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Schlafe sanft: Kriminalroman
Schlafe sanft: Kriminalroman
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eBook360 Seiten4 Stunden

Schlafe sanft: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

In einem Pflegeheim leben alte, gebrechliche Menschen in ihrer eigenen, kleinen Welt. Und dort sterben manchmal Menschen, das ist nichts Ungewöhnliches, weder für den Bereitschaftsarzt, der den Totenschein ausstellt, noch für die Polizei. Schließlich sind die Bewohner allesamt sanft entschlafen. Nur für den Rettungssanitäter Alois Perger, der, von seinen eigenen Dämonen geplagt, bloß seinen Job machen will, sind zu viele Zufälle im Spiel. Soll er sich in seinem Selbstmitleid ertränken oder – angestachelt von der jungen, aufgeweckten Praktikantin Julia – doch auf Mörderjagd begeben?

SpracheDeutsch
HerausgeberFederfrei Verlag
Erscheinungsdatum3. Apr. 2021
ISBN9783990741504
Schlafe sanft: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Schlafe sanft - Werner Wöckinger

    Kapitel 1

    Besorgt betrat sie das abgedunkelte Zimmer. Es war totenstill, man hörte keinen Ton, keinen Atemzug, kein Nichts.

    Sie hatte im Schwesternzimmer gesessen und in ihrem Buch gelesen. Eigentlich war sie in der Buchhandlung gewesen, um ein Bastelbuch für ihren Bruder zu besorgen. Dann war sie aber über dieses dünne, unscheinbare Büchlein gestolpert, voll von Lebensweisheiten und Sprüchen, die ihr Mut machten. Sie konnte es nicht mehr weglegen und las manche Texte auch mehrmals. Sie war tief in diese tollen Zeilen eingetaucht. Guten Gewissens, denn es war alles so wie immer gewesen. Doch urplötzlich kam eine unerklärliche Unruhe in ihr hoch. Irgendetwas störte sie an dieser Stille.

    Wie jede Nacht hatte sich Frau Kowalsky gemeldet und nach einer zweiten Decke verlangt. In den frühen Morgenstunden würde sie schweißgebadet aufwachen. Auch die anderen Kandidaten hatten sie bis kurz nach Mitternacht auf Trab gehalten. Dann endlich war Ruhe eingekehrt und sie hatte ihr Buch zur Hand nehmen können.

    Jetzt wusste sie, woran sie sich störte. Es war zu ruhig gewesen. Daher war sie in den Bernstein-Flügel geeilt. Behutsam hatte sie die Tür geöffnet, ehe sie beunruhigt an ihr Bett trat. Der Unterkiefer war von der Schwerkraft nach unten gezogen worden, eingetrockneter Speichel klebte am Mundwinkel. Sie tastete nach ihrem Puls, nichts. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und holte tief Luft. Wenn sie die Augen wieder öffnete, würde sie aus diesem Albtraum erwachen. Ganz bestimmt.

    Sie fühlte neuerlich nach dem Puls und griff nach ihrer Hand. Eiseskälte durchflutete sie, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie hielt sich an der eisigen Hand der Toten fest, um Trost zu finden und nicht laut loszuschreien.

    Das war ihre erste Tote. Auf so etwas hatte man sie nicht vorbereitet. Sie taumelte leicht.

    Erst nach geraumer Zeit beruhigte sich ihr eigener Puls und sie bemerkte, wie sich eine Träne aus dem Augenwinkel löste und sich langsam ihren Weg über die Wange zum Kinn bahnte. Das war absolut unprofessionell, das wusste sie. Es galt, die Nerven unter Kontrolle zu bringen und emotionale Distanz zu halten.

    Sie schluckte einen dicken Kloß hinunter, dann gab sie sich einen Ruck. Das Leben musste weitergehen. Sie musste jetzt in aller Ruhe ihre Checkliste abarbeiten und durfte ihren Emotionen nicht nachgeben. Behutsam stülpte sie die Bettdecke über den Kopf der Toten und bekreuzigte sich.

