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Todestag
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eBook338 Seiten5 Stunden

Todestag

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Über dieses E-Book

Lia hat geglaubt, ihre Geschichte zu kennen.
Sie hat geglaubt, ihre Aufgabe erfüllt zu haben.
Doch das Böse ist längst nicht mehr ihr Feind. Es lebt nicht mehr im Verborgenen, sondern in ihren Gedanken und alles, was sie über sich zu wissen geglaubt hat, wird zur Lüge.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Juni 2017
ISBN9783742785305
Todestag
Autor

Anna-Lina Köhler

Anna-Lina Köhler wurde 1997 in Niedersachen geboren. Schon sehr früh begann sie mit dem Verfassen von Geschichten. Mit "Todes Tochter" schrieb Anna-Lina Köhler bereits mit dreizehn Jahren den ersten Band ihrer Trilogie.

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    Buchvorschau

    Todestag - Anna-Lina Köhler

    Prolog

    Es roch nach Angst, nach Verwesung und Tod. Sie befand sich vor den Mauern einer Stadt. Sie schienen dick, schienen unnachgiebig zu sein und dennoch hatte das Verderben einen Weg hinter die grauen Steine gefunden. Das Gras bog sich seicht im Wind. Der Himmel war bedeckt mit großen Wolken. Düster und unheimlich hatten sie die Stadt schon längst erreicht. Manchmal gelang es der Sonne als ein winziges Licht durch die Wolkenberge zu brechen, doch immer wieder verlor sie den Kampf gegen die Dunkelheit. Der Wind wurde stärker und er trug das Grollen von Donner mit sich. Nicht mehr lange und das Gewitter würde über ihnen hinein brechen. Schon fiel der erste Regen, die Tropfen waren eiskalt.

    Der Blick der jungen Frau war auf das Tor der Stadt gerichtet. Es war nicht geschlossen, jedoch schien sie es auch nicht als offen stehend betrachten zu können. Das mächtige Eisengitter befand sich ungefähr auf der Hälfte des steinernen Torbogens. Es war still dahinter. Kein Laut drang ihr entgegen und sie war sich dessen sicher, dass es nicht am nahenden Unwetter lag, dass die Stille wie dichter Nebel über dem Land hing.

    Sie hatte kurz geblinzelt, war den Bruchteil einer Sekunde nicht aufmerksam gewesen. Doch als sie die Augen wieder aufschlug, befand sie sich nicht mehr weit weg von den Mauern der Stadt, sondern direkt vor dem eisernen Gitter. Sie hielt die Luft an, streckte die Hand aus und berührte das kühle Metall. Sie zuckte zusammen, als ein lautes Donnern, gefolgt von einem grellen Blitz, über ihr ertönte. Alles um sie herum schien stetig finsterer zu werden, die Sonne war schon längst verdrängt worden.

    Plötzlich stieg ihr ein beißender Geruch in die Nase. Sie hatte ihn vorhin schon bemerkt, doch jetzt, so dicht an der Stadt, war er grausam intensiv. Der Duft von frischem Blut lag in der Luft.

    Alles um sie herum, schien die junge Frau warnen zu wollen. Es war ein Schrei, ein Ruf, der sie zum Umkehren bringen sollte, aber sie konnte nicht. Langsam begann sie damit vorwärts zu gehen, trat durch den Torbogen hindurch. Eine Spitze des Eisengitters streifte ihr Haar. Sie strich sich einmal kurz über den Kopf, um das ungute Gefühl zu vertreiben.

