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Whalea
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eBook326 Seiten4 Stunden

Whalea

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Über dieses E-Book

Zwei Leben, zwei Welten.
Strikt voneinander getrennt und dennoch untrennbar miteinander verwoben durch die Zeit. Obwohl Rosa, Wächterin in Whalea, überzeugt ist, ihr lang gehütetes Geheimnis in den Tiefen ihrer fantastischen Dimension unauffindbar versteckt zu haben, spült das Schicksal ihr die Vergangenheit vor die Füße: Ben.
Doch als der Frankfurter Banker Ben von Thalau unfreiwillig in Whalea auftaucht, stellt das nicht nur ihr Leben auf den Kopf. Denn Menschen sind in ihrer Welt strengstens verboten. Und er hat alle Hände voll zu tun, in der whaleanischen Realität nicht den Verstand zu verlieren.
Für Rosa und ihre Gefährten beginnt ein beispielloser Spießrutenlauf. Sie müssen den Fremden wieder nach Hause bringen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Dafür ist Rosa bereit, alle Tabus zu brechen. Nur so kann sie ihr Geheimnis bewahren.
Allerdings hat sie die Rechnung ohne Ben gemacht. Der hat ganz andere Pläne.
In Anlehnung an den historischen Fall der Anna Maria Schwägelin, der letzten Hexe, die hierzulande im 18. Jahrhundert verurteilt wurde, spinnt die Autorin die Handlung aus Vergangenheit, Gegenwart und Fiktion, aus dem Diesseits und der verborgenen Dimension zu ihrem Debütroman "Whalea".
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum26. Apr. 2021
ISBN9783754113189
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    Buchvorschau

    Whalea - Laura Ventur

    PROLOG

    Elfe

    Am Anfang war die Zuckerdose

    Rasmus lag faul am Ofen. Die Wärme der geizig hineingelegten Feuersteine hatte sich nicht nur wie ein Handschuh auf dessen Außenhaut gelegt, sondern auch auf seine Seele. Bis in die frühen Morgenstunden hatte er im Wald gejagt. Müde, aber zufrieden war er mit den ersten Sonnenstrahlen wieder nach Hause zurückgekehrt, hatte sich erschöpft auf seine pingelig glattgestrichene Wolldecke sinken lassen und sich anschließend ausgiebig der Körperpflege gewidmet. Den Rest des Tages hatte er verschlafen. Nun lag er dösend da und ließ im Halbdunkel der Küche die Seele baumeln.

    Im Haus herrschte Stille. Wie immer, wenn Rosa nicht da war. Bis auf eine Ausnahme. Den fast komatösen Zustand seiner momentanen Glückseligkeit störten metallene Schallwellen, die plötzlich dumpf durch den Raum waberten und seine Lebensgeister langsam, aber stetig wachrüttelten. Dem zögerlichen Öffnen seiner Augen folgte das widerwillige Hochfahren seines Gehörsinns. Bewusst horchte er nun in die Küche hinein und nahm ein leises Fluchen wahr. Er kannte diese unvergleichlich helle, fast gläserne Stimme nur allzu gut.

    Olivia!, schoss es ihm durch den Kopf. Es konnte nur einen Grund geben, warum sie so fluchte. Und dieser Grund trieb ihm die Energie mit aller Macht wieder in die Glieder. Rasmus kniff seine stahlblauen Augen zusammen: Dieses Miststück machte sich an der Zuckerdose zu schaffen.

    Jetzt erst hob er den Kopf. Längst hatte er Olivias Position ausgemacht. Hoch oben, auf dem Küchenregal, zwischen prall gefüllten Gewürz- und Einmachgläsern hatte sie sich über die Zuckerdose hergemacht und versuchte listig, das Küchenmesser so anzusetzen, dass der Deckel durch die Hebelwirkung abspringen würde. Noch hatte sie nicht bemerkt, dass sie Rasmus dabei aus seinen Tagträumen geholt hatte. Unentwegt schimpfte sie weiter, denn das schwere Messer glitt immer wieder ab.