    Unbarmherzig drang der Signalton des Weckers an sein Ohr und riss Alois aus seiner Tiefschlafphase. Mit zittrigen Fingern drückte er den Wecker ab und stellte die Füße auf den Boden. Der Puls raste, der intensive Traum, der ihn gerade noch in seinen Bann gezogen hatte, war noch schmerzhaft präsent.

    »Wo habt ihr die verdammte Bergeschere?«, schrie er.

    »Wir machen so schnell wir können!«

    »Sie verblutet, wenn ihr sie nicht befreien könnt!«, flehte er.

    »Gehen Sie zur Seite und lassen Sie uns unsere Arbeit tun!«

    Er wurde zur Seite geschoben und sah zu, wie das schwere Gerät in Slow-motion angebracht wurde. Es verging eine kleine Ewigkeit. Sie starrte ihn aus blutleeren Augen an. Ihre vorwurfsvollen Augen sogen ihn auf, wurden immer größer und kamen immer näher. Ihr Mund bewegte sich, formte klar verständliche Wörter.

    »Wieso retten Sie mich nicht?«, fragten ihre stummen Lippen. »Wieso retten Sie mich nicht? Wieso lassen Sie mich hier verrecken?«

    Alois schrak hoch. Er war im Sitzen noch einmal eingenickt. Schlaftrunken tastete er mit den Füßen nach seinen Hauspatschen und latschte anschließend in der Dunkelheit ins Badezimmer. Erst dort machte er Licht. Er wurde von einem mächtigen Hustenanfall geschüttelt, gelb-grüner Schleim hatte sich den Weg aus der Luftröhre in den Rachen gebahnt und wurde von ihm nun ins schmutzige und aufgescheuerte Waschbecken gespuckt.

    Mit geschlossenen Augen boxte er sich gegen die Brust, einige tiefe Atemzüge später wurde das Brennen der Lungenflügel weniger. Er spülte den Schleim in den Abfluss. Nach dem Uri­nieren bekam sein Gesicht ein paar Spritzer Wasser ab, ehe er mit dem Kamm versuchte, seine Haarpracht zu bändigen. Am Rand der Badewanne sitzend zog er seine schwarzen Socken an.

    Alois besaß zwei Dutzend schwarzer Socken, dazu zwei Dutzend weißer Unterhosen derselben Marke, knapp zwei Dutzend weißer T-Shirts und drei nahezu idente Bluejeans. Es war nie seine Absicht gewesen, sich zu einem Monk zu entwickeln. Seit er aber die überschaubare Zwei-Zimmer-Wohnung sein Eigen nannte, hatte er sich einige Macken angewöhnt, über die er vor zehn Jahren wohl selber den Kopf geschüttelt hätte.

    Die klare Struktur seiner Kleidung ermöglichte es ihm, mit einem Waschtag pro Woche das Auslangen zu finden, und ersparte es ihm, sich laufend Gedanken darüber machen zu müssen, ob er für den nächsten Dienst noch ein frisches Paar Socken und ein sauberes T-Shirt besaß. Die passenden Uniformteile wurden auf der Dienststelle gewaschen und stapelten sich dort in seinem Spind.

    Ohne Frühstück startete er seinen alten, rostigen Kübel und kurvte schläfrig zur Arbeit. Alle vier Wochen hatte er die Frühschicht, dann begann sein Dienst um fünf Uhr morgens. Und obwohl er den Job seit über zwanzig Jahren machte, hatte er sich noch immer nicht an diese unchristlichen Arbeitszeiten gewöhnt.

    »Danke, Herr Doktor. Gut, dass Sie kommen konnten!«, reichte Schwester Martina dem Bereitschaftsarzt die Hand. Sie führte ihn den langen Gang hinunter in das Zimmer 109. Zwei Schritte hinter ihnen schlich der Rettungsfahrer hinterher. Behutsam öffnete sie die Tür, so als würde sie fürchten, jemanden aus dem Schlaf zu reißen. Eine Deckenlampe erleuchtete den Vorraum.

