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Azurum - Das letzte Spiel
Azurum - Das letzte Spiel
Azurum - Das letzte Spiel
eBook323 Seiten4 Stunden

Azurum - Das letzte Spiel

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Über dieses E-Book

Mehrere Erdbeben erschüttern die Mainmetropole Frankfurt und hinterlassen einen rätselhaften, blauen Krater, der undurchdringlich erscheint. Als ihr Bruder Joshua spurlos darin verschwindet, macht sich Tabea widerwillig mit dem Freigeist Lily auf die Suche nach ihm. Ihre gefährliche Reise durchs Blau offenbart düstere Wahrheiten und macht sie zu Figuren in einem grausamen Spiel.

Kann es Hoffnung geben, wenn jeglicher Glaube zerstört wurde und die Würfel längst gefallen sind?
SpracheDeutsch
HerausgeberAmrûn Verlag
Erscheinungsdatum19. Dez. 2023
ISBN9783958695375
Azurum - Das letzte Spiel

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    Buchvorschau

    Azurum - Das letzte Spiel - Stefanie Bender

    © 2023 Amrûn Verlag

    Jürgen Eglseer, Traunstein

    Lektorat: Susanne Junkel

    Printed in the EU

    ISBN TB 978-3-95869-533-7

    Alle Rechte vorbehalten

    Besuchen Sie unsere Webseite:

    amrun-verlag.de

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    v1/23

    TitelQualle

    Stefanie

    Bender

    Das letzte Spiel

    Wie alt ist das Leben?

    Nicht unsere Welt, mit all ihren Wundern, nein,

    das Leben selbst, wie alt ist es?

    Kannst du dir vorstellen,

    dass es vor unserer Welt bereits eine gab,

    die es geschafft hatte, weiter zu existieren?

    Eine Welt, die unserer ähnlich war, doch scheiterte?

    Gab es vor unserem Dasein eine Welt,

    die mit zwei Menschen begonnen hatte,

    Mann und Frau – ohne Evolution?

    Und die Welt davor, wie sah diese aus?

    Wurde sie unmittelbar mit tierischem Leben beglückt,

    oder war auch diese ein Zufallsprodukt der Evolution?

    Wer sagt uns schon, dass wir nur einmal leben?

    Lebten wir alle schon einmal,

    in einer alten Version dieser Welt?

    Und was ist jetzt? Scheitern wir erneut?

    Wann ist das Ende der hiesigen Welt erreicht?

    Wird eine Neue beginnen?

    Oder wird alles enden?

    Mit uns? Ohne uns?

    prolog

    Über den Dächern des Ortes zogen sich die Wolken zusammen. Die Sonne war machtlos gegen das aufkommende Dunkel. In der Ferne hörte man ein Donnern. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Klischeebeladen, als wüsste das Wetter, dass der Tod nahte.

    Das Grollen wurde lauter. Die ersten zarten Tropfen fielen vom Himmel und verdampften in der Hitze, bevor sie den Asphalt berührten. Der Alkohol aber war nicht verdunstet. Er tat seine Wirkung. Gemischt mit den Antidepressiva im Körper einer Fünfzehnjährigen.

    »Mami! Mami!« Das Kind zupfte aufgeregt am Mantel seiner Mutter und deutete mit der freien Hand zum Brückengeländer hinüber. »Mami! Schau doch mal.« Die Frau schnaufte, verdrehte die Augen und beugte sich zu ihrer Tochter hinunter. »Was ist denn los, Klara? Siehst du nicht, dass ich mich unterhalte?«

    »Aber schau doch, Mami. Das Mädchen! Da drüben!« Die junge Mutter drehte sich um und sah in die Richtung, in die ihre Tochter aufgebracht zeigte. Augenblicklich verlor ihr Gesicht alle Farbe. »Um Himmels willen«, hauchte sie. Ohne ihren Blick von der schockierenden Szene abzuwenden schloss sie den eben erst geöffneten Regenschirm und lief über die Straße, dem fremden Mädchen entgegen. Ein verschlissener Rucksack lag ein paar Meter vor dem Kind auf dem Boden.