    Rasmus grinste in sich hinein. So ein Luder. Rosa hatte am Abend vorher Vanillezucker hergestellt, während die Lichtelfe hell leuchtend auf dem unteren Regalrand über der Arbeitsplatte gesessen und dabei zugeschaut hatte, wie sie die Zuckerdose damit füllte. Die ganze Küche hatte nach Vanille gerochen. Und weil Rosa wusste, dass es nichts gab, was Lichtelfen lieber mochten als frisch zubereiteten Vanillezucker, hatte sie vorsorglich eine Glasdose mit Drehdeckel verwendet.

    Aber nicht nur Lichtelfen waren hinter Vanillezucker her wie die raffgierige Zwergenart der Laguren hinter dem Edelstein. Auch Jördinkatzen konnten äußerst ungemütlich werden, wenn es um bestimmte Schleckereien ging.

    Der Zucker gehört mir, dachte er und der Teil seines Gehirns, der für strategischen Angriff zuständig war, kombinierte blitzschnell. Von so einer dreisten, fliegenden Bonsai-Leuchte würde er sich diese Köstlichkeit nicht vor der Nase wegschnappen lassen.

    Längst hatte Rasmus mit dem Schnurren aufgehört. Dass Olivia das in ihrem Eifer entgangen war, konnte ihm nur recht sein. So gierig und vertieft war sie in die Sache, dass sie auch vergessen hatte, ihren Lichtkegel vorsorglich auszumachen, um nicht um jeden Preis ins Auge zu fallen.

    »Verfluchte Dose«, zischte sie und ihre Flügel schlugen aufgeregt. Unter der Last eines Messers, das fast größer war als sie selbst, war ihr die ungeheure Kraftanstrengung deutlich anzusehen.

    Rasmus konnte sich an den Krallen einer Pfote ausrechnen, wie es weitergehen würde. Lieber wäre dieser elbische Sturkopf gestorben, als aufzugeben. Geringe Aussicht auf Erfolg? Für solche Aktionen waren waschechte Brenna-Elfen prädestiniert. Die gaben niemals auf.

    Entschlossen setzte Olivia die Messerspitze nochmals unter dem Deckelrand an, bis sie einen Widerstand spürte. Sie zog ihren linken Mundwinkel nach oben und hielt einen Moment lang inne. Endlich war das Messer zwischen der Glasrille und dem Deckel eingerastet. Jetzt musste sie nur noch dieses schwere Metallding nach oben drücken und schon würde der widerspenstige Deckel wegflippen. »Komm schon«, flüsterte sie leise und ließ das finale »n« sonor weiterklingen. Mit den letzten Kraftreserven stemmte sie dabei das Messer nach oben.

    »Brauchst du Hilfe, meine Liebe?«, fragte eine tiefe Stimme ganz sanft und leise. Jede Silbe des Baritons fuhr der Lichtelfe in die Glieder. Und sein mit Hingabe gerolltes »r« trieb ihr Schauer über den Rücken. Olivia verzog das Gesicht und rollte die Augen. Das Messer hielt sie unterdessen weiter fest im Griff. Keine Frage, diese vermeintlich netten Worte waren an Scheinheiligkeit wohl kaum zu überbieten. Schließlich kamen sie von einer Jördinkatze.

    Deutlich konnte sie spüren, wie sie rot anlief vor Wut – nicht so sehr wegen dieses haarigen Fettsacks. Sondern weil sie ihn unterschätzt hatte. Sie hatte es zugelassen, dass er sich an sie heranschleichen, sie hinterlistig beobachten konnte – wahrscheinlich hatte ihm das auch noch ein großes Vergnügen bereitet. »Verschwinde«, zischte Olivia, »sonst ramme ich dir das Messer zwischen die Augen.«

    Doch ihre Feindseligkeit entlockte Rasmus nur ein müdes Lächeln. »Dazu hast du keine Kraft mehr«, entgegnete er selbstsicher.

    »Du würdest es nicht wagen, mir auch nur ein Haar zu krümmen«, zischte sie zurück, »Rosa würde dir den Kopf abreißen.«

    »Mmmhhh.« Pause.

