllehne festklammerte und sich nicht zu setzen traute. Und sie beobachtete, wie bei ihrer Frage sein Gesicht sofort errötete. Zögernd antwortete er: »Dann würde ich dich fragen, ob du mich heiratest.«

    Salvina machte einen Schritt zur Seite. Einen Schritt weg von Paule und hin zum Fenster. Einen unnötigen Schritt, denn sie war zuvor schon außer Griffweite von ihm gewesen. Jetzt stand sie seitlich zur Kaffeemaschine und musste ihren Arm fast verrenken, um sie ausschalten und die Kanne entnehmen zu können. Auf ihrem Weg zum Tisch erwiderte sie: »Warum solltest du ausgerechnet mich heiraten wollen? Deine Frau war nicht nur hübscher als ich, sie war ausgesprochen schön. Und ihr habt euch geliebt. Du brauchst mir nicht zu schmeicheln. Ich weiß, wie ich aussehe. Und heiraten werde ich sowieso niemals.«

    »Red keinen Unsinn! Wer unglücklich sein will, findet immer einen Grund dafür. Wenn du ehrlich bist, dann musst du zugeben, dass es die Natur gut mit dir meint.«

    »Setz dich erst einmal hin«, sagte Salvina und rückte ihm den Stuhl etwas nach hinten, damit er mit seinem schwerfälligen Körper Platz nehmen konnte. Dann schenkte sie ihm seinen täglichen Kaffee ein und setzte sich zu ihm.

    Sie schaute auf sein langes, struppiges Haar. Klebrige, verfilzte Strähnen hingen herab. Entlang seines Haaransatzes zog sich ein fast schwarzer Schmutzrand. Wie gebannt blickte Salvina Paule an. Als er ihren Blick erwiderte, schaute sie hastig zur Seite und sprach weiter:

    »Weißt du, Paule, als ich noch ein Kind war, hat mich mein Vater oft mein hässliches Entlein genannt, wenn er nett zu mir sein wollte. Das prägt.«

    Paule nickte nachdenklich und sagte in seiner ruhigen Stimme: »Ja, all das prägt uns, von dem wir wollen, dass es uns prägt. Aber sag mal, das hässliche Entlein, war das nicht der von allen verkannte Schwan? Schwäne sind majestätisch. Dein Vater wollte damit bestimmt nur deine nicht sofort ins Auge stechende Schönheit andeuten.«

    »Siehst du, jetzt sagst du es selbst, dass ich nicht schön bin.«

    »Nein, das sage ich nicht. Deine Schönheit ist nur nicht so augenfällig. Auf den ersten Blick wirkst du eher unscheinbar, aber je länger man dich ansieht, desto mehr erkennt man, wie schön du bist. Menschen, die ihre Schönheit offen zur Schau stellen, verblassen dagegen bei genauerer Betrachtung.«

    Salvina schüttelte den Kopf. Mit zusammengekniffenen Augen entgegnete sie: »Das ist lieb von dir, aber ich weiß, dass mich mein Vater wegen meiner langen und krummen Nase so genannt hat. So lang und krumm wie der Hals eines Schwans.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Außerdem schauen mir alle fremden Leute immer zuerst auf die Nase, wenn ich mit ihnen spreche.«

    »Und deshalb meinst du, dass du hässlich bist.«

    »Nein«, antwortete Salvina. »Hässlich bin ich nicht, aber meine Nase entstellt mein Gesicht. Ich weiß, dass ich nicht hübsch bin.«

    Paule lachte. Dabei hob sich sein Oberkörper stoßweise, sodass Salvina den Eindruck hatte, er würde kollabieren. Nach ein paar Stößen beruhigte er sich wieder und sagte: »Deine Nase ist ungewöhnlich, und die Leute schauen immer auf das, was nicht ihrer Vorstellung von Norm entspricht. Ich finde sie interessant.«

    »Das behaupten alle, dass sie das Ungewöhnliche interessant finden. Aber wenn sie die Wahl haben, entscheiden sie sich für das Gewöhnliche, weil ihnen nur das wirklich gefällt.«

    Diesmal wiegte Paule nachdenklich den Kopf. Nach einer Weile sagte er: »Das glaube ich nicht, dass sich die Menschen für das Gewöhnliche entscheiden, weil es ihnen besser gefällt. Ich glaube, sie entscheiden sich dafür, weil es ihnen bekannter ist. Das Bekannte lässt sie vertrauen, und Vertrauen gibt ihnen Sicherheit. Die Menschen brauchen Sicherheit, damit sie an ihre Zukunft glauben können, deshalb wählen sie das Gewöhnliche.«