    Die junge Frau trat auf einen verlassenen Hof hinaus. Ein Karren mit Stroh lag umgekippt mitten im Weg. Einzelne Halme hatten sich gelöst und wurden nun mit dem Wind davongetragen. Sie kniff die Augen zusammen. Es wurde immer finsterer, immer unheimlicher an diesem Ort. Sie machte ein paar Schritte auf den Karren zu, als ihr Blick plötzlich auf eine Hand traf. Sie lugte aus dem Stroh hervor und obwohl sie wusste, was sie erwarten würde, strich sie die Halme zur Seite. Das Stroh wurde mit einem Mal feucht und als sie ihre Hände betrachtete, schimmerten sie rötlich. Trotzdem legte sie den Besitzer der Hand weiter frei. Sie gehörte zu einem jungen Mann. Er musste gerade das Mannesalter erreicht haben, bevor ihn der Tod mit sich nahm. Seine Augen waren weit aufgerissen und auch sein Mund verzogen zu einem stummen Schrei. Was auch immer das Letzte war, was er in diesem Leben zu Gesicht bekommen hatte, es musste ihn in unfassbare Panik versetzt haben. Die Ursache seines Sterbens war nicht schwer zu erkennen. Ein großes Stück Holz, so dick wie der Unterarm der jungen Frau und mindestens auch so lang, ragte aus der Kehle des Mannes. Irgendjemand musste es ihm mit unvorstellbarer Wucht durch den Hals gerammt haben. Irgendjemand oder irgendetwas.

    Plötzlich verdichtete sich das Bild vor ihren Augen, die Umrisse der Leiche verschwammen. Für einen kurzen Augenblick konnte sie nicht mehr klar sehen. Doch bevor sie auch nur ansatzweise in Panik ausbrechen konnte, sah sie alles um sich herum so klar wie zuvor.

    Wieder schien sie im Bruchteil eines Momentes den Ort gewechselt zu haben. Doch dieses Mal musste sich die junge Frau die Hände vor den Mund schlagen, um nicht laut schreien zu müssen. Panisch drehte sie sich einmal um sich selbst, entdeckte jedoch nichts als Grauen. Sie stand inmitten von scheinbar hunderten Leichen. Hunderte tote Körper lagen über den ganzen Platz verstreut. Der Boden war ein einziger Teppich aus rotem Lebenssaft, der sich nun langsam mit dem immer stärker werdenden Regen vermischte. Sie wollte einen Schritt nach vorne machen und trat auf das Bein eines älteren Mannes. Man hatte ihm den Brustkorb mit einem einzigen sauberen Schnitt aufgeschlitzt, sodass seine Organe aus seinem Körper gekippt waren und nun seine tote Hülle umgaben. Die junge Frau unterdrückte ein Würgen und sprang einen Schritt zurück, nur um dieses Mal über einen deutlich kleineren Körper zu stolpern. Im letzten Moment schaffte sie es ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Hektisch ruderte sie mit den Armen, bis sie wieder sicher stand. Sie stieß ein leises Wimmern aus, als sie die Leiche vor sich erblickte. Es war ein kleines Mädchen. Ihr mattes braunes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie hielt die Augen geschlossen und einen kleinen Teddybär mit Knopfaugen im Arm. Man hätte fast glauben können, sie würde schlafen – fast. Denn der Kopf der Kleinen lag schon längst nicht mehr auf ihren Schultern. Fein säuberlich war er abgeschlagen und kurz über ihrem Hals platziert worden, sodass nur eine Handbreit Luft dazwischen lag. Das gleiche Schicksal war dem Plüschtier des Kindes wiederfahren worden. Der Anblick, der dieses Bild bot, war ebenso grausam wie bizarr.

    Wohin die junge Frau auch blickte, wohin sie auch sah, überall bot sich ihr das gleiche abscheuliche Bild. Blut sickerte aus dem Mund einer älteren Frau. Sie hielt einen kleinen Jungen im Arm, so als ob sie ihn hatte beschützen wollen. Doch auch hier war das Schicksal erbarmungslos gewesen. Ein langer Speer durchbohrte die beiden. Das splittrige Holz fuhr durch das Auge des Jungen und verlief dann weiter durch den Brustkorb der Frau. Sie lagen auf der Seite, sodass sie erkennen konnte, dass die Spitze des Speers wieder aus dem Rücken der Toten hervorragte. Auf dem tödlichen Metall hing der Augapfel des Jungen.