    Olivia wartete unsicher auf seine Antwort. Jördinkatzen waren bekannt für ihr sprunghaftes und impulsives Wesen. Auf sie war kein Verlass.

    »Es käme wohl auf einen Versuch an«, fuhr er lapidar fort, und seine Worte klangen bedächtig. Er bemerkte sehr wohl, dass das Licht der Brenna allmählich heller wurde. Seine Pupillen reagierten auf die steigende Intensität und verjüngten sich zusehends, bis seine stahlblauen Augen durch einen vertikalen, dünnen, schwarzen Schlitz in zwei Hälften geteilt wurden.

    »Reg dich nicht auf«, surrte Rasmus arrogant und legte dabei ein unverschämt breites Grinsen auf. »Gleich fängst du Feuer und fackelst die Bude ab. Fragt sich, wem Rosa dann den Kopf abreißt.«

    Er konnte sich diesen überheblichen Ton durchaus leisten. Schließlich war er es, der die Fäden in dieser Situation in der Hand zu halten schien. Wenn er es geschickt anstellen würde, könnte er diesem kleinen Biest ihr letztes Bubenstück heimzahlen, die Zuckerdose leeren und Olivia am Ende die Schuld in die Schuhe schieben.

    Denn sie hatte bei ihm tatsächlich noch etwas im Salz liegen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie eine Feuerspinne zwischen die Lagen seiner Schmusedecke geschmuggelt. Die hatte ihm dann prompt ein Loch nicht nur in seine heiß geliebte Decke, sondern auch in sein schönes glänzendes Fell gebrannt, als er sich todmüde auf sein Schlaflager niederließ. Das Geschrei war groß gewesen und Rosa hatte alle Hände voll zu tun gehabt, um die schmerzende Brandwunde zu versorgen. Seither sann er auf Rache.

    Die Elfe hatte sichtlich Mühe, ihr Temperament im Zaum zu halten. »Was willst du?«, fragte sie deutlich genervt.

    »Den Vanillezucker«, säuselte der Kater mit brummender Stimme und allein dieses Wort elektrisierte ihn so sehr, dass seine Schwanzspitze, die bis dahin gespannt, aber kerzengerade nach unten gehangen hatte, begann, kleine Kreise und Achten in die Luft zu schreiben, während er oben am Regal und seitlich am Schrank festgekrallt war.

    »Kannst du vergessen!«

    Mit dieser Antwort hatte Rasmus gerechnet, doch er war mächtig stolz auf sich, dieses kleine Miststück derart in die Enge getrieben zu haben. Er musste nur noch zuschauen, wie ihr Zorn ein Niveau erreichen würde, das sie nicht mehr zu kontrollieren vermochte. Fupp! In einem Wimpernschlag entzündete sich die Brenna – so einfach wie ein Streichholz Feuer fängt – und brannte augenblicklich lichterloh in bläulich-orangen Farben. Dieser Punkt ging klar an ihn, wie Rasmus selbstzufrieden feststellte. Damit hatte er Olivia allerdings unter Zugzwang gesetzt. Mit letzter Kraft drückte sie das Messer nach oben, der Deckel sprang vom Glas, rollte ein kurzes Stück und fiel dann mit lautem Getöse vom Regal. Schnell ließ sie das Messer fallen, sprang mit einem Satz auf die Zuckerdose und klammerte sich daran fest.

    »Na los, komm mich holen, wenn du kannst!« Die Lichtelfe brach in schrilles, schallendes Gelächter aus. Rasmus traute seinen Augen nicht – diesen Schachzug hatte er nicht kommen sehen. Die Hitze, die von ihrem kleinen Körper ausging, war so groß, dass die ersten Zuckerkristalle schmolzen. Bald würde auch das Glas zerspringen. Holzwand und Decke waren ebenfalls bereits angesengt.