    An der Garderobe hingen Hut und Mantel. Besonders auf ihre wollene, oxidrote Kopfbedeckung mit der weiten Krempe war sie stets stolz gewesen. Die beiden Teile würden wohl jetzt bei der Altkleidersammlung landen. Gegenüber gab die offene Schiebetür den Blick frei in die behindertengerechte Nasszelle. Martina schritt voran und deutete auf das Bett. Mit beiden Händen klammerte sie sich an der Krankenakte fest. Dr. Meier zog sich Einmalhandschuhe über und begann, die Tote zu entkleiden.

    »Können Sie das Licht anmachen?«

    Martina tastete nach dem Schalter. Die alte Dame lag still und stumm in ihren Laken. Die wächserne Haut spannte sich straff über den ausgemergelten Knochen. Die Totenstarre hatte bereits eingesetzt, wie der Arzt nach wenigen Augenblicken feststellen konnte. Ausgeprägte Totenflecken am Rücken sprachen eine deutliche Sprache.

    »Wann haben Sie die Tote so vorgefunden?«

    »Das war so um zwei.«

    Dr. Meier blickte auf seine Uhr. Der Tod musste vor mehr als drei Stunden eingetreten sein. Der Bereitschaftsarzt knöpfte das Nachthemd wieder zu und zog die Decke hoch. Dann entledigte er sich seiner Handschuhe. Auf der Kommode flackerte eine angezündete Kerze. Daneben lag der Rosenkranz der Verstorbenen.

    »Ich bräuchte einen Schreibtisch für den bürokratischen Teil.«

    »Kommen Sie mit«, schaltete Schwester Martina das Deckenlicht wieder ab und ließ die Tote im Dämmerlicht zurück. Am Schwesternstützpunkt war Platz genug für die Schreib­arbeiten. Sie legte die Krankenakte ab, damit der Arzt einen Blick hi­neinwerfen konnte. Das Schnurlostelefon summte leise. Martina warf einen kurzen, nervösen Blick auf das Display, steckte es dann wieder in die Tasche zurück.

    »Ich halte Sie nicht auf«, wandte sich der Arzt um. »Ich brauche noch eine Weile.«

    »Okay. Ja, dann.«

    Schwester Martina eilte den Gang hinunter, um nach dem Rechten zu sehen. Ein Bewohner verlangte nach ihr. Als sie fünf Minuten später zum Stützpunkt zurückkam, hatte der Bereitschaftsarzt bereits zusammengepackt.

    »Sie können den Bestatter informieren. Der nimmt dann alle Durchschläge mit. Meine Kopie hab ich bereits eingepackt.«

    »Danke, Herr Doktor!«

    »Gute Nacht«, machte er sich vom Acker. Der Sanitäter hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen.

    Mittels Fingerprint verschaffte er sich Zugang zur Dienststelle und warf einen flüchtigen Blick auf das Infoboard. Dort erhielt er Auskunft über Dienstplan, Aufnahme-Krankenhaus, Straßensperren und weitere relevante Details, die für seine Arbeit von Bedeutung sein konnten.

    Alois’ Züge hellten sich auf, als er erkannte, dass er sein Schicksal mit Julia, der knapp zwanzigjährigen Praktikantin, teilte, die ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Rettung absolvierte. Viele junge Mädchen nutzten in Ermangelung von Präsenzdienst und Zivildienst diese Möglichkeit, sich nach bestandener Matura die nötige Zeit zu verschaffen, um über die berufliche Zukunft nachzudenken. Und manche von den Mädels blieben dann in einem Sozialberuf hängen.

    Alois stapfte in die Garderobe und fischte sich eine saubere Uniform aus seinem Spind. Schnaubend pferchte er sich hinein und kämmte sich ein zweites Mal seine unbändige Mähne. Einmal mit Daumen und Zeigefinger durch den Oberlippenbart, dann konnte es losgehen.