    Plötzlich wurde die Aufmerksamkeit der jungen Frau auf etwas anderes gelenkt. Sie hatte eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen und wirbelte herum. Ein Mann mit blassem blondem Haar, versuchte verzweifelt sich vom Boden zu erheben. Er war schwer verletzt, aber er lebte. Die junge Frau wollte zu ihm eilen, ihm helfen. Doch stattdessen blieb sie einfach nur stehen und sah zu. Der Mann hievte seinen Oberköper nach oben. Er stützte sich mit den Handflächen vom Boden ab und kam tatsächlich nach einigen Versuchen wieder auf die Füße. Er hob den Kopf und blickte ihr direkt ins Gesicht. Sie spürte wie sein Blick sie fesselte, ihr den Atem raubte, als plötzlich alles ganz schnell ging.

    Eine Hand schnellte hinter dem Mann hervor, sie hielt eine Waffe. Die Klinge war rabenschwarz und wand sich wie der Körper einer Schlange. Im Griff konnte sie kurz den Schimmer eines kleinen Rubins erkennen. Das schwarze Metall fraß sich durch die Kehle des Mannes, traf eine Schlagader. Das Blut spritze der jungen Frau vor die Füße. Sie stieß einen Schrei aus, während der Mann vor ihr röchelnd zu Boden ging. Hinter dem Unglückseeligen tauchte eine vollkommen in schwarz gehüllte Gestalt auf. Die Kapuze ihres Umhanges hatte sie sich tief ins Gesicht gezogen, trotzdem fielen Strähne von langem braunem Haar heraus. Die Finger ihres Opfers zuckten noch ein wenig und veranlassten sie dazu mit der sonderbaren Waffe so lange zuzustechen, bis auch der letzte Rest Leben aus dem Mann gewichen war. Die Gestalt putze ihre Waffe an den Klamotten der Leiche ab und steckte sie zurück unter dem Umhang. Dann hob sie den Kopf und blickte der jungen Frau entgegen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus, als sie von blutig roten Augen fixiert wurde. Blanke Furcht machte sich in ihr breit, sie war noch nicht bereit zu sterben.

    Doch plötzlich drehte sich die verhüllte Gestalt um und ging davon. Die junge Frau wusste nicht warum sie ihr hinterherrief, wie sie der lauernden Gefahr eine Antwort abverlangen konnte, doch ihr Mund schien geradezu töricht nicht zu gehorchen.

    „Wer bist du?"

    Die Gestalt hielt mitten in ihrer Bewegung inne und drehte sich langsam um. Schon glaube die junge Frau, sie würde zurückkommen, sie dafür strafen, dass sie es gewagt hatte sie anzusprechen.

    Doch stattdessen reckte die Gestalt nur das Kinn nach vorne und musterte sie kurz aus gefährlich roten Augen, bevor sie ihr antwortete. Mit einem lauten Krachen schlug der Blitz in die Mauern der Stadt ein und erhellte den schmutzig grauen Himmel. In diesem Moment sprach die Gestalt zu ihr.

    „Ich bin der Tod."

    Visionen

    Es war kalt und finster. Kein Sonnenlicht drang an diesen Ort – niemals. Hier regierten Finsternis, Dunkelheit und das Böse. Dieser Platz gehörte nicht zu der Welt, die sie kannte. Dieser Platz beherbergte das absolute Grauen, das, was das Tageslicht nicht berühren sollte. Es gab einen Grund warum der Zugang zu diesem Ort stets unberührt blieb, denn hinter den Pforten befanden sich die Albträume jeder guten Seele.

