Schau nicht nach unten
Von Dana Kilborne
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Über dieses E-Book
Sasha leidet unter panischer Höhenangst. Ihr Leiden ist so stark, dass sie in einem speziellen Therapiecamp Hilfe sucht. Anfangs ist die Stimmung auch super: Sie findet Freunde, und dann verliebt sie sich auch noch in den süßen Deacon. Doch bald wird ihr Glück getrübt, denn plötzlich passieren merkwürdige Dinge im Camp: Cassie, die unter Platzangst leidet, wird ohnmächtig in ihrer verschlossenen Hütte aufgefunden. Mike, der Angst vor Wasser hat, ertrinkt um ein Haar in einem kaputten Ruderboot. Was geht hier vor? Fest steht: Jemand im Camp verfolgt mörderische Absichten und verbreitet Angst und Schrecken. Aber wer steckt dahinter – und warum? Sasha kommt dem Wahnsinnigen auf die Spur - und droht ins Leere zu stürzen ...
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Buchvorschau
Schau nicht nach unten - Dana Kilborne
ERSTER TEIL
1.
Als Lola die Augen aufschlug, war sie von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Wo war sie? Und wie war sie hierhergekommen? Dann hörte sie das leise Kratzen. Es klang, als würden unzählige winzige, scharfe Krallen über den Boden scharren. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie glaubte, es müsse jeden Moment zerspringen.
Ruckartig setzte sie sich auf und lauschte in die Dunkelheit. Da war es wieder! Und dieses Mal begleitet von einem hohen Fiepen, das Lola einen eisigen Schauer den Rücken hinunterrieseln ließ. Ein unterdrücktes Stöhnen entrang sich ihrer trockenen Kehle.
Ratten!
Kaum jemand mochte die pelzigen Kreaturen mit den bösartig dreinblickenden schwarzen Knopfaugen. Lola allerdings hatte panische Angst vor ihnen.
Gellend schrie sie auf, als etwas Borstiges ihre Finger berührte. Sie zog die Hand weg, als hätte sie sich verbrannt, und sprang auf. All ihre Sinne waren nur noch auf ein einziges Ziel gerichtet:
Flucht.
Panisch lief sie los, doch sie kam nicht weit. Sie stolperte über eine Unebenheit am Boden, geriet ins Straucheln und ruderte hilflos mit den Armen. Verhindern konnte sie ihren Sturz jedoch nicht. Als sie brutal aufschlug, zuckte ein stechender Schmerz durch ihr rechtes Handgelenk.
Sie schrie auf.
Im nächsten Augenblick schnappten scharfe Zähne nach ihrem Fuß, drangen mühelos durch den dünnen Stoff ihrer Sneakers und bohrten sich in Lolas Fleisch.
Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen, dann hörte sie ein wütendes Quieken und einen dumpfen Laut, als der Körper der Ratte in einiger Entfernung auf den Boden prallte.
Hastig rappelte Lola sich auf. Schweiß strömte ihr in Sturzbächen von der Stirn, und sie zitterte am ganzen Leib.
Raus! Nichts wie raus hier!
Schwankend taumelte sie weiter. Irgendwann prallten ihre ausgestreckten Hände gegen eine Wand, und sie tastete sich daran entlang, bis sie auf eine Tür stieß. Grenzenlose Erleichterung durchflutete sie, doch als sie endlich den Knauf ertastete, musste sie feststellen, dass sich die Tür nicht öffnen ließ.
Sie war verschlossen.
»Hilfe!«, schrie sie, und ihre Stimme überschlug sich vor Entsetzen. »Warum hilft mir denn niemand? Ich will hier raus!«
Nichts rührte sich. Das alles war wie ein böser Traum, doch so sehr Lola sich auch anstrengte, sie konnte einfach nicht erwachen. Verzweifelt hämmerte sie gegen die Tür. Tränen strömten ihr über die Wangen.
»Hilfe!«, rief sie, wieder und wieder. »Hiilfeee!«
Erneut griff sie nach dem Knauf, doch diesmal zuckte sie mit einem heiseren Aufschrei zurück, als ihre Finger einen kleinen, pelzigen Körper ertasteten. Dann landete etwas im Rückenausschnitt ihres Shirts, und Lola kreischte auf, zuerst vor Entsetzen, dann vor Schmerz, als sich scharfe Fänge in das empfindliche Fleisch an ihrem Nacken bohrten. Von unbändigem Ekel erfüllt schlug sie mit der Hand nach der Ratte, doch es dauerte eine Weile, bis sie sie abgeschüttelte hatte.
Gleichzeitig spürte sie einen Biss in ihrer Wade, und eine weitere Ratte landete fiepend auf Lolas Kopf.
Das war zu viel für das Mädchen. Schreiend ging Lola zu Boden. Sofort wurde sie von weiteren Ratten angegriffen, die nur auf eine Gelegenheit gewartet hatten, sich gefahrlos auf sie zu stürzen.
Aus zahllosen Wunden blutend, schlug sie um sich und schrie wie am Spieß. In ihrem Kopf war kein Raum mehr für klares Denken.