    Salvina verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Dabei sah sie zur Zimmerdecke und entgegnete: »Warum sich die Menschen für das Gewöhnliche entscheiden, ist mir egal. Ausschlaggebend ist für mich, dass ich nicht hübsch bin. Und das hat mir mein Vater schon gezeigt, als ich noch ein Kind war. Er hatte kein Gefühl für die Verletzbarkeit der Seele eines Kindes.«

    »Du willst sagen, dein Vater hatte kein Gefühl für deine Verletzbarkeit«, fiel ihr Paule ins Wort. Er fixierte Salvinas Augen, beobachtete ihre Reaktion. Da sie aber noch immer zur Decke sah, sprach er weiter: »Er wollte dich nicht verletzen. Er wollte dir zeigen, dass er dich so liebt, wie du bist.«

    »Mein Vater?«, rief Salvina mit erhobener Stimme und wandte sich Paule zu. »Der hat nur sein Geschäft geliebt. Und das Geld.«

    Paule sah sie grimmig an und sagte: »Du darfst nicht schlecht über deinen Vater reden, er war mein bester Freund.«

    »Ja, weil er dein einziger war. Aber wie war das nach dem Tod deiner Frau, als du krank geworden bist und alles verloren hast? Hat dir mein Vater da geholfen?«

    Paule sah erschrocken auf. Der obere Teil seiner Wangen wurde kreidebleich. Es waren neben Augen und Stirn die einzigen Stellen seines Gesichts, die Salvina zwischen seinem üppigen Haar- und Bartwuchs hindurch sehen konnte. Hastig sagte er: »Darüber will ich nicht reden. Dein Vater hatte seine Gründe.«

    »Gründe! Mein Vater hatte immer seine Gründe«, erwiderte Salvina energisch. »Wie kannst du ihn nur verteidigen, wo er dir das Leben hätte retten können, wenn er wenigstens dieses eine Mal nicht auf seinen Prinzipien beharrt hätte!«

    Mit verschränkten Armen lehnte sich Paule zurück und schüttelte leicht den Kopf. Kraftlos entgegnete er: »Das konnte dein Vater damals noch nicht wissen.«

    Salvina richtete sich auf und beugte sich Paule entgegen. Mit angespitztem Mund sprach sie deutlich artikuliert: »Du hast ihn darum gebeten, bei ihm wohnen zu dürfen. Er wusste, dass du ohne seine Hilfe auf der Straße landen würdest.«

    Paule senkte das Gesicht und fixierte mit seinen müden Augen den Tisch. Er atmete laut und schwer. Beinahe flehend flüsterte er: »Ich will darüber nicht mehr reden.«

    Salvina beugte sich noch weiter vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Tisch. Mit leicht gerötetem Gesicht insistierte sie: »Du hattest gehofft, wieder eine Arbeit zu finden, wenn dir mein Vater wenigstens ein Zimmer gegeben hätte.«

    »Ja«, fuhr Paule, sich plötzlich aufbäumend, mit zittriger Stimme fort. Seine blassen Augen glänzten hilflos. »Wie du weißt, hatte er keinen Platz für mich.«

    Salvina wusste, dass nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu dreißig Menschen in den drei Wohnungen des Hauses gelebt hatten. In der zerstörten Stadt war Wohnraum knapp. Die Aufnahme fremder Menschen und ganzer Familien wurde von amtlicher Seite angeordnet. Das wusste sie von ihren längst verstorbenen Großeltern. Als Paule ihren Vater um eine Wohngelegenheit gebeten hatte, beherbergte das Haus gerade mal fünf Menschen.