    Sie brauchte nicht zu wissen, wo sie sich befand, sie wusste, dass sie sich umdrehen und die Flucht ergreifen musste. Sie tat es nicht. Stattdessen setzte sie ihren Fuß auf die erste Stufe einer langen Treppe. Sie bestand aus schwarzem Stein, glich ihrer Umgebung und führte in scheinbar bodenlose Tiefen. Die Treppe war gerade einmal so breit, dass sie darauf Platz fand. Es gab kein Geländer, nichts, das eine unvorsichtige Bewegung ungestraft ließ. Trotzdem ging sie weiter. Jeder Schritt war unsicher, jede Bewegung ungenau, ihr Körper zitterte. Es war die Angst, die sich langsam in ihrer Glieder fraß, sie zu beherrschen drohte. Ihre Schritte wurden immer schneller, immer hastiger stürmte sie die Stufen hinunter und plötzlich tauchte das Ende der Treppe vor ihr auf. Sie zog die Stirn kraus, setzte ihren Fuß auf den neuen Untergrund und blickte nach oben. In langen Spiralen bohrten sich die steinernen Stufen in die Tiefe und wurden schon bald von der Dunkelheit verschluckt. Es war ihr ein Rätsel, wie sie das Ende der Treppe so schnell hatte erreichen können.

    Der jungen Frau fiel es immer schwerer zu atmen. Die Luft roch noch Moder und Verwesung. Es lag der unverkennbare Geruch des Todes in der Luft. Sie hatte schon viel erlebt, schon vieles gesehen, doch an einem Ort wie diesem hier, war sie noch nie gewesen. Sie wollte es auch nicht sein, dennoch etwas zwang sie an diesem Platz zu verweilen. Es war fast, als ob sie keine Kontrolle mehr über ihren Körper besaß, ihr Willen nur noch als stummer Schrei in ihrem Innersten existierte. Sie war bloß noch eine fleischliche Hülle, in der die Magie wohnte, sie dazu zwang, diesen Ort zu besuchen und trotzdem vollkommen wehrlos zu sein. Ihre Glieder bewegten sich und sie sah, was sie sehen sollte.

    Die junge Frau ging um eine hohe Felswand herum, die ihr die Sicht versperrte. Der Weg wurde nun mit einem Mal breiter und erstreckte sich zu beiden Seiten, bis er auf eine finstere Wand traf. Ein gewaltiger Platz tat sich vor ihr auf. Die junge Frau blieb stehen und ihre wasserblauen Augen betrachteten das Bild, das sich ihr bot. Es war eine riesige gerade Fläche, auf der sich immer wieder kleine und große Felsen wiederfanden. Sie sprossen aus dem Boden und wirkten mit ihren spitzen Ecken genauso grob und düster wie der Rest des Ortes. Die junge Frau hob leicht das Kinn an und versuchte über den Platz weiter nach hinten zu sehen.

    Plötzlich verdichtete sich das Bild vor ihren Augen, es verschwamm regelrecht. Sie wollte sich einmal über die Augen reiben, um wieder klar sehen zu können, doch ihre Hand gehorchte ihr nicht. Ehe sie auch nur die Möglichkeit dazu hatte, in Panik zu geraten, stoppte das Flackern und sie blickte auf einen neuen Platz, der sich jedoch ohne Zweifel immer noch in dieser grausamen Welt befand. Die junge Frau drehte sich einmal um, doch hinter ihr tat sich nur der grimmige Schlund eines Ganges auf. Wie sie so urplötzlich den Ort gewechselt hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Langsam spürte sie, wie der kalte Schatten der Angst sich über ihre Seele legte. Sie wollte nicht hier sein, aber etwas brachte sie dazu zu bleiben.