    Die Frau ging in die Knie und zog aus dem offenstehenden Reißverschlussfach ein ausgeschaltetes Handy und eine Geldbörse hervor. Beides drückte sie ihrer Gesprächspartnerin, die ihr gefolgt war, in die Hand. »Ruf die Polizei!«, forderte sie ihre Bekannte auf, dann ging sie mit langsamen Schritten weiter auf das Mädchen am Brückengeländer zu.

    Sie stand an der Brüstung der Autobahnbrücke und sah hinab auf den fließenden Verkehr.

    Ihr Körper spannte sich an, als sie die bedächtigen Schritte und den aufgeregten Atem vernahm.

    Jemand kam auf sie zu und redete mit gedämpfter Stimme auf sie ein, doch das Mädchen auf der Brücke ignorierte sie. Niemand würde sie zurückhalten.

    »Kommen Sie nicht näher!«, warnte sie die Person, ohne sich ihr zuzuwenden, und lehnte sich ein Stück weiter nach vorne.

    Sie war über die Stahlkonstruktion geklettert. Zwischen Leben und Tod hielten sie nur ihre Hände, die sich mit dem letzten Rest Angst am Geländer festkrallten. Aus den anfänglichen zarten Tropfen war ein Sommerregen geworden. Die Brüstung war nass und rutschig. Nasse Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht.

    »Nicht! Bitte! Lass dir helfen. Nichts kann so schlimm sein, dass du so verzweifeln musst.«

    »Sie haben ja keine Ahnung!«, schrie das Mädchen. Was glaubte sie, wer sie war? Sie wusste nichts von ihr. Von ihrem Leben. Von dem, was sie getan hatte.

    Die Fremde redete und redete. Das Mädchen brüllte, sie solle still sein, doch ihre Worte hörten nicht auf. Worte, die sie nicht verstand, Worte die leer waren, wie ihr schlagendes Herz. Auf einmal heulten Sirenen, so laut und beschwörend, dass es in den Ohren schmerzte. Endlich wandte sie für Sekunden den Kopf.

    Polizei, Krankenwagen. Alle waren sie auf dem Weg zu der kleinen Brücke, die über die Autobahn führte. Es war ihr egal. Sie wollte das alles nicht mehr – diesen Schmerz nicht mehr spüren, der sich in ihre Seele gebrannt hatte, wie Gift in eine Wunde.

    Dann erklang ein Schrei!

    Erschrocken drehte sich das verzweifelte Mädchen um. Ihre Hände krallten sich um das Geländer. Da stand ihr kleiner Bruder vor einem der Streifenwagen. Auf seinen Schultern lagen die Hände ihres Großvaters. Er hielt ihn fest, hielt ihn zurück. Er schrie nach ihr. Seine Arme weit ausgestreckt, als könne er seine große Schwester greifen. Warum ließ der Großvater ihn nicht los? Warum zwang er ihn, ihr fern zu bleiben? Hatte er Angst, sie würde ihm ein Leid zufügen? Daneben erblickte sie ihre Großmutter. Ihr Gesicht nicht erkennbar, aber das Mädchen sah ihre Schultern beben – sie weinte. Der Junge rief ihren Namen. Immer lauter und mit Tränen erstickter Stimme.

    »Bitte!«, hörte sie wieder die drängenden Worte der Frau, die sie in all der Aufregung vergessen hatte. »Bitte, lass mich dir helfen!«

    »Geh weg!«, schrie das Mädchen. »Lass mich endlich in Ruhe!«

    »Tabea!«

    Das war nicht die Stimme der Frau. War sie endlich fort? »Tabea!«, da war es erneut. Ein helles, verzweifeltes Rufen. Das Mädchen auf der Brücke presste die Lider aufeinander. Das war ihr Name. Sie hörte ihn deutlich durch das Rauschen in ihren Ohren.