    Julia wartete bereits in der Garage auf ihn. Vornübergebeugt kontrollierte sie, ob der Verbandskoffer vollständig war. Obwohl die Uniformhosen nicht sehr vorteilhaft geschnitten waren, konnte sich ihr Hinterteil sehen lassen, dachte er. Erst als die schwere, metallene Feuerschutztür ins Schloss fiel, bemerkte sie, dass Alois hinter ihr stand. Sie begrüßten einander mit Wangenkuss, dann hielt sie ihm seinen Pager und die Autoschlüssel hin.

    »Nicht erschrecken!«, warnte sie ihn vor.

    »Wieso?«

    »Unser Rettungswagen gleicht einem Saustall!«

    Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man den Rettungswagen zu jeder Tages- und Nachtzeit ordentlich zurückließ und verwendete Utensilien nachzurüsten hatte. Doch es kam immer wieder vor, dass Kollegen halb volle Fahrzeuge in die Garage stellten und außer Dienst gingen.

    Alois war noch nicht richtig auf Betriebstemperatur, sonst hätte er in diesem Moment einen Tobsuchtsanfall erlitten. So packte er ohne große Aufregung einen Kübel Wasser samt Schwamm und reinigte die Windschutzscheibe, an der Unmengen von Insektenresten klebten. An den Einstiegen türmten sich Erdklumpen, Dreck war bis zu den Rückspiegeln hochgespritzt.

    Am Abend war ein Unwetter mit Windgeschwindigkeiten an die siebzig Stundenkilometer durch den Bezirk gezogen. Er hatte mehrere Sirenen vernommen. Es hatte wohl kleinräumige Überflutungen gegeben. Das entschuldigte aber nicht den Zustand des Fahrzeuges. Währenddessen kontrollierte Julia die Taschen und Rucksäcke auf ihre Vollständigkeit und wechselte die verschmutzten Decken und Polsterüberzüge.

    »Der Sauerstoff ist auch fast leer«, stellte sie entsetzt fest.

    Alois holte die Flasche aus der Verankerung und schnappte sich den Schlüsselbund. Auf der Rückseite der Garage lag im Freien das versperrte Sauerstofflager. Gerade als er versuchte, im schwachen Dämmerlicht des abnehmenden Mondes den winzigen Schlüssel in das winzige Schloss zu bugsieren, meldete sich sein Handy. Umständlich nestelte er nach seinem Telefon, das in einer der unzähligen Hosentaschen baumelte.

    »Ja?«

    »Habt ihr verschlafen oder was?«, meldete sich eine unfreundliche Stimme aus der Leitstelle.

    »Dir auch einen schönen, guten Morgen«, holte Alois tief Luft. Er wollte sich seine gute Stimmung nicht vermiesen lassen. »Das Zauberwort heißt Fahrzeugcheck. Ich bin gerade dabei, die Sauerstoffflasche zu wechseln.«

    »Mag ja sein, aber ihr habt bereits einen Auftrag«, machte der Kollege aus der Leitstelle Druck.

    »Wenn wir einsatzbereit sind, lassen wir es dich wissen«, erwiderte Alois und beendete das Gespräch.

    Um fünf Uhr zwölf meldeten sie sich einsatzbereit. Nur Sekunden später erschien der Auftrag am Terminal.

    »Und wegen diesem Trampel macht der so einen Aufstand«, ärgerte sich Alois, der vermutet hatte, dass sie zu einem Notfall gerufen würden.

    Stattdessen sollten die beiden eine ältere Dame zur Dialyse bringen. Business as usual. Elfriede Edstadler musste drei Mal die Woche zur Blutwäsche, weil ihre Nieren den Dienst versagten. Aus diesem Grund besetzte die Dienstführung ein Fahrzeug um fünf Uhr morgens. Andernfalls müssten die meist ehrenamtlich aktiven Nachtdienstmitarbeiter diese Fahrt übernehmen.