    »Das wirst du mir büßen, du Schlange!«, fauchte Rasmus. War er noch vor wenigen Momenten siegesgewiss davon überzeugt gewesen, die Situation zu kontrollieren, sah er jetzt seine Hoffnungen in Rauch aufgehen. Doch der zündende Einfall ließ nicht lange auf sich warten. Olivias Lachen wurde hysterisch, als sie Rasmus dabei beobachtete, wie er grimmig zum Gegenschlag ausholte. Er atmete tief ein und schleuderte der Brenna aus vollen Lungen mit solcher Wucht einen gewaltigen Luftschwall entgegen, dass nicht nur ihr Feuer mit einem Mal ausging, sondern der auch so gut wie alles wegfegte, was auf dem Regal stand.

    Die bauchigen Einmachgläser rauschten direkt zu Boden, gefolgt von den längeren, zylinderförmigen. Auch das Zuckerglas und Olivia kippten im Windstoß. Entsetzt musste Rasmus mit ansehen, wie sie mit einem schrillen Schrei zu Boden rasten und das Gefäß ohrenbetäubend klirrend in tausend Scherben zerbarst. Der teilweise schon flüssige Zucker erkaltete augenblicklich und klebte am Holzfußboden fest, die verbliebenen Zuckerkristalle verteilten sich in alle Himmelsrichtungen wie Hühner auf dem Marktplatz.

    »Olivia«, rief der Kater besorgt von oben herab, »bist du verletzt?« Nicht auszudenken, was Rosa ihm vorgehalten hätte, wäre ihr etwas zugestoßen.

    Die Lichtelfe richtete sich nur ganz allmählich auf und kam zum Sitzen. »War das ein Schlag«, ächzte sie und hielt sich ungläubig die Stirn. Fassungslos starrte sie auf das Trümmerfeld um sich herum. Die süße Schleckerei war verloren. »Auweia, das gibt Ärger.« Vorwurfsvoll schaute sie nach oben, wo Rasmus immer noch festgekrallt in der Luft hing. »Alles deine Schuld, du haariger Holzkopf!«, schrie sie wütend hinauf. »Hättest du mich in Ruhe gelassen, wäre das alles nicht passiert.«

    »Ganz offensichtlich bist du wohlauf«, kam prompt die Antwort von oben. »Dein Schandmaul ist jedenfalls noch voll funktionsfähig.« Mit einem Satz sprang er von oben herab genau vor die Lichtelfe, die mittlerweile wie eine Salzsäule dastand und zu ihm aufblickte. Dann senkte Rasmus langsam den Kopf und verlagerte sein Körpergewicht dabei auf die Vorderpfoten, sodass die Schulterblätter auf dem Rücken spitz herausragten.

    »Komm her«, fauchte er leise, »lass uns wieder Freunde sein. Ich drück dich an meine Brust, dass es kracht!« Im Zeitlupentempo folgte er dabei der Elfe, die sich bereits zum geordneten Rückzug entschlossen hatte und unsicher einen Fuß hinter den anderen setzte. Sie hatte den Bogen überspannt, das wollte er ihr nicht durchgehen lassen.

    Und das hatte Olivia verstanden – es wurde verdammt eng für sie. Jetzt konnte nur noch ein Unterschlupf helfen, an den ihr Gegner nicht herankam. Dort könnte sie ausharren, bis Rosa zurückkommen würde. Aus den Augenwinkeln sah sie die Küchenanrichte, die auf Holzfüßen stand. Darunter war Platz genug für sie, auch wenn sie dort nicht aufrecht stehen konnte. Ihr Gegenspieler indes hätte Mühe, sie mit seinen großen Tatzen dort herauszupulen. Sie fackelte nicht lange. Blitzschnell flog sie unter das Möbelstück, Rasmus folgte ihr wie ein Schatten.

    »Das wird dir auch nicht helfen. Ich reiß dir die Flügel einzeln aus, sobald ich dich in meine Krallen bekomme«. Er lugte unter die Küchenanrichte und Olivia konnte seinen Blick auf ihr deutlich spüren. Rasmus würde wohl erst Ruhe geben, wenn er sie in tausend Stücke gerissen hätte.

    Rückwärts und vornübergebeugt bewegte sie sich im dunklen Schatten der Möbelunterseite zum anderen Ende der Anrichte. Aus dem Augenwinkel sah sie die Terrassentür offen stehen. Im Freien hätte sie wesentlich mehr Chancen, diesem wildgewordenen Kater zu entkommen und zu warten, bis er bei der Jagd wieder Herr seines Testosteronschubs geworden wäre.