    »Tabea. Bitte! Lass mich nicht allein! Bea!« Der Schrei des Jungen war flehend und kämpfte sich durch den prasselnden Regen in ihr Herz. Dann glitt er durch die haltenden Hände seines Großvaters und lag auf dem nassen Asphalt, den Kopf unter den Armen vergraben. Just in diesem Augenblick veränderte sich alles. Es war der Moment, in dem sie begriff: Sie stand auf einer Brücke. Sie wollte ihrem Leben ein Ende bereiten. Doch da lag Joshua auf dem eisigen Boden. Der kleine Josh, der nicht verstanden hatte, was geschehen war. Er glaubte, sie würde ihn im Stich lassen.

    »Nein!« Ihr Schrei war schrill und zerriss die angespannte Stille, wie ein Schwert.

    Niemals würde sie Joshua zurücklassen. Er brauchte seine große Schwester.

    Tabeas Körper zitterte, als sie sich vorsichtig umdrehte und wieder über das Geländer kletterte. Da rüttelte der Großvater an Joshuas Schulter. Der kleine Junge sah endlich auf, sah, dass seine Schwester ihn erhört hatte. Er stand auf und rannte auf wackeligen Beinen los. Er rannte, stolperte und rannte weiter. Tabea kam ihm entgegen und fing ihn auf, als er erneut über seine eigenen Füße strauchelte. Joshua krallte sich in ihre Jacke, drückte seine laufende Nase an ihre Brust. »Lass mich nicht allein, Bea, bitte!«

    Sie schlang ihre Arme um seinen Kopf und hielt ihn, wie es seine Mutter hätte tun müssen.

    »Niemals«, antwortete Tabea, »niemals!« Dann nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und flüsterte: »Ich werde auf dich aufpassen – immer!«

    über dem Blau

    1 / Tabea

    Die Erde bebte.

    Anfangs nur ein Vibrieren - sich bewegender Stahl.

    Die Frau im Fahrstuhl umklammerte die Haltestange fester. Die Türen standen offen, nur ein paar Schritte und sie hätte die enge Kabine verlassen können. Doch sie war vor Angst erstarrt.

    Die Erschütterung unter ihren Füßen verstärkte sich, der Boden begann zu wanken. Dann, ein ohrenbetäubender Knall, der von den verspiegelten Wänden widerhallte.

    Stöhnend sank sie in die Knie und verschränkte die Arme über dem Kopf. Ihr Atem ging stoßweise, während ihr wild pochendes Herz kurz davorstand, ihren Brustkorb zu sprengen. Sie zählte still bis fünf, um sich selbst zu beruhigen und wartete, bis die aufgekommene Übelkeit sie nicht mehr zu übermannen drohte. Erst jetzt wagte sie aufzusehen. Was auch immer geschehen war, sie musste hier raus. Sie sah durch die offene Lifttür in den Flur, der direkt zu ihrem Redaktionsbüro führte. Gleich würde sie in Sicherheit sein, sie musste nur ... Innerhalb eines Wimpernschlags bog sich das Glas der Kabine wie Gummi, dann zersprang es mit einem Schlag in tausende Scherben. Das Glas fiel in ihre Haare und ritzte ihre Kleidung auf. Mit einer Hand schützte sie ihre Augen, dann hechtete die junge Frau kurzentschlossen mit einem Sprung aus den offenstehenden Türen hinaus auf den Flur. Hastig robbte sie fort vom Fahrstuhl, der bedrohlich ächzte.

    Als sie das Gefühl hatte, genügend Abstand zwischen sich und den Lift gebracht zu haben, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und versuchte, mit kontrolliertem Atem ihrem bebenden Körper Herr zu werden.