    »Das ist heute echt mein Tag«, zog Julia eine Schnute und gurtete sich an.

    »Dann wollen wir mal loslegen«, startete Alois das Gefährt und ließ den Wagen aus der Garage rollen.

    Susanne befeuchtete ihren Finger mit der Zunge und griff auf die Unterseite des Bügeleisens. Dann breitete sie das Lieblingskleidchen ihrer jüngeren Tochter Lea aus und begann es sorgfältig zu bügeln. Sie hatte sich wie jeden Morgen den Wecker auf fünf Uhr gestellt, sie wollte die morgendliche Ruhe nutzen, um die wichtigsten Dinge im Haushalt zu erledigen.

    Wenn die Mädels erst einmal aus dem Bett krochen, begann der alltägliche Wahnsinn. Dann würde sie alle Hände voll zu tun haben, die beiden rechtzeitig im Hort beziehungsweise in der Schule abzuliefern. Im CD-Player lief Enya, das beruhigte Susanne. Danach ging die Arbeit wie von selbst von der Hand. Zufrieden summte sie zur Musik. Der Tee verbreitete sein Aroma in der Wohnung.

    Das Leben hatte es trotz allem gut mit ihr gemeint. Sie stellte sich ihre Kleine in dem feschen Kleidchen vor, dass sie kürzlich im Abverkauf gefunden hatte. Auch für die Ältere hatte es ein ähnliches in deren Größe gegeben. Am ersten Schultag Mitte September hatte sie die beiden fotografiert. Nun prangte diese Aufnahme am Display ihres Handys.

    Wenn es ihr schlecht ging oder sie mit ihrem Schicksal zu hadern begann, nahm sie das Telefon zur Hand und betrachtete ihre beiden Prinzessinnen. Dann war alles wieder gut. Sie brauchte nicht mehr. Sie hatte alles, was zum glücklich Sein nötig war. Zufrieden legte sie das Teil auf den Stoß mit der bereits gebügelten Wäsche. Der andere Stoß war noch immer höher, stellte sie seufzend fest.

    »Schönen guten Morgen, Frau Edstadler«, versuchte Alois gute Stimmung zu verbreiten.

    »Ich wüsste nicht, was an diesem Morgen gut sein sollte, junger Mann«, keifte die Dreiundachtzigjährige drauf los. »Ihr seid zehn Minuten zu spät«, klopfte sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr.

    »Nun, Frau Edstadler«, lächelte Alois zurück. »Wenn Sie schon mal zur Haustür hinuntergegangen wären, dann hätten wir einen Teil der Zeit wieder hereingeholt.« Mit voller Absicht ließ er den Tragsessel gegen den Türrahmen, bei dem schon an einigen Stellen der Lack abblätterte, krachen.

    »Sie wissen ganz genau, dass ich nicht Treppensteigen kann, junger Mann«, pfauchte sie und zog sich umständlich ihre Jacke an.

    Alois wusste, dass sie mehrmals die Woche mit ihrem Rollator in die Stadt marschierte, um ihre Geschäfte zu erledigen, aber er schwieg.

    »Nehmen Sie schon mal das Gepäck, während ich mich fertig mache«, deutete sie auf ihren Handgepäckskoffer und den Rollator, die hinter ihr im engen Gang warteten. Beide Teile mussten im Rettungswagen verstaut werden.

    Alois und seine Kollegen hatten es längst aufgegeben, mit Frau Edstadler darüber zu diskutieren. Ein Buch zum Lesen passte locker in eine Handtasche und Gehhilfen und Rollstühle gab es im Krankenhaus zur Genüge. Dennoch verweigerte sie den Transport, wenn nicht alles nach ihrem Sinn erledigt wurde. Wenn eine Mannschaft sich weigerte, ihren gesamten Hausrat mitzunehmen, dann gab es einen bösen Anruf beim Geschäftsführer und anschließend eine Standpauke für die Dienstmannschaft. Der Kunde war König!