Sie war erfüllt von eisigem, namenlosem Entsetzen …
»Bist du sicher, dass du das wirklich durchziehen willst?« Mrs. Logan sah ihre Tochter zweifelnd an. »Du weißt, dass du nur ein Wort zu sagen brauchst, und dein Dad und ich nehmen dich auf der Stelle wieder mit nach Hause.«
Seufzend strich Sasha sich eine lange, dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und schob sie sich hinters Ohr. »Glaub mir, Mom, ich kann mir auch Schöneres vorstellen, aber ich weiß langsam echt nicht mehr weiter. Eines aber ist sicher: Es wird wirklich höchste Zeit, dass sich etwas ändert.«
»Aber …«
»Jetzt lass sie doch, Lillian, sie hat ja recht«, schaltete sich nun Sashas Dad ein. »Dr. Sloefeld hält es ebenfalls für eine gute Idee, und ich kann ihm ehrlich gesagt nur beipflichten. Wenn Sasha eine meiner Patientinnen wäre …«
»Aber das ist sie nicht«, protestierte Mrs. Logan. »Sie ist unsere Tochter, Herrgott!«
Mr. Logan legte seiner Frau besänftigend eine Hand auf die Schulter. »Das weiß ich doch, Darling. Ich finde einfach, wir sollten Sasha unterstützen, so weit es in unserer Macht liegt. Und wenn sie sich schon dazu in der Lage fühlt, an ihren Ängsten zu arbeiten, dann finde ich das sehr bewundernswert. Im Übrigen habe ich eine sehr hohe Meinung von Sloefeld, und …«
Sasha hörte nicht mehr hin. Diese Diskussion hatte sie schon so oft miterlebt, dass sie genau wusste, wie sie ausgehen würde. Am Ende würde ihr Vater sich durchsetzen. Allerdings war Sasha nicht sicher, ob sie darüber wirklich froh sein sollte …
Der Gedanke, sich in den nächsten Wochen in einem Camp mitten in den kanadischen Rockys therapieren zu lassen, bereitete ihr noch immer ziemliches Unbehagen. Doch sie wusste, dass es kaum einen anderen Weg gab, um die Höhenangst zu besiegen, an der sie seit dem Tod ihres Bruders – also immerhin seit zwei Jahren – litt. Aber es erschien ihr immer noch besser, für eine kurze Zeit ihren schlimmsten Ängsten ausgesetzt zu werden, als sich für den Rest ihres Lebens einschränken zu müssen. Und es war eine starke Einschränkung, wenn man, wie sie, nicht einmal auf einen niedrigen Küchenhocker steigen konnte, ohne gleich einen schlimmen Panikanfall zu bekommen.
Mr. Logan seufzte. »Das haben wir doch mindestens schon zwanzig Mal durchdiskutiert. Sasha hat selbst eingesehen, dass es das Beste für sie ist. Du solltest es ihr wirklich nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon für sie ist.«
»Sasha, jetzt sag du doch auch mal was!« Hilflos blickte Mrs. Logan ihre Tochter an. »Es ist schließlich deine Gesundheit, über die wir hier sprechen!«
Sasha zuckte mit den Achseln. »Sorry, Mom, aber ich zieh das jetzt durch. Glaub mir, ich bin auch nicht gerade scharf darauf, aber irgendwann muss ich mich der ganzen Sache stellen, ob ich nun will oder nicht.«
Anerkennend klopfte ihr Dad ihr auf die Schulter. »Das ist meine Tochter«, sagte er stolz. »Lilian, ich glaube, du unterschätzt Sasha. Sie ist zäh und hat einen starken Willen. Ich bin sicher, sie wird sich nicht so leicht unterkriegen lassen.«
Mrs. Logan standen Tränen in den Augen, doch sie gab sich geschlagen. Was blieb ihr auch anders übrig? Sasha hatte das Gefühl, dass ihre Mom seit Trevors Tod noch überängstlicher war als zuvor. Übelnehmen konnte sie es ihr jedoch nicht. Immerhin hatte sie durch ein tragisches Unglück bereits ihren Sohn verloren, da war es kein Wunder, dass sie auf das Wohl ihres einzigen noch verbliebenen Kindes besonders großen Wert legte.
Bei Sashas Dad sah die Sache schon wieder ein bisschen anders aus. Zwar war auch er nach Trevors Unfall in ein tiefes Loch gefallen, doch William Logan war Psychologe. Auch wenn er sich in diesem speziellen Fall natürlich nicht selbst helfen konnte, war ihm sein Wissen über die Abgründe der menschlichen Psyche doch eine große Hilfe gewesen. Er hatte keine Sekunde gezögert und seinen Kollegen Dr. Sloefeld um Rat gebeten. Dieser kümmerte sich seitdem um die psychologische Betreuung der gesamten Familie Logan.