    Ein metallisch schnalzendes Geräusch drang durch das Rauschen in ihren Ohren. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zum Fahrstuhl. Die Liftkabine stürzte im freien Fall hinab und das Gewicht schoss funkensprühend nach oben.

    Jeden Moment würde der Knall des Aufpralls das Gebäude erschüttern. Sie presste die Lider fest aufeinander und schützte mit den Händen ihre Ohren. Es war ein markerschütternder Lärm, auf den eine bedrückende Stille folgte. Eine Ruhe, die endlich ihren Tränen freien Lauf schenkte. Sie zog die Beine eng an den Körper, legte ihre Arme und ihren Kopf auf den Knien ab und weinte. Sie ergab sich der Erleichterung am Leben zu sein und der Angst, was als Nächstes folgen würde. Dann zerfetzte ein Schrei die Stille. Sie fuhr herum. Wieder ein Schrei, nein, eher ein Rufen, ein hysterisches Rufen. Sie kannte den Namen, der wie ein Echo in ihren Ohren hallte. Hastig wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und drückte sich mit dem Rücken an der Wand hinauf. Sie irrte sich nicht. Es war ihr Name, der durch die Flure hallte.

    »Ich bin hier!«, wollte sie antworten, doch ihre Stimme war nur ein heißeres Krächzen. Instinktiv fühlte sie nach ihrer Tasche, aber ihre Hand griff ins Leere. Sie musste sie im Aufzug vergessen haben. Auf zittrigen Beinen stolperte sie mehr den Flur entlang, als zu laufen. Sie glaubte, der Boden würde noch immer wanken. Ihre Lunge brannte. Sie stoppte und stützte sich auf die Knie. Dann hörte sie erneut die Rufe.

    »Tabea! Tabea!«

    Das war Britt. Endlich konnte sie sich wieder erinnern. Sie hatte das Büro verlassen, war mit dem Aufzug in das Archiv gefahren und wieder auf dem Weg zurück in den neunten Stock, als das Beben begonnen hatte. Hoffentlich war den Anderen nichts geschehen.

    »Tabea!«

    »Ich ...«, sie räusperte sich kräftig, »Ich komme!« Sie lief nur wenige Meter, da sah sie schon die offenstehende Tür des Büros, in dem das Chaos ausgebrochen war. Akten lagen auf dem Boden, lose Blätter bedeckten die Schreibtische, die Deckenlampen waren zersprungen.

    »Oh mein Gott, Tabea, da bist du ja!«, rief die kleine rundliche Frau, die mit verweinten Augen auf Tabea zustürmte. »Geht es dir gut?« Ihre Kollegin und beste Freundin drückte sie so fest an sich, dass Tabea die Luft wegblieb.

    »Mir geht es gut. Alles in Ordnung«, hauchte sie und löste sich sanft aus der Umarmung.

    »Was ist mit euch? Jemand verletzt?«

    Britt schluckte schwer und schüttelte den Kopf. »So weit ist alles gut. Steffen hat eine Beule am Hinterkopf, aber die tut ihm mal ganz gut, findest du nicht auch?« Tabea konnte nicht anders, als zu lächeln. Sogar in brenzligen Situationen konnte diese lebensfrohe Frau Späße machen. Just in diesem Moment tauchte Steffen vor ihr auf. Wortlos nahmen sie sich in die Arme. Er küsste ihre Stirn, ihre Wange, dann erschrak er. Vorsichtig hob er ihre Arme und sah sich die an einer Stelle zerrissene Bluse und die darunter blutige Haut an. »Was ist passiert?«

    »Ich bin aus dem Lift gesprungen«, beantwortete Tabea Steffens Frage. Das ganze Team umringte sie.

    »Du bist was?«, fragte Steffen.

    »Aus dem Lift gesprungen«, wiederholte Britt Tabeas Worte.