    Rosa hätte anschließend die Versöhnungszeremonie übernehmen können, denn diese Katzenart war nachtragend. Die Gefahren, die sonst noch da draußen lauerten, waren für sie sicherlich zu meistern. Dazu musste sie nur ihren Lichtkegel ausschalten. In der Dämmerung wäre sie praktisch nicht auszumachen. So könnte sie sich auf die Suche nach einem Unterschlupf machen, vielleicht ein Erdloch oder eine kleine Höhle in einem Baumstamm. Zur Not hätte sie uneinsichtige Bewohner kurzerhand ausquartiert.

    Die Entscheidung, einen Fluchtversuch zu wagen, war augenblicklich getroffen. Wortlos trat sie aus dem Schatten der Anrichte heraus und begann mit einem entschlossenen Sprung den rettenden Flug zur Terrassentür.

    Rasmus indes hatte diesen Schachzug schon lange vorausgesehen. Die einzige Möglichkeit, dieses niederträchtige Biest in die Krallen zu bekommen, war, sie aus dem Raum herauszulassen. In der Küche gab es zu viele Schlupflöcher für das kleine fliegende Ding. Und die Kücheneinrichtung wollte er nicht auseinandernehmen – er scheute die Konfrontation mit Rosa. Da draußen hatte er schon eher eine Chance, sich zu rächen. Vor allem, weil er schneller laufen als sie fliegen konnte. Ein ausgezeichneter Kletterer war er obendrein.

    Und mit Olivias Flucht aus der Küche ging sein Plan voll auf. Aus dem Stand schnellte er hinter der Lichtelfe her, hinaus in die kühle Abendluft und in die Dämmerung, die sich allmählich über Whalea niedersenkte. Die Jagd hatte begonnen.

    Kapitel 1

    Elfe

    Eine schicksalhafte Begegnung in Frankfurt

    Dummes Menschenvolk«, grummelte Rosa leise vor sich hin, während sie ein wenig schwerfällig die Stufen der Straßenbahn hinabstieg und sich dabei zur Sicherheit am seitlichen Haltegriff festhielt. Das Alter hatte sie schrumpfen lassen, ihr Rücken war ein wenig gebeugt, die langen, grauen Haare hatte sie streng zurückgekämmt und hochgesteckt. Nicht geschrumpft war ihr Selbstbewusstsein. Dass ihr manche Arroganz vorwarfen, war ihr egal. Durch ihre Erfahrung und ihre Stellung zählte sie sich selbst zu den Resoluten, zu den Machern. Nicht den Verzagten, sondern den Mutigen gehörte die Welt – eine Meinung, die sie nach außen hin sichtbar darstellte.

    Ein leichter Groll stieg in ihr hoch, als sie sich durch die Menschentraube vor der Straßenbahn kämpfte, die wie eine Wand vor dem Einstieg stand, um schnellstmöglich hineinzukommen. Dabei war sie es gewohnt, gegen Widerstände anzurennen.

    Die werden es nie lernen, dachte sie. Als ob es da drinnen etwas umsonst gäbe. Nach all den Jahren in dieser Stadt war ihr die körperliche Nähe der Menschen immer noch unangenehm. Bevor sie weiterging, zupfte sie ihren abgetragenen Mantel wieder zurecht und strich sich ihre Frisur glatt, die in dem Gedrängel ein wenig Schaden genommen hatte. Dann streifte sie sich die altmodische Tasche wieder über ihren angewinkelten Unterarm und setzte ihren Marsch fort. Sie war müde und hatte nach diesem langen Tag das starke Bedürfnis, nach Hause zu kommen, um sich auszuruhen.

    Dass sie in die Jahre gekommen war, konnte sie vor sich selbst mit vernünftigen Argumenten nicht mehr abstreiten. Dabei hatte sie früher anstrengende Tage wie diesen mühelos wegstecken können. Doch heute wollte sie nur noch ihre Füße hochlegen bei einer dampfenden Kräutermischung mit einem großen Löffel des herrlich duftenden Vanillezuckers, den sie just am Vorabend zubereitet und auf das hohe Küchenregal gestellt hatte.