    Vor ihr lag ein scheinbar bodenloser Abgrund. Es war ihr gerade einmal möglich, wenige Meter weit zu sehen, bevor die Finsternis alles verschluckte. Jedoch befand sich in der Mitte des Abgrundes eine kleine Brücke. Sie war gerade einmal so breit, wie die Treppe, die sie eben noch passiert hatte und besaß ebenfalls kein Geländer. Die Brücke aus dunklem Stein verlief gerade über den Abgrund, bis sie auf eine Felswand stieß, die vor ihr emporwuchs und sich in der Finsternis verlor. Die junge Frau kniff die Augen zusammen, doch schließlich erkannte sie eine Tür, vor der die Brücke hielt. Unscheinbar war sie in den Stein gehauen worden. Ein goldener Türknauf hob sich von der finsteren Oberfläche ab, stach regelrecht aus ihr hervor. Die junge Frau senkte den Kopf. Sie glaubt erkennen zu können, wie seichtes hellblaues Licht immer wieder versuchte unter der Tür hindurchzukriechen. Doch es gelang ihm nicht. Die Finsternis drängte es zurück, die Dunkelheit verschluckte es. Sie starrte noch eine Weile auf die Tür, unschlüssig und vielleicht auch ein wenig ängstlich. An diesem Ort konnte das Licht jeglichen Kampf nur verlieren. Sie drehte sich um, es drängte sie geradezu diesen unheimlichen Platz endlich verlassen zu können. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Nicht, weil sie das gewollt hatte, sondern, weil sie nicht anders konnte. Unfähig sich zu bewegen, verschwamm die Umgebung vor ihren Augen, alles begann zu flackern und zu tanzen, bis sich das Bild lichtete und sie sich an einem neuen Platz befand, der jedoch ohne Zweifel auch zu diesem düsteren Ort gehörte. Sie befand sich in einem langen Gang, der sich zu beiden Seiten von ihr erstreckte und in der Dunkelheit verschwand. Er war bloß wenige Fuß breit und hinterließ ein beklemmendes Gefühl in der Seele der jungen Frau. Sie wandte den Kopf. Ein schwaches Licht, das von einer Fackel vor ihr ausging, schlug ein ungewohnt wirkendes Loch in die Dunkelheit. Doch so konnte die Frau erkennen, wo sie war. Es war ein Gefängnis. Der Pfad wurde von beiden Seiten von mehreren Zellen umgeben. Der dahinter liegende Raum war nicht besonders groß. Es waren kahle graue Wände nach oben gezogen worden und außer ein wenig Dreck befand sich nichts darin. Die Zelle wurde von vielen dicken Stäben verschlossen, die handbreit immer wieder von neuem aus dem Boden schossen. Das Merkwürdige war jedoch, dass es keine Tür oder Ähnliches gab, was den Raum hätte öffnen können. Aber wie war es möglich dann dort jemanden einzusperren? Ein plötzlicher Gedanke packte die junge Frau. Sie hielt den Atem an. Vielleicht waren diese Stäbe erst eingesetzt worden, nachdem sich ein Gefangener in dem Raum befand. Die Zellen dienten sicher nicht dazu jemanden hinein zu lassen, sondern waren dazu gedacht, ihre Beute nie mehr hinaus zu lassen. Noch während sie der Gedanke beschäftige, was es sein könnte, das hinter den dicken Eisenstäben festgehalten werden musste, entdeckte sie eine Gestalt im Inneren des Gefängnisses. Das Licht reichte gerade einmal wenige Meter weit, sodass die junge Frau bloß diese eine Zelle sehen konnte und ihr Insasse wurde schon fast wieder vom Schatten verborgen gehalten. Vorsichtig trat sie einen Schritt näher an die Stäbe heran. Er saß mit dem Rücken zu ihr. Es war ein Mann, daran bestand kein Zweifel, obwohl das schulterlange blonde Haar dagegen sprach. Dennoch, seine Statur passte nicht zu einer Frau. Der Gefangene trug eine schlichte braune Hose und ein vollkommen verschmutzest Hemd. Es war vielleicht einmal weiß gewesen, doch nun durchtränkte es getrocknetes Blut.

    Die Frau öffnete den Mund, wollte es schon wagen ihn zu rufen, als sie mit einem kräftigen Ruck plötzlich von ihren Füßen und aus ihrer Vision gerissen wurde.