    »Das habe ich gehört!«, fauchte Steffen. Britt verdrehte die Augen. »Meine Güte. Schon gut, Mister Empfindsam.« Sie drehte ihnen den Rücken zu und nahm den Telefonhörer in die Hand. »Ich ruf mal beim Foster an, vielleicht weiß der schon, was da eben los war.«

    »Gute Idee, mach etwas, bei dem du mal nicht nervst!«

    »Steffen!«, schimpfte Tabea, »Sei nicht immer so bösartig zu ihr.«

    »Ich? Bösartig? Sie ist einfach ...«

    »Ja? Was ist sie?«, Tabea hasste Streit und sie versuchte ihm entweder aus dem Weg zu gehen oder ihn direkt aus der Welt zu schaffen, doch sobald es um ihre beste Freundin ging, gab es keine Kompromisse. Darüber war sich ihr Partner im Klaren. Tief atmete er ein. »Vergessen wir das. Und jetzt sag, was meinst du denn damit, du bist aus dem Lift gesprungen?« Tabea drückte ihren Kopf an seine Brust.

    »Ich war auf dem Weg zu ...« Tabeas Erklärung wurde jäh unterbrochen. Der Boden bebte. Dieses Mal war es kein Vibrieren, das den Startschuss zu etwas Größerem gab. Tabea sah nach oben. Die Decke war mit einem Netzwerk von Rissen durchzogen, die sich unaufhaltsam in Richtung der tragenden Wand ausbreiteten.

    »Scheiße, wir müssen hier raus!«, rief sie.

    Ein markerschütternder Knall dröhnte durch den Wolkenkratzer. Tabea hechtete unter den Bürotisch. Sie sah Britt stürzen, die noch immer den Telefonhörer umklammerte. Wie ein Maikäfer auf dem Rücken liegend schrie sie um Hilfe.

    Tabea schloss die Augen und zählte wieder bis fünf. Erst still, dann leise, immer wieder von vorne, bis die Erschütterungen so stark wurden, dass sie vor Angst nur noch schreien konnte. Die riesigen Fensterscheiben zersprangen und ein Regen aus Glas ging auf sie nieder. Die schweren Aktenschränke kippten. Starr vor Entsetzen blieb Tabea liegen, zusammengerollt wie ein Embryo. Der lautstarke Donnerschlag schmerzte noch immer in ihren Ohren. Jedes Geräusch kam gedämpft bei ihr an. All die Hilferufe, all die Schmerzensschreie, die von jeglichen Seiten auf sie einprasselten, nahm sie wie durch Watte wahr.

    Es musste eine Detonation gewesen sein. Ein Anschlag! Terror! Große Angst bündelte sich in ihrem Inneren. Panisch umschlang sie mit beiden Armen ihren Körper.

    Dann wurde es still. Die Erde hatte aufgehört zu beben, aber die darauffolgende Ruhe war nicht weniger bedrohlich. Tabea wollte aus ihrem Versteck hervorkriechen, gleichzeitig aber hielt die Furcht sie zurück. Was würde sie zu sehen bekommen, wenn sie erneut aus dem Fenster blicken würde? Leichen? Sterbende? Schwerverletzte? Eine Stadt in Schutt und Asche? Womöglich war es noch nicht vorbei. Vielleicht waren Amokläufer auf dem Weg in ihr Büro. Alles war möglich, das hatten die letzten Jahre gezeigt.

    Und was war mit ihr? War sie schwer verletzt und merkte es nicht? Dem Tode nahe? Noch könnte das Adrenalin den Schmerz beherrschen.

    Sie hörte Schritte. Tabea hob vorsichtig ihren Kopf und sah zu ihrer linken Seite. Schuhe. Es stand jemand neben ihrem Tisch.

    »Tabea?« Steffen ging zu ihr in die Hocke und reichte ihr die Hand. »Komm, steh auf. Geht es?« Er zog sie auf die Beine und half ihr, Staub und die Glasscherben von der Kleidung zu klopfen. Steffen blutete aus zahlreichen kleinen Schnitten im Gesicht. Auch sein Hemd sah aus wie Tabeas Bluse - rissig und blutig.