    Alois hatte an diesem Morgen keine Lust, sich zu ärgern.

    »Mach ich doch glatt«, erwiderte er. »Aber nur, weil Sie mich so nett bitten und schon zwei Mal Junger Mann zu mir gesagt haben«, zwinkerte er Julia an, die vor Wut schäumte.

    Er schnappte das Gepäckstück und den Rollator und stapfte in seinen schweren Sicherheitsschuhen die drei Stockwerke hinunter. Julia lehnte mit verschränkten Armen an der Wohnungstür. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und setzte ein gequältes Grinsen auf.

    »Wieso grinsen Sie so blöd?«, musste sie sich anhören.

    »Weil ich es gescheiter nicht kann«, wollte sie erwidern. Stattdessen steckte sie die Hände in die Hosentasche und starrte schweigend beim Gangfenster hinaus. Die Dämmerung brach an und tauchte die Landschaft in ein seltsames Farbengemisch aus Lila und Violetttönen. In ein paar Minuten würde sich die Sonne über den Hügeln zeigen.

    Wenn ich dich da rausschmeiße, dann bist du platt wie ein Löschblatt, dachte Julia. Dann zückte sie ihr Handy und scrollte durch die neuesten Nachrichten. Ihre Freunde schliefen noch alle. Niemand war online. Julia machte eine Instagramstory für ihre Freunde #5UhrDienst #AlteLadyausdemdrittenStock #AusLiebeamLeben.

    Alois blickte auf die Uhr, als die alte Dame im Fahrzeug angegurtet war. Fünf Uhr fünfunddreißig und zum ersten Mal verschwitzt. Er zog die Vliesweste aus und schob rückwärts aus dem Innenhof.

    Frau Edstadler holte auf dem Weg nach Linz nicht einmal Luft. Sie meckerte in einem fort. Auf die Rettung war kein Verlass, sie kam immer unpünktlich. Das Rettungspersonal war stets unfreundlich, ganz besonders die Jungen, die nur in ihr Handy starrten, statt sich um die kranken Menschen zu kümmern.

    Julia holte ihr Handy aus der seitlichen Hosentasche und spielte Quizduell. Sollte die Alte doch jammern und klagen, sie würde das alles an sich abprallen lassen. Nur am Rande bekam sie mit, wie in weiterer Folge die schlecht gefederten Fahrzeuge an der Reihe waren, in denen es immer zugig war. Da konnte man sich ja eine Lungenentzündung einfangen, nein, den Tod konnte man sich da holen.

    Julia ließ ihre in Altrosa getünchten Fingernägel über das Smartphone sausen und antwortete auf den ersten Kommentar zu ihrer geposteten Story. Sie musste schmunzeln. Alles hatte zwei Seiten, Yin und Yang.

    Josef wich so gut es ging den Wasserlachen aus, die vom starken Regen am Vorabend zeugten. Aber Wind und Wetter konnten ihm nichts anhaben. Er hatte fünfzehn Jahre als Bäcker gearbeitet und das hauptsächlich in der Nacht. Bis heute hatte er seinen Schlafrhythmus nur bedingt umstellen können. Ohne sich einen Wecker stellen zu müssen, kletterte er um fünf Uhr morgens aus seinem Bett und schlüpfte in die Jogginghose.

    Mittlerweile hatte er seine fixe Laufstrecke, knapp zehn Kilometer, die er jeden Morgen zurücklegte. Um diese Zeit lag auch der Treppelweg neben der Bundesstraße noch ruhig da. Eine halbe Stunde später würde sich der erste Stau Richtung Linz bilden.

    Ein einsamer Rettungswagen überholte ihn, glitt mit gleichmäßigem Tempo auf der Bundesstraße dahin. Das Sichtschutzglas verwehrte ihm die Sicht auf die Menschen darin. Er konnte im Patientenraum nur die Schatten zweier Personen erkennen.