    Als Keira die Augen aufschlug, lag sie auf dem Boden ihres Zimmers. Vor ihr knisterte das Feuer ruhig im Kamin. Stöhnend richtete sie sich auf und griff an ihren Kopf. Das lange Haar hing ihr wirr im Gesicht, doch sie strich es nicht zur Seite. Der Atem der Seherin rasselte immer noch. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte verzweifelt sich zu erinnern. Sie hatte am Kamin gesessen, Feuer entfacht, als die Flammen plötzlich hoch geschlagen waren und sie die kleinen schwarzen Figuren hatte tanzen sehen. Sie hatte eine Vision gehabt.

    Keira krabbelte ein Stück nach vorne und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Sie rieb sich mit der flachen Hand über die Augen. Visionen zehrten an ihrer Kraft, darüber war sie sich im Klaren. Es war nie leicht mit Magie umzugehen, alles hatte seinen Preis. Doch dieses Mal war es anders. Noch nie hatte sie sich so elendig gefühlt, nachdem sie wieder aufgewacht war und noch nie waren die Emotionen, die sie während einer Vision hatte, so spät abgeschwächt, hatten sie verfolgt. Immer noch zitterte die junge Frau, immer noch schien sie den Tod und das Böse riechen zu könne, das an diesem Ort zweifellos regiert hatte. Und es gab noch etwas, das sie mehr und mehr beunruhigte. Seit einigen Wochen schon, ein paar Tage, nachdem sie die Tiefen des Sees durchquert hatte und wieder bei ihrem Orden, den Conscii Mysteriorum, war, hatten die Visionen begonnen. Und es war immer die gleiche. Nur schien sie von Mal zu Mal länger zu werden. Erst war sie nur die Treppe hinabgestiegen, dann hatte sie den großen Platz mit den spitzen Felsen gesehen und schließlich hatte sie in den Abgrund geblickt. Das Gefängnis war neu gewesen.

    Während sich ihr Körper langsam wieder zu beruhigen begann, dachte sie an die Zelle und den Mann darin zurück. Sie wusste nicht warum, aber seine Gestalt löste Misstrauen in ihr aus und sie wünschte sich, er hätte ihr sein Gesicht gezeigt.

    Langsam erhob sich die schöne Frau, musste sich dabei jedoch immer noch an der Wand abstützen. Sie warf ihre langen blonden Haare nach hinten und setzte sich an den großen Tisch aus Stein. Sie war eine Wanderseherin und seit einiger Zeit auch ein ehrbares Mitglied der dreizehn wichtigsten Seher der Conscii Mysteriorum. Ihre Visionen hatten etwas zu bedeuten, davon war sie überzeugt. Erst recht, wenn sie sich ständig wiederholten, was auch für sie vollkommen neu war.

    Sie seufzte und griff sich unter den Ärmel. Vorsichtig zog die Seherin den kleinen silbernen Dolch mit den Drachenköpfen am Griff hervor. Es war eine kleine Waffe und dennoch war sie ihr die Liebste. Der Dolch hatte sie nie im Stich gelassen und dadurch, dass sie ihm im linken Ärmel aufbewahrte konnte sie ihn mit einer einzigen schnellen Bewegung sofort in ihre Handfläche gleiten lassen. Das sparte wenn nötig Zeit und konnte bei einem überraschenden Angriff über ihr Schicksal entscheiden.

    Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Jedoch konnte sie nicht sagen, ob es traurigen oder fröhlichen Gefühlen entsprang. Wer sollte sie hier schon angreifen? Das böse gelangte niemals in die Welt ihres Ordens, das war nicht möglich. Sie lebten hier in völliger Sicherheit und selbst wenn das Böse in der Welt dort draußen, jenseits der fünf Brücken, außerhalb der Tür und des Sees auf ewig Fuß fassen sollte, würden sie hier immer noch unbeschadet weiter leben können. Ihr Orden hatte sich einer einzigen Sache verschrieben. Ihre Aufgabe war das gesamte magische Wissen zu schützen und zu erweitern. In ihrer Bibliothek lagerten Schätze, die unvorstellbare Macht bargen. Geschichten, aus längst vergangener Zeit.

