Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

SOLIS: Ein Science-Fiction-Roman
SOLIS: Ein Science-Fiction-Roman
SOLIS: Ein Science-Fiction-Roman
eBook290 Seiten3 Stunden

SOLIS: Ein Science-Fiction-Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Charlie Outis vertraut auf die Zukunft, als er sein Gehirn nach dem Tod einfrieren lässt