    Allein der Gedanke an diese Zeit der Ruhe und der Besinnlichkeit ließ sie mit schnellem Schritt gehen. Zuhause – das war für sie mehr als nur die vier Wände, die sie vor Regen und Kälte schützten; Zuhause, das war für sie die Oase der Glückseligkeit, die Ruheinsel, die weit weg war vom Getümmel und Gewusel in der Menschenwelt.

    Wie so oft ließ sie ihren Blick auch an diesem Abend über die Zeitungen und Zeitschriften schweifen, die an den Außenwänden von Ronnys Kiosk hingen. Jedes Mal drängte sich ihr der Verdacht auf, dass er sie mit einer Wasserwaage aufgehängt haben musste, so perfekt linear waren die gedruckten Papierwerke angebracht. Ronny war eine verkrachte Existenz, der sein Leben nur in den Griff bekommen hatte, weil Rosa ihn unter ihre Fittiche genommen hatte. In tiefer Dankbarkeit grüßte er sie, wenn sie dort vorbeieilte. Und sie schenkte ihm dafür ein kurzes Lächeln. Mehr, dessen war sich Ronny bewusst, konnte er von ihr nicht erwarten. Und mehr wollte er auch nicht. Also stand er jeden Abend an der offenen Kiosktür und wartete darauf, dass sie vorbeiging.

    Dieses Mal allerdings blieb sie stehen, um zu lesen, denn eine dicke Schlagzeile des Abendkurier erregte ihre Aufmerksamkeit. Drei Arbeiter in der Kanalisation verschwunden, hieß es da. Rosas Blick klebte an den Buchstaben. Und darunter hieß es weiter: Fieberhafte Suche nach den Vermissten.

    Ronny traute seinen Augen nicht – sie war nicht vorbeigelaufen. Stumm blickte er zu ihr herüber. Dann trat er an sie heran. »Wenn du willst, kannst du die Zeitung mitnehmen«, sagte er mit schnörkellosem Ton. Ein wenig unbeholfen versuchte er dabei, seine Gefühle für sie zu verbergen. Schließlich wusste er nur allzu gut, dass ihr solche Art von Sentimentalität verhasst war und dass sie keine Dankbarkeit erwartete, sondern bloß, dass er sein Leben selbst in die Hand nahm. Mehr nicht.

    Mit Gefühlen der Menschen wollte sie nichts zu tun haben. Das hatte sie ihm nie gesagt, doch Ronny spürte ihre Unnahbarkeit. Das musste er akzeptieren, auch wenn ihm anders zumute war. Sie schaute ihn an, wortlos und mit Augen, die ihm ihre Besorgnis verrieten. Dann nickte sie. Der Kioskbesitzer war ein einfach gestrickter Mann. Aber er verstand sie, auch ohne große Worte. Also nahm er die mit Wäscheklammern befestigte Zeitung herunter und reichte sie ihr. Rosa nickte wieder und Ronny fühlte eine tiefe Befriedigung. Es war ihre Art, sich zu bedanken. Grußlos wandte sie sich ab und ging weiter.

    Während sie die Zeitung zum Handtaschenformat zusammenfaltete, verwarf sie jeden weiteren Gedanken an den Artikel. Den würde sie später lesen. Jetzt wollte sie nur nach Hause und hastete durch die belebten Straßen. Gerade, als sie einen Fuß auf den Zebrastreifen der Börsenstraße gesetzt hatte, rissen sie quietschende Reifen und lautes Hupen aus ihrer Gedankenwelt.

    »Pass doch auf, wo du hingehst!«, blökte der junge Fahrer, der seinen Kopf aus dem Fenster streckte.

    »Was fällt Ihnen ein, Sie Flegel?«, rief Rosa zurück. »Sie hätten mich beinahe überfahren! Sind Sie blind? Ich befinde mich auf einem Zebrastreifen!«

    »Das sehe ich wohl, junge Dame«, erwiderte der Mann sarkastisch, wobei sein unverschämtes Grinsen die weißgebleichten Zähne entblößte.