    Keira erhob sich, ging die Treppe hinunter zu der Tür ihres Hauses mit den zehn Rubinen. Leya hatte hier gelebt, bevor sie vom Schatten während einer Versammlung grausam getötet worden war. Er hatte sie in ihren Gedanken gepeinigt, ihr jedes Tröpfchen Blut aus dem Körper gesaugt, die Organe aus ihr herausgerissen, wie es seine Züchtungen zu tun gepflegt hatten.

    Die junge Frau trat hinaus in die Nacht. Nun hatte sie ihren Platz eingenommen. Sie war eine der dreizehn geworden, weil sie sich von den anderen abgehoben hatte. Wanderseherin hatten üblicherweise grüne Augen. Wie von selbst musste sie an die Farbe ihrer Augen denken. Wasserblau.

    Die Seherin bog nach rechts ab und ging über den Pfad. Sie war sich sicher, dass ihre Visionen bedeutungsvoll sein mussten. Ephyer würde wissen, was zu tun war.

    Trugbilder

    Zuerst war es nur ein Wispern, ein leises Rauschen in der Luft. Eine Stimme, die sie kannten, eine Stimme, die sie fürchteten und dennoch bemerkten sie die Bedrohung vorerst nicht. Sie waren blind für das, was lauerte, waren taub für die Gefahr, bis sie nach ihnen rief. Der Schmerz war kurz, aber heftig gewesen und er zwang Enago in die Knie. Sein Körper zuckte und er riss erschrocken die Augen auf. Auch, wenn er diese Macht vorher noch nie am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, so wusste er doch augenblicklich wer ihn zu peinigen versuchte. Doch der Schmerz versiegte und zurück blieb die Stille. Doch diese Stille hatte nichts beruhigendes, sie war vielmehr der letzte Augenblick, der letzte Moment des klaren Seins. Er rief nach ihm und seine zischende Stimme blieb dabei für den ehemaligen Schattendiener unverkennbar. Es war nur ein Wort, das ihn durchfuhr, nur ein Wort, das er benutzte. Doch dieses eine Wort trieb die Angst in die Seele des jungen Mannes. Es war nicht viel mehr als ein kurzer Laut und dennoch schien es, als ob der Tod selbst nach ihm rief. Es war sein Name. Begonnen hatte es mit Schmerz und enden würde es mit Verlust. Enago kauerte an der Höhlenwand, seine Augen starrten ins Leere. Er wartete, wartet darauf, dass es wieder passierte. Er flüsterte, sein gurgelndes Lachen hatte sich schon längst in seinem Kopf festgefressen, ließ ihn nicht mehr los. Dann rief er. Er rief ihn immer und immer wieder. Es war nur sein Name, doch Enagos Körper spannte sich krampfhaft an, wenn er daran dachte, dass das grausame Flüstern ihn wieder heimsuchen würde. Es kam plötzlich und unerwartet. Zuerst hatten sie es ignoriert, dann hatten sie sich dagegen gewehrt. Doch es war vergebens. Nicht mal das Orakel hatte sich vollkommen von der Höllenbestie abschirmen können. Er war gefangen, ummauert von den Wänden des schwarzen Steins und trotzdem schien er allgegenwärtig. Bald schon fühlten sie sich beobachtet. Seine toten weißen Augen klebten auf ihren Seelen, seine zischenden Laute durchbrachen ihr Gehör. So manches Mal hatte der junge Mann sich gewünscht taub zu sein. Er wollte dieses Wispern verbannen, wollte die Stimme endlich loswerden. Es war unmöglich. Er verfolgte sie. Es war nicht wichtig wo sie sich befanden, es war ihm egal, ob sie schliefen oder wachten. Er war immer da und von Zeit zu Zeit peinigte er sie mit bloßen Worten. Irgendwann hatte Enago festgestellt, dass er auf dem Boden zusammengesunken war, die Handflächen fest auf die Ohren gepresst. Als der Schatten von ihm abließ und er langsam wieder zu begreifen begann, löste er die Handflächen von den Ohren und wischte sich das dunkelrote Blut an der Hose ab. Es gab kein Entkommen, er musste wachsam sein. Er musste ständig aufmerksam sein, um zu vermeiden, dass es ihn um den Verstand brachte. Aber vielleicht war es ja schon zu spät. Vielleicht hatte sie die eiserne Klaue der Bestie schon längst umklammert. Es war kein ruhmreiches Ende, das sie erwartete, sollten sie keinen Ausweg finden. Enago hatte sich immer davor gefürchtet, versucht der Angst den Rücken zu kehren. Manches Mal hatte er geglaubt, das Richtige zu tun und war in Wahrheit feige davongelaufen. Seine Augenlieder flackerten. Er sah auf seine Hand hinab, sie lag erschlafft neben ihm und nur der Zeigefinder der rechten Hand zuckte hin und wieder unkontrolliert. Kontrolle, das war es, was der junge Mann zu verlieren begann. Sie verloren die Kontrolle über ihren Körper, über ihre Gedanken. Sie zwangen den Verstand dazu wach zu bleiben, um den Moment der Überraschung zu vereiteln, wenn er sie wieder heimsuchte. Krampfhaft klammerten sie sich an das letzte bisschen, was von ihren Seelen übrig zu sein schien. Langsam hob Enago den Kopf und blickte zu dem steinernen Thron hinauf. Das Gesicht des Orakels war weiß, ihre haselnussbraunen Augen schienen trübe und kalt. Vorsichtig öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas sagen. Doch es drang kein Laut über ihre Lippen. Jedes Wort erstickte in seinem Flüstern. Jeder Schrei nach Hilfe ertrank in seinem gurgelnden Lachen. Der Schatten raubte ihnen nicht nur den Verstand, er begann damit ihren Willen zu vernichten. Er formte sie nach seinen Vorstellungen, sie tanzten an Fäden, waren bald nicht mehr als die hohlen Körper entkräfteter Puppen. Es war das Blut der Gepeinigten, das die Bestie aus dem goldenen Kelche trank. Seine schwarzen Lippen rot, seine weißen Augen voll Freude und Gier.