    Josef konzentrierte sich wieder auf seine gleichmäßigen Schritte und seinen gleichmäßigen Atem. Er erhöhte unwesentlich das Tempo. Die durch den Regen gereinigte Luft schien das Laufen zu erleichtern. Vielleicht würde er einen neuen Streckenrekord aufstellen?

    Kapitel 2

    »Wir sind viel zu nett. Wir sollten uns das nicht gefallen lassen«, brach Julia das Schweigen, als sie mit dem leeren Tragsessel im Lift in die Rettungsgarage fuhren.

    »Da hast du Recht«, erwiderte Alois gedankenverloren. Er sah sein eigenes Konterfei im Spiegel. Dunkle, blutunterlaufene Augenringe ließen ihn erschauern, Falten breiteten sich von den Augenwinkeln über das gesamte Gesicht aus.

    »Hast du gesehen, wie die Schwestern mit ihr umgehen? Die lassen sich nicht auf der Nase herumtanzen.«

    »Ich weiß«, murmelte er und fuhr sich durch seinen Schnauzbart, während er sein Spiegelbild nach grauen Haaren untersuchte. Ich bin so unglaublich hässlich, wollte er sagen und wandte den Blick ab. Wie hatte es so weit kommen können, dass er mit geschwollenen Augen und ergrautem Haar in so einem trostlosen Lift, der nach Desinfektionsmittel roch, gelandet war? So hatte er nicht enden wollen.

    Julia blickte ihren Kollegen verwundert an. Hörte er ihr überhaupt zu? »Ich wollte schon immer mal in so einem Lift auf Stopp drücken und mich so richtig durchficken lassen«, raunte sie.

    »Du sagst es«, erwiderte Alois.

    Julia boxte ihn von der Seite. »He, Alois. Wo bist du mit deinen Gedanken?«

    »Was? Wieso?«

    »Du hörst mir nicht zu«, war Julia erbost.

    »Sicher hör ich dir zu«, wehrte er sich.

    »Hast du nicht!«

    Alois hob die Arme. »Wenn du meinst.«

    »Dann sag mir, was ich zuletzt gesagt habe«, forderte sie ihn auf.

    Die Aufzugstür öffnete sich.

    »Du hast über die Edstadler im Besonderen und die alten Jammertanten im Allgemeinen geschimpft. Den genauen Wortlaut kann ich nicht wiederholen«, schob er den Tragsessel aus dem Lift und rollte ihn gelassen zum Wagen.

    »Du hast nicht zugehört!«, wiederholte Julia.

    »Was hast du dann gesagt?«

    »Der Pfarrer predigt auch nur einmal! Ich sag nur so viel: du hast eine einmalige Chance vertan!«

    Alois war das gleichgültig. Es war noch nicht einmal Viertel nach sechs. Viel zu früh, um einen Streit anzufangen. »Wir gehen im Krankenhaus frühstücken«, setzte er neue Prioritäten.

    »Schönen guten Morgen«, strahlte Schwester Martina ihre Ablöse mit einem breiten Lächeln an.

    »Morgen«, erwiderte Anita mürrisch. Sie konnte Menschen, die in aller Herrgottsfrüh schon guter Laune waren, allgemein und ihre jüngste Pflegekraft im Besonderen nicht ausstehen. Anita war überzeugt, dass ihre Freundlichkeit gespielt und als Provokation zu sehen war.

    »Gibt es was?«, wollte die Stationsschwester auf den neuesten Stand gebracht werden. Es gab pro Stockwerk eine Verantwortliche, die über alle Patienten, egal ob auf A, B oder C untergebracht, Bescheid wissen musste.