Auch die Sache mit dem Camp war auf Sloefelds Idee gewesen. Ein Therapiezentrum für traumatisierte Jugendliche, getarnt als Ferienlager. Zuerst hatte Sasha es für einen schlechten Scherz gehalten, nach und nach war sie dann aber doch zu der Einsicht gekommen, dass es wohl tatsächlich das Beste war, wenigstens die Ferien dort zu verbringen.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie seitdem aber mehr als einmal an ihrem Entschluss gezweifelt. Sasha war nicht dämlich, sie wusste genau, was eine solche Therapie bedeutete: Früher oder später würde man versuchen, sie mit ihren Ängsten zu konfrontieren. Und was das hieß, war klar: Wahrscheinlich würde man sie auf einen Berg steigen lassen oder sonst was in der Art. Sie war nicht sicher, ob sie wirklich schon so weit war. Doch sie musste es zumindest versuchen.
»Bis bald, Schatz«, schluchzte Mrs. Logan und umarmte ihre Tochter so fest, dass der beinahe die Luft wegblieb. »Wenn es irgendwelche Probleme gibt, rufst du uns einfach an, okay? Wir holen dich dann auf der Stelle nach Hause.«
»Alles klar, Mom. Ich melde mich bei euch, sobald ich mich hier ein bisschen eingelebt habe, in Ordnung?«
Ihre Mutter sah aus, als stünde sie kurz vor einem Zusammenbruch. Mr. Logan legte seiner Frau einen Arm um die Schultern und führte sie zurück zum Wagen. »Du kommst allein zurecht?«, fragte er seine Tochter. »Ich glaube, deine Mom braucht mich im Augenblick dringender als du.«
Sasha nickte. Allerdings fühlte sie sich schon ziemlich verlassen, als sie schließlich ihren Koffer aufnahm und langsam auf den Eingang des Camps zuging. Das Gelände war komplett umzäunt, um Eindringlinge fernzuhalten – oder um die Bewohner am Verlassen des Camps zu hindern? Fast wie in einem Gefängnis …
Sie atmete tief durch, trat durch das Tor und hielt nach einer Person Ausschau, an die sie sich wenden konnte. Doch es war nirgendwo eine Menschenseele zu erblicken.
Was jetzt?
Ein wenig hilflos blieb sie für ein paar Minuten stehen; dann zuckte sie mit den Schultern und ging einfach weiter. Plötzlich kam ein rundlicher Junge angelaufen, der einen unmöglichen, fliederfarbenen Trainingsanzug trug, in dem er aussah wie ein überdimensionales Veilchen. Schweiß lief ihm in Sturzbächen übers Gesicht, und er war völlig außer Atem.
»Sasha Logan?«, stieß er keuchend hervor. Als sie nickte, sagte er: »Sorry, ich hab total verpennt, dass du kommst. Eigentlich sollte ich hier draußen Wache schieben, aber unten im Camp gab es einen … ähm … Zwischenfall.«
»Einen Zwischenfall?« Sasha runzelte die Stirn. »Was ist denn passiert?«
»Also …« Er wirkte unschlüssig. »Na ja, das erklärt dir besser jemand anders. Ich bin hier bloß die Aushilfe. Das ist quasi mein Ferienjob, damit ich mir was dazuverdienen kann. Ich will mir nämlich einen gebrauchten Dodge kaufen, und dafür kann ich die Kohle echt gut gebrauchen. Übrigens, ich heiße Josh.«
Sasha war ein bisschen irritiert. Ihre Ankunft hier im Camp hatte sie sich ein bisschen anders vorgestellt. Und dann dieser so genannte Zwischenfall. Was da wohl passiert war?
»Was ist, kommst du?«, riss Josh sie aus ihren Gedanken.
Sasha folgte ihm. Sie waren gerade ein paar Minuten über einen unbefestigten Pfad gelaufen, als ihnen ein nervös wirkender, spindeldürrer Mann entgegenkam, der sein dünnes Haar zu einem mickrigen Zopf zusammengebunden trug.
»Das ist Mr. Davidson«, erklärte Josh. »Er ist einer der Betreuer. Na ja, eigentlich ist er Therapeut, aber sie bemühen sich hier immer krampfhaft, bloß keine Krankenhausatmosphäre aufkommen zu lassen.«
»Du musst Sasha sein.« Mr. Davidson streckte ihr die Hand entgegen. »Ich konnte mich leider nicht früher um dich kümmern. Normalerweise empfange ich jeden Neuankömmling persönlich am Tor, heute allerdings …«
Sasha nickte. »Hab schon gehört, dass etwas passiert ist. Kann ich irgendwie helfen?«
»Nein, nein, wir haben die Sache inzwischen wieder im Griff.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Weißt du, irgendjemand hat sich einen gemeinen Streich mit einer unserer Campbewohnerinnen erlaubt. Lola ist noch ziemlich mitgenommen, aber sie wird drüber wegkommen. Allerdings würde ich einiges dafür geben, denjenigen zu erwischen, der dafür verantwortlich ist. Ich verstehe das überhaupt nicht. So etwas hat es hier bei uns noch nie gegeben!«
Zu gern hätte Sasha gewusst, was genau passiert war, doch Mr. Davidson schien nicht darüber zu sprechen zu wollen, und das musste sie wohl oder übel akzeptieren.
Er führte sie zu einer Hütte. »So, hier