    Enago umfasste seine Kehle. Es viel ihm schwer zu atmen, er war wie gelähmt. Das Flüstern würde nicht aufhören. Er würde immer weiter nach ihnen rufen. Er wisperte ihren Namen und ihr Name klang in ihren Köpfen. Seine Stimme fraß sich durch ihr Hirn und der Lebenssaft tropfte ihnen aus den Ohren. Schon bald waren sie nicht mehr dazu in der Lage innerlich Widerstand zu leisten und schließlich begannen sie zu flüchten. Sie verbarrikadierten sich mit dem letzten bisschen Verstand, der ihnen geblieben war, zogen sich in ihre eigene Welt zurück, dort wo ihnen kein Leid geschehen konnten. Der Wahnsinn klopfte selbst dort an die Türen und die Realität verlor an Bedeutung. Alles war wie ein einziger langer Traum. Wie dichter Nebel, zähflüssig, durch den sie sich hin durchzukämpfen versuchten und doch keinen Schritt vorankamen. Ob sie noch lebten? Manchmal blickte der Todesritter zum Orakel hinauf und immer wenn er dachte ihre Leiche vor sich liegen zu sehen, hob sie ihre Brust ein einziges Mal und Kopf zuckte. Eine Hand umklammerte ihre Kehlen, nahm ihnen die Luft zum Atmen, nahm ihre Seelen gefangen und ertränkte sie in des Wahnsinns Gift.

    Plötzlich betrat eine Gestalt die Höhle und erregte Enagos Aufmerksamkeit. Er blickte ihr entgegen, blickte in das Feuer ihrer roten Augen, das sie verbrannte. Er glaubte sie zu kennen und doch zweifelte er, wer sie wirklich war. Auf dem dunklen Umhang zeichneten sich große

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