    »Frau Breitebner ist verstorben«, öffnete Martina ihren Kittel. Sie hatte wieder einmal einen Nachtdienst überstanden. Eine Nacht, in der sie allein für sechzig Klienten zuständig und verantwortlich gewesen war. »Ich musste den ärztlichen Notdienst holen.«

    »So, so«, kratzte sich Anita am Kinn. »Den ärztlichen Notdienst?«

    »Ja. Er hat die Totenbeschau durchgeführt.«

    »Hast du ihn dann auch gleich zu Frau Pribil gebracht?«

    »Nein, sollte ich?«

    »Ich hab dir gestern Abend bei der Dienstübergabe gesagt, dass Frau Pribil die letzten Nächte immer hoch gefiebert hat.«

    »Daran kann ich mich nicht erinnern«, wirkte Martina betroffen.

    »Hab ich aber«, wurde Anita lauter. »Ist es nicht so?«, wandte sie sich an Schwester Cordula im Vorbeigehen. Diese zuckte unschuldig mit den Schultern: »Ich war gestern gar nicht im Haus.«

    »Hab ich«, nickte Anita noch einmal, um sich Recht zu verschaffen.

    »Heute Nacht hat sie ganz ruhig durchgeschlafen«, trotzte Martina ihrer Chefin.

    »Trotzdem. Wenn der Arzt schon da ist, lass ich ihn einen Blick auf unsere Sorgenkinder werfen.«

    »Ja, schon!«

    »Er hätte auch bei Herrn Eichner und Herrn Sobotka reinschauen können, nicht wahr?«, wandte sich Anita an Cordula, die zustimmend nickte und dienstbeflissen Laden auf und zu schob. »Wie blöd kann man eigentlich sein?«, brauste die Stationsschwester ohne Vorwarnung auf.

    »Aber?«

    »Nichts aber.« Anita schüttelte den Kopf und sperrte ihr Büro auf.

    »Guten Morgen allerseits!«, stapfte Pfleger Josef mit seinen leuchtend blauen Augen vorbei. Niemand reagierte auf seine Begrüßung. Also zog er eine Augenbraue hoch und nahm sich eine Tasse Tee.

    Martina riss sich den Kasack vom Leib und eilte durch das Stiegenhaus in die Umkleide im Erdgeschoß. Keuchend holte sie den Spindschlüssel hervor.

    »Du mich auch!«, fluchte sie und trat mit dem Fuß gegen ihren Spind. Danach setzte sie sich auf die Bank und versteckte ihr Gesicht in den Händen.

    Julia biss herzhaft in ihre mit Butter und Marmelade bestrichene Semmel und schimpfte neuerlich über den alten Drachen, der ihr den Morgen vermiest hatte.

    »Man sollte sie einfach mal im Treppenhaus fallen lassen«, schlug sie vor.

    »Du machst aus einer Mücke einen Elefanten.«

    »Mücke? Das ist ein Drache, ein feuerspeiender, ekelerregender Drache!«

    »Hast du schon mal überlegt, warum die Alte so griesgrämig ist? Also ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. Sie macht sich mit ihrer Art ja selber das Leben zur Hölle. Die ein, zwei Stunden pro Woche mit ihr halt ich schon aus.«

    Julia dachte nach. Vermutlich hatte er Recht und sie maß dem Ganzen eine zu hohe Bedeutung bei.

    »Dieser Drache, wie du sie nennst, war vierzig Jahre mit einem Säufer verheiratet, der sie im Schnitt einmal pro Woche verprügelt hat. Ich kann mich noch erinnern. Als ich bei der Rettung angefangen habe …«

    »Also in einem anderen Jahrtausend!«, grinste Julia.

    »Ja, in einem anderen Leben quasi, hihihi«, ließ er sich nicht provozieren. »Da habe ich sie ein paar Mal mit blutunterlaufenen Augen und verschwollenem Gesicht auf die Unfallstation gebracht.«

    »Die Ärmste!«

    »Und kaum hatte sich der Alte zu Tode gesoffen, begannen ihre Nieren den Geist aufzugeben. Ihre Kinder haben sich in alle Winde verstreut, um dem prügelnden Vater und der ohnmächtig

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