    »Mein Vater hatte für niemanden Platz«, sagte sie. »Auch mir wollte er ein paar Jahre zuvor die Dachgeschosswohnung nicht geben, als sie frei wurde. Er hatte Angst, ich würde ihm die Miete nicht zahlen können, weil ich noch in der Ausbildung war. Verzichtet hätte er auf das Geld nie, selbst wenn er reich gewesen wäre.«

    Kaum sichtbar öffnete Paule seinen Mund und nuschelte: »Ich wäre ihm die Miete auch nicht schuldig geblieben. Aber dein altes Kinderzimmer wollte er nicht hergeben.«

    Salvina erinnerte sich, wie sich damals ihr Vater über Paules Anmaßung beschwert hatte. Ja, sie war sich sicher, ihr Vater hatte von Anmaßung gesprochen. Er wollte das Zimmer so lassen, wie es war, nichts darin verändern, was die Erinnerung an die vergangenen Jahre hätte abschwächen können. Aber die Wohnung im Dachgeschoss, in der sie zu dieser Zeit gewohnt hatte, war eine neutrale Wohnung, eine Wohnung, an die keine Erinnerungen geknüpft waren. Für sie wäre es leichter gewesen, Paule ihre Dachgeschosswohnung zu überlassen und zurück in ihr Kinderzimmer zu ziehen. Nein, sie traf keine Schuld. Wenn es für ihren Vater schon anmaßend war, dann erst recht für sie.

    »Wie lange ist das jetzt her?«, fragte sie. »Fünf, sechs Jahre? Januar war es, daran kann ich mich noch erinnern.«

    Paule nickte.

    »Nach diesem kalten Januar bekam mein Vater Schuldgefühle. Plötzlich hielt er mir vor, dass auch ich dir ein Zimmer oder die ganze Wohnung hätte geben können. Wenn es darum ging, seine Verantwortung abzuwälzen, kam mein Vater auf die abstrusesten Ideen.«

    Wieder nickte Paule.

    »Soll ich jetzt daran schuld sein?, habe ich ihm geantwortet. Paule war dein Freund, nicht meiner.«

    »Ich hätte dir nichts getan«, erwiderte Paule kurz.

    Salvina sprang auf, hetzte ziellos ein paar Schritte in der kleinen Küche umher und schleuderte ihm ein energisches »Nein!« entgegen. Dann schnaubte sie aufgebracht: »So einfach ist das nicht. Wir kannten uns kaum. Das konntest du nicht von mir erwarten. Es hätte auch andere Lösungen gegeben.«

    Als sie sich wieder umdrehte, sah sie Paule wortlos in kleinen, langsamen Schritten seinen mühevollen Weg humpeln und geknickt ihren Laden verlassen.

    Die oftmals ruhigen Vormittage nutzte Salvina, um die vielen kleinen Gegenstände des Ladens sauber zu halten. Mit Pinsel und Tuch entfernte sie die feinen Staubteilchen, die sich täglich bildeten. Antiquitäten müssen sauber, staub- und fettfrei sein, hatte ihr Vater sie als Kind ermahnt, wenn sie etwas berühren wollte. Daran musste sie jedes Mal denken, wenn sie den alten Pinsel in die Hand nahm. Als ihr Vater noch den Laden betrieb, hatten der Pinsel und das Staubtuch ihren festen Platz im Schrank unter der Registrierkasse. Mit der arbeitete Salvina noch immer, sie wusste aber nie, wohin sie Pinsel und Staubtuch am Vortag geräumt hatte. Meist fand sie beides schließlich dort, wo sie es zuletzt benutzt hatte.

    Nachdem sie eine Gruppe alter Porzellanfiguren abgestaubt hatte, begann es zu regnen. Sie legte Pinsel und Staubtuch neben den Porzellanfiguren ab und ging ans Fenster. Langsam fielen die feinen Tropfen auf die Straße. Allmählich wurde der Straßenbelag dunkler, dann begann er zu glänzen, schließlich überzog ihn ein dünner Wasserfilm, in dem die nun dicker und schwerer gewordenen Tropfen aufspritzten. Zwei Passanten eilten an Salvinas Laden vorbei und durchquerten ihr Blickfeld. Ihre Jacken zogen sie eng an sich. Danach regte sich auf der Straße nichts mehr. Salvina sah weiterhin auf den nassen Asphalt. Sie konnte stundenlang stehen und nichts tun. Im Nichtstun blieb ihre Zeit stehen, die Welt jedoch bewegte sich weiter. Je weniger sie dabei dachte, desto weniger spürte sie ihre Einsamkeit.

    Diese Fähigkeit hatte ihr in ihrer Kindheit geholfen, die Einsamkeit zu ertragen. Selbst im Kindergarten starrte sie scheinbar teilnahmslos vor sich hin. Wenn die Erzieherinnen sie fragten, weshalb sie nicht mit den anderen Kindern spielte, sagte sie nur, sie würde lieber beobachten. Irgendwann war sie für die anderen nicht mehr vorhanden. Selbst die Erzieherinnen schienen sie eines Tages nicht mehr zu bemerken. Wenn es regnete, stand Salvina vom Stuhlkreis auf und ging in den Hof, dem Regen zuzuschaun. Niemand hinderte sie daran. Doofer Stuhlkreis, hatte sie sich stets gedacht, und ihre Meinung darüber hat sie bis heute nicht grundlegend geändert. Sie fühlte sich schon als Kind nicht wohl, wenn Menschen im Kollektiv – wie gleichgeschaltet – alle dasselbe machen. Im Stuhlkreis war kein Platz für ihre Individualität. Mit viereinhalb hatte sie sich schließlich erfolgreich geweigert, auch nur einen Tag länger in den albernen Kindergarten zu gehen.

    In den noch verbliebenen zwei Jahren vor ihrer Einschulung hatte sie niemanden. Ihr Vater hatte keine Zeit, er kümmerte sich um den Laden. Ihre Großeltern hatten damals noch gelebt, aber weit außerhalb der Stadt. Nur selten war sie bei ihnen zu Besuch gewesen. Und im Block gab es außer ihr keine Kinder. In diesen Jahren stand Salvina oft den ganzen Tag in Gummistiefeln, Regenhose und Regenjacke mit Kapuze im Innenhof im Regen. Sie liebte ihre bunte Regenbekleidung aus Gummi. Und sie liebte den Regen. Mit ihrem Blick erfasste sie den gesamten Innenhof und schaute dem Regen zu, wie er alles mit seinem Glanz überzog.

    Sie schaute den Blättern der Bäume und Büsche zu, wie sie sich unter dem Gewicht des Regens immer weiter krümmten, wie sich an den Blattspitzen Tropfen bildeten, wie diese Tropfen stetig wuchsen und die Blätter schließlich wieder nach oben wippten und ihre natürliche Form annahmen, sobald die Tropfen schwer genug waren, um sich von den Blattspitzen zu lösen. Sie schaute dem Regen zu, wie er sich allmählich um Zweige und Äste schmiegte und diese mit seinem zarten und feuchten, silbrig glänzenden Film umschloss. Sie schaute den Tropfen des Regens zu, wie sie auf die großen Steine am Rand des Weges aufschlugen, dabei platt gedrückt wurden und in viele feine Tröpfchen zerstäubten. Und sie schaute und hörte dem Regen zu, wie er in unzähligen, scheinbar ungeordneten Tropfen zu Boden fiel, und doch in seiner harmonischen Vielfalt – gleich einer Symphonie – ein musikalisch anmutendes Rauschen erklingen ließ.

    Und sie beobachtete die Pfützen, wie die Regentropfen darin eindrangen, um gleich danach wieder emporzusteigen und schließlich doch darin verschwanden. Die von den Tropfen erzeugten Wellen, wie sie sich kreisförmig ausdehnten, sich mit anderen Wellen überlagerten und so ein regelmäßiges Muster auf den Oberflächen der Pfützen zeichneten. Und sie beobachtete die Pfützen dabei, wie sie größer und größer wurden. Und manchmal wünschte sie sich, das Wasser sollte so hoch steigen, dass alle Menschen schwimmen müssten. Dann, hoffte sie, würden sie die Welt mit anderen Augen betrachten und aus ihrem Trott aufwachen. Sie hoffte, die Angst, in den Fluten zu ertrinken, würde die Menschen einander wieder näher bringen, sie versöhnen, mit sich, ihren Mitmenschen, dem Leben, der Liebe.

    Wenn wenigstens Leute in den Laden kämen. Sie müssten ja nicht unbedingt etwas kaufen, nur damit ich nicht die ganze Zeit allein bin, dachte sie. Von einer netten Unterhaltung traute sie sich erst gar nicht zu träumen. Um ihre aufkeimende Einsamkeit zu unterdrücken, gähnte sie. Aus Erfahrung wusste sie, dass bei Regen ihre wenige Kundschaft ausblieb und ihr somit ein trister Tag in ihren tristen Räumen mit ihren tristen Antiquitäten bevorstand.

    Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht! An diese Worte musste sie denken, als sie anfing, sich am Hals zu kratzen. Nur selten kam es noch vor, dass sie die Kontrolle über sich verlor. Als Kind hatte sie sich oftmals blutig gekratzt. Dann achtete ihr Vater darauf, dass sie ihre Fingernägel täglich bis zum Ansatz zurückfeilte. Und er mahnte sie, auch wirklich die Feile und nur die Feile zu benutzen, damit ihre Nägel schön rund wurden und keine scharfen Kanten und Ecken entstanden. Ihre Wunden konnte er eindämmen, das Kratzen behielt Salvina bei. Erst als sie erwachsen wurde, hörte sie damit auf. Auch jetzt milderte sie ihr Kratzen in ein sanftes Streicheln mit den Fingerkuppen.

    Was sollte sie nicht tun? Welche Botschaft steckte in ihrem Traum? Salvina glaubte an die Fähigkeit der Träume, Botschaften zu übermitteln. Sie glaubte daran, dass ihr Vater diese Bitte ausgesprochen hätte, wenn er noch gelebt hätte. Dann hätte sie ihn fragen können. Doch jetzt musste sie selbst herausfinden, was sie nicht tun sollte. Aber ihr fiel nichts ein. Nichts, das sie vorhatte, zu tun. Das Einzige, was sie sich schon vor Wochen vorgenommen hatte, war, das Lager im Keller durchzusehen. Sie wollte bis Jahresende den Bestand ihrer Waren erfassen. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie seine Bücher weitergeführt, ohne sie zu überprüfen und ohne eine Inventur zu tätigen. Das Lager war für sie der Bereich, in dem sie ihren Vater noch am stärksten spüren konnte. Sie wollte ihm dieses Reich so lange wie möglich überlassen, um sein endgültiges und vollständiges Verschwinden hinauszuzögern.

    Salvina schüttelte den Kopf. Der Gedanke war absurd. Es konnte keinen Grund geben, weshalb ihr Vater es nicht gewollt hätte, dass sie den Lagerbestand erfasste. Sie wollte es nicht wahrhaben, dass ihr Vater Geheimnisse vor ihr gehabt haben könnte. Denn wer Geheimnisse hat, der ist zu schwach für die Wahrheit. Und wenn ihr Vater zu schwach für die Wahrheit war, dann hatte er sie belogen.

    Aber auch das war absurd. Ihr Vater war ein ehrlicher Mann gewesen. Bieder und rechtschaffen. Ein Händler zwar, aber kein Halsabschneider. Und schon gar kein Betrüger. Niemals hätte er seine Tochter belogen. Darüber gab es für Salvina keinen Zweifel. Zumindest nicht bis jetzt.

    Und wenn ihre Gedanken nicht absurd waren? Wenn die Bitte ihres Vaters im Traum wirklich bedeutete, dass sie den Lagerbestand nicht erfassen sollte? – Irgendwann musste sie es tun, und ihre Neugierde hatte sie jetzt geweckt. Sofort eilte sie zwischen ihren Waren hindurch zum Schreibtisch ihres Vaters, nahm den Schlüsselbund aus einer der vielen Schubladen und verließ den Laden über den Hinterausgang in Richtung Treppenhaus.

    Stufe für Stufe tastete sie sich die enge Kellertreppe hinab und schob mit den Füßen den Putz beiseite, der von den Wänden in großen Platten abbröckelte. Jeden ihrer Schritte setzte sie sehr vorsichtig, denn die Stufen aus Beton waren abgegriffen und glatt und an vielen Stellen brüchig. Um nicht an die Kellerdecke zu stoßen, die vor allem im Treppenbereich sehr niedrig war, musste sie sich etwas bücken. In dem trüben Licht erkannte sie kaum die Spinnweben, die in dicken Knäueln schwarz und schwer von der Decke herabhingen. Immer wieder wich sie mit ihrem Kopf aus, damit sie ihr nicht ins Gesicht gerieten.

    Am Ende der Treppe kam sie an kleinen Verschlägen vorbei, die mit erster bis dritter Stock nummeriert waren. Die kleinen metallenen Schilder mit den eingravierten Nummern hatte einst ihr Vater angebracht. Er brauchte auch im Keller seine Ordnung. Im ersten Verschlag standen in Regalen Konserven, Porzellangeschirr, Kartons und Kisten; auch leere Blumentöpfe waren zu sehen. Der Verschlag des zweiten Stocks war brechend voll mit Gerümpel. Hier schien alles wahllos hineingestellt worden zu sein, was nur selten oder nie mehr benötigt wurde. Typisch Klara, dachte Salvina. Auf dem Boden, gleich neben dem Gatter, stand ein blauer Werkzeugkoffer aus Metall. Der gehörte Klaras Mann. Den hatte er damals mitgebracht, als Salvina ihn um handwerkliche Unterstützung gebeten hatte. Sie hatte sich eine neue Mischbatterie für die Spüle der Küche im Laden gekauft und war dann schon am Ausbau der alten Batterie gescheitert. Aber das war nun auch schon über ein Jahr her. Der Verschlag für den dritten Stock war sauber und akkurat aufgeräumt. Der gehörte der älteren Dame im Dachgeschoss, von der Salvina nur den Namen und deren Bankverbindung kannte.