    Das Büro war komplett verwüstet. Ordner, Papier, Stifte, Stühle, - alles lag kreuz und quer im Raum verteilt. Der neue Drucker und das ebenso neue teure Kopiergerät – zerstört. Dann bemerkte Tabea die grüne Stiefelette mit dem glitzernden Totenkopf darauf. Sie lag neben dem in zwei Teile zerbrochenen Telefonhörer. Nur eine Person in ihrem Leben hatte solch einen Modegeschmack:

    »Oh mein Gott! Britt!«

    Tabea stürzte zu ihrer Freundin. Sie lag auf dem Bauch in einer Blutlache. Ein großes Stück der Fensterscheibe hatte sich in ihren Rücken gebohrt. Ihre Augen waren geschlossen. »Scheiße! Scheiße! Britt. Oh mein Gott! Warum macht denn keiner was? Ruft verdammt noch mal einen Notarzt!« Tabea schrie. Sie wusste nicht einmal, wen sie da anbrüllte. Irgendjemand musste etwas tun. Steffen schob sie zur Seite.

    »Lass mich mal!« Er fühlte mit seinen Fingern Britts Puls. »Sie lebt«, bemerkte er knapp. Tabea konnte durch ihren dicken Tränenschleier nichts mehr erkennen. Wieder schrie sie: »Einen Notarzt!«

    Steffen griff nach ihrer Hand und drückte sie fest.

    »Liebes! Dora und Michi haben schon mehrmals den Notruf gewählt. Die Rettungskräfte sind völlig überlastet. Hörst du denn nichts?«

    »Was, verdammt nochmal soll ich hören? Britt stirbt. Ich kann ...« Da hörte Tabea ein Martinshorn. Nein, zwei, drei. Und das durchdringende Geheule mechanischer Sirenen. »Um Himmels Willen, Steffen, was ist nur passiert?«

    Sie hörten, wie Dora scharf die Luft zwischen den Zähnen einzog. Sie stand am zersplitterten Fenster, als sie Tabeas Frage mit zitternder Stimme beantwortete: »Eine Katastrophe!« Steffen war mit wenigen Schritten bei Dora, um sie von den Resten des Fensters des neunten Stocks fortzuziehen. Doch er hielt inne, ohne seine Hand von Doras Arm zu lösen. Wie versteinert starrte er hinaus. »Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut.« Michi trat an Steffens Seite. Einige Sekunden sah er schweigend in die Ferne, dann setzte er sich auf den Schreibtischstuhl und vergrub den Kopf in den Händen. »Fuck!«, hörte Tabea ihn zwischen den Fingern hindurch nuscheln. Konrad, der an Britts schwerverletztem Körper gewacht hatte, stemmte sich in die Höhe. Er humpelte zum zerbrochenen Fenster. Blut sickerte aus einer tiefen Wunde an seinem Bein.

    »Oh mein Gott!« Konrad sprach die Worte in einer Tonlage, die Tabea einen Schauer über den Rücken jagten.

    »Es tut mir leid«, flüsterte sie der bewusstlosen Britt ins Ohr, dann stand sie auf und folgte ihren Kollegen ans Fenster. Was sie dort erblickte, ließ ihren Herzschlag für einen Moment aussetzen.

    Unzählige verletzte Menschen, leblose Körper auf den Straßen, zusammengedrückte und auf den Dächern liegende Autos, Krankenwagen, Feuerwehr, Polizei. Brennende Gegenstände, zersplittertes Glas, Geschrei und Rufe, doch das alles nahm Tabea nur ansatzweise wahr. All ihre Aufmerksamkeit war auf etwas gerichtet, das abseits jeglicher Vorstellungskraft lag.

    »Leute, seht ihr das?« Es war Michi, der fragte, doch niemand antwortete. Alle starrten nur in die gleiche Richtung. Dorthin, wo noch vor wenigen Minuten große Firmengebäude gestanden hatten.