    Die Alte kam ihm gerade recht. Nicht nur, dass er sich im Büro mit bockigen Kollegen herumstreiten musste. Jetzt wollte ihm auch noch diese renitente Oma das Leben schwermachen. Sein Bedarf an Ignoranz war für diesen Tag gedeckt, wie er fand. »Kann es sein, dass die Optik der Gnädigsten ein wenig nachgelassen hat oder warum sehen Euer Hochwohlgeboren nicht, dass die dreiarmige Straßenfunzel da vorne rot leuchtet?«

    Ungläubig starrte sie auf die Fußgängerampel. Sie war tatsächlich rot. Rosas Miene verfinsterte sich. »Rüpel«, polterte sie los, »das gibt Ihnen nicht das Recht, mich so zu erschrecken!«

    Einen Moment lang sah sie dem jungen Fahrer noch tief in die Augen, die wohlgeformt aus einem braungebrannten, irgendwie vertrauten Bilderbuchgesicht hervorstachen und so grün wie Jade waren. Mit langen, dichten Wimpern. Es war dieser bewusste Blick in die Augen des Fremden, der einen Sturm der Gefühle in Rosa entfesselte. Ihr Herz pochte plötzlich so heftig, dass sie es bis in die Schläfen fühlte – ein Klopfen, zu laut, um es zu überhören. Es war die Erinnerung, die ungestüm und anmaßend an ihre Tür trommelte. Weil sie mit aller Macht herauswollte aus dem Verlies, in das Rosa sie einst verbannt hatte. Weggesperrt für die Ewigkeit. Meinte sie jedenfalls.

    Sie presste ihre Lippen zusammen und schluckte. Dabei konnte sie es kaum fassen – ein einziger Augenblick hatte einen gnadenlosen Krieg in ihr entfesselt, den sie im Traum nicht für möglich gehalten hätte. Grausam und ohne Mitleid kämpfte sie das nieder, was die Erinnerung ihr in diesem Moment zurückgeben wollte. Mit solcher Willenskraft und Brutalität, dass der Zugang zu ihrer Vergangenheit gleich wieder verschlossen wurde.

    Also warf sie dem frechen Kerl hinter dem Steuer einen letzten giftigen Blick zu und setzte sich wieder in Bewegung. Doch schon beim ersten Schritt beschloss sie, diesem geleckten Würstchen in seinem marsroten Sportwagen eine Lektion zu erteilen – dafür, dass er frech gewesen war. Und dafür, dass er sie für einen Moment hatte straucheln lassen.

    Der soll mich kennenlernen, dachte sie. Sie ging ein paar Schritte, stellte sich vor seinen Wagen und verharrte einen Augenblick, bevor ihre gebeugte Gestalt mächtig ausholte und mit aller Kraft die Handtasche wütend auf die hochglanzpolierte Motorhaube donnerte. Dann blieb sie den Hauch einer Sekunde stehen und blickte herausfordernd in sein verdutztes Gesicht. »Unterstehen Sie sich, mir noch einmal so einen Schreck einzujagen«, zischte sie bedrohlich und zeigte mit dem Zeigefinger auf ihn. »Sie können froh sein, dass Sie heil davongekommen sind. Das nächste Mal werden Sie Ihr blaues Wunder erleben!«

    Eilig setzte sie ihren Weg nach Hause fort und kümmerte sich nicht darum, dass der überrumpelte junge Mann ihr etwas hinterherrief. Mehrmals wechselte sie noch die Straßenseiten, bog mal rechts, mal links ab, durchquerte einen kleinen Park, bis sie endlich vor der ramponierten Eingangstür ihres Mietshauses stand – ein Nachkriegsbau des vorigen Jahrhunderts, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.

    Entnervt kramte sie nach dem Hausschlüssel. Diese unsäglichen Taschen waren wie schwarze Löcher. »Man schmeißt was rein und findet es nie wieder. Stattdessen könnte man in diesen unendlichen Weiten ebenso gut einer Schrankwand oder einer Gurke begegnen«, frotzelte sie.

    Und je länger

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