    Gegenüber den Verschlägen befand sich in der gemauerten Wand eine geschlossene Tür aus massivem Eisen. Salvina blieb davor stehen, nahm den längsten Schlüssel vom Bund und sperrte sie auf. Dann stemmte sie sich mit ihrem gesamten Körpergewicht dagegen. Nur langsam konnte sie die Tür öffnen.

    Kühle, etwas muffige Luft schwappte ihr entgegen. Sie schaltete das Licht an. Die verstaubte Kellerleuchte in der Mitte der Decke spendete aber nur ein diffuses Licht. Um den Lagerraum auszuleuchten, reichte ihr Licht nicht aus. Der Raum war so groß wie eine Zweizimmerwohnung und angefüllt mit Mobiliar und Einrichtungsgegenständen. Salvina bückte sich, nahm den Stecker eines Verlängerungskabels, das neben der Tür lag, und steckte ihn in die Steckdose unterhalb des Lichtschalters. Daraufhin erstrahlten einige Stehlampen in hellem Licht.

    Unsicher schaute Salvina sich um. Dann schritt sie das Lager ab. Sie zwängte sich durch die engen Wege zwischen dem Mobiliar. Bei den meisten Stücken hatte sie den Eindruck, sie von früher zu kennen. In den drei Jahren hatte sie wenig aus dem Lager verkauft, und auch ihr Vater hatte nur selten Stücke aus dem Lager über den Lastenaufzug im Innenhof zur Rückseite des Ladens gebracht. Der Lastenaufzug bot die einzige Möglichkeit, größere Möbel vom Lager in den Laden zu bekommen. Auch ihrem Vater war dieser Weg ohne Hilfe zu beschwerlich gewesen.

    In der am weitesten von der Tür entfernten Ecke blieb Salvina vor einer Reihe Holzstühle stehen, die auf zwei Truhen gestapelt waren. Sie nahm einen der Stühle herunter, setzte sich auf das Lederpolster und betrachtete argwöhnisch das Arrangement, das drei Standuhren und einen Kleiderschrank verdeckte. Zwischen den Stuhlbeinen hindurch schaute sie auf die fast bis an die Decke reichenden Standuhren, die wie eine Mauer an der Seite des Kleiderschranks dicht aneinander standen. Dabei fiel ihr auf, dass zwischen der Rückseite des Kleiderschranks und der Wand noch Platz sein musste. Zuerst dachte sie sich nichts dabei, doch plötzlich sprang sie auf, hob alle Stühle von den Truhen und verteilte sie im Lager. Danach versuchte sie, die Truhe vor den Uhren wegzuschieben.

    Aber die war zu schwer. Salvina öffnete den Deckel und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Truhe war voll mit unterschiedlich großen Päckchen aus Zeitungspapier. Sie nahm eines dieser Päckchen heraus und entfaltete die vielen einzelnen Blätter. Naserümpfend betrachtete sie den bunt verzierten Porzellanteller, der zum Vorschein kam, und dachte augenblicklich an eine Kaffeerunde alter Damen in einem Wiener Kaffeehaus. Auf der Unterseite fand sie ein Zeichen, das zwei gebogenen Schwertern glich, die sich kreuzten. Sie kannte das Zeichen nicht. Achtlos wickelte sie den Teller aus Meißner Porzellan wieder ein und legte ihn zurück in die Truhe.

    Auch in der zweiten Truhe lagen Päckchen aus Zeitungspapier. Diese waren größer und noch schwerer. Die meisten glichen in ihrer Form Vasen oder Figuren. Salvina kratzte sich kurz an der Stirn, dann schritt sie erneut das Lager ab. Sie suchte nach einem freien Platz für die beiden Truhen.

    Schon bald hatte sie zwei

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