    »Das kann nicht sein«, hauchte er. »Weg, er ist weg.«

    Dora tippte Michi auf die Schulter und deutete in die andere Richtung. »Das ist doch jetzt ´n Scherz?«

    Tabea war klar, dass es sich keinesfalls um einen Scherz handelte. Nicht einmal die beste Fernsehsendung konnte für einen Verstehen Sie Spaß – Dreh den Messeturm, das Messegelände, die Hochhäuser Kastor und Pollux, den Hammering Man und sogar den vierthöchsten Wolkenkratzer der Stadt verschwinden lassen. Nein. Das hier war bitterer Ernst.

    Die Sirenen heulten mit ihren schwingenden Tönen über die Dächer der Stadt hinweg. Sie klangen nicht ab, wie es bei Probealarmen der Fall war. Sind wir im Krieg? Tabeas Gedanken rasten, überschlugen sich. Vom neunten Stockwerk aus beobachtete sie am zersplitterten Fenster die winzigen Menschen auf der Straße, die verwirrt umherliefen. Ihre Schreie drangen bis zu ihr hinauf. Es war, als hätten die Gebäude sie kurz vor ihrem Verschwinden ausgespuckt. Und an ihrer Stelle ... Dort wo einst hunderte Leute gearbeitet hatten, wo Menschen das Messegelände besucht oder auf ihre Bahn gewartet hatten, klaffte ein furchteinflößender Schlund. Ein länglicher Graben, der alles verschlungen hatte, was zuvor ein fester Bestandteil der Großstadt gewesen war.

    Von hier oben sah der Graben wie ein riesiger Badesee aus, der in den Sonnenstrahlen der Nachmittagssonne in bläulichen Farben flimmerte.

    »Ist das Wasser?«, frage Dora in die geschockte Stille hinein.

    »Wasser? Nein. Für mich sieht das aus wie blauer Wackelpudding. Schaut doch mal, wie es an den Rändern wabert.«

    »Und das willst du von hier oben erkennen können?«

    »Ja, ich kann das. Vielleicht solltest du mal zum Augenarzt, bevor du mich hier wieder anfauchst!«

    Tabea drängte sich zwischen Michi und Steffen, ehe die Situation eskalieren konnte. »Schluss jetzt! Ich denke, wir haben hier andere Sorgen als eure bescheuerten Streitereien. Britt braucht dringend einen Arzt. Habt ihr das vergessen?«

    Nur schwerlich lösten sich die Redakteure vom Anblick der Stadt im Ausnahmezustand. Alle hatten Angst vor dem, was sie da unten erwarten würde.

    »Wir müssen die Scherbe entfernen.«, stellte Steffen fest und deutete auf die bewusstlose Britt.

    »Entfernen? Bist du irre?«, heischte Dora, »Sie könnte verbluten!«

    »Aber so können wir sie nicht hier raus schaffen.«

    »Wir müssen auf einen Notarzt warten«, meinte Michi. Steffen boxte mit einer Faust gegen Michis Brust, der dadurch ins Wanken geriet und auf einem Stapel Ordner landete. »Hast du schon mal rausgeschaut, du Dummkopf? Alle möglichen Ärzte sind da unten zugange. Entweder muss Britt mit oder sie bleibt hier. Aber wir müssen hier raus. Die Wände bekommen immer mehr Risse. Kannst du uns versprechen, dass das Gebäude nicht einstürzt oder es zu einem neuen Beben kommt?«

    Michi schüttelte den Kopf, Dora sah zu Boden.

    »Ich lasse Britt nicht hier! Los, holt mir den Erste-Hilfe-Kasten und ein sauberes Tuch!«

    Niemals würde Tabea ihre beste Freundin im Stich lassen. Eher würde sie die Gefahr eingehen, sie noch schwerer zu verletzen, solange die Chance gegeben war, sie aus diesem Gebäude zu schaffen. Jemand stellte ihr den Koffer zur Seite und drückte ihr ein weißes Tuch in die Hand.

    »Ich helfe dir«, sagte Dora und drückte Tabeas Hand. Sie nickte. Dann berührte sie den großen Glassplitter und hielt den Stoff bereit.

    »Hoppla!«, flüsterte Dora, als Tabea das Stück Glas bereits in der Hand hielt. »Das ging einfach. Man kann ja auch mal Glück haben, nicht wahr?« Tabea griff nach einer Schere, zerschnitt den Stoff von Britts Oberteil und desinfizierte die Wunde, bevor sie diese mit einer Kompresse abklebte. Mehr konnte sie nicht tun. »Na, dann los jetzt!« Steffen schlang Britts linken Arm um seinen Hals. Konrad trat an ihre rechte Seite. Gemeinsam begannen sie mit der bewusstlosen Kollegin den Abstieg durch das Treppenhaus, das wie durch ein Wunder intakt geblieben war. Im sechsten Stockwerk aber legten sie Britt völlig außer Atem ab.

    »Sie ist schon ganz blass und kalt!«, weinte Dora.

    »Es tut mir leid, aber ich kann echt nicht mehr. Britt ist nicht gerade die Leichteste und ...«

    »Ich habe eine Idee!«, rief Michi. »Im sechsten Stockwerk befindet sich doch der große Sanitätsraum. Lasst uns nachsehen, ob die alte Bundeswehr Krankentrage noch vorhanden ist. Dann können wir Britt anschnallen und einfacher nach unten tragen.«

    Ohne Zögern machten sich Michi und Konrad auf den Weg. Es dauerte keine fünf Minuten, da kamen sie mit der Trage zurück und hievten Britt darauf. Währenddessen knirschte und ächzte das Gebäude aus jeder Ecke bedrohlich.

    »Beeilt euch«, forderte Tabea, »Die Kompresse ist schon durchtränkt mit Blut. Wir brauchen einen Arzt.«

    Sie zählten bis drei, dann hoben die Männer die Trage an, auf der die angeschnallte Britt lag. Sofort geriet Konrad ins Straucheln, die Trage kippte, Tabea stieß einen spitzen Schrei aus.

    »Verflucht noch mal. Pass auf wo du hintrittst!«, fuhr Steffen Konrad an.«

    Tabea sah deutlich, wie sich die Muskeln der Männer unter den Hemden anspannten. Konrads Knie zitterten, doch er hatte zum Glück wieder einen festen Stand und nickte Steffen zu. »Und nun los! Raus hier, bevor das ganze Gebäude einstürzt.« Mit gemeinsamen Kräften schafften sie es ins Freie, mitten ins große Tohuwabohu.

    ***

    Die Sonnenstrahlen schmerzten auf ihren vom Weinen verquollenen Lidern. Sie schirmte das Gesicht mit den Händen ab. Das Heulen der Martinshörner, gemischt mit den jaulenden Sirenen, war kaum auszuhalten. Doch schlimmer war das, was sie sah, als sich ihre Augen endlich an das grelle Licht gewöhnt hatten. Tabea spürte das Herz in ihren Ohren pochen. Gab es eine Steigerungsform von Chaos?

    Überall liefen Leute planlos umher. Manche verletzt, andere verwirrt. Tabea hörte sie weinen, hörte sie schreien und ... Da rempelte sie eine Frau an. Ihr dunkelgrünes Businesskostüm saß tadellos an ihrem ebenso makellosen Körper. Tabea packte sie an ihrem Unterarm, damit sie nicht zu Boden stürzte. Die Frau schaute sie an. Weit aufgerissen waren ihre Augen und ihre Haut blass. Hysterisch schrie sie Tabea an: »Weg! Es ist einfach weg. Plötzlich stand ich auf der Straße. Und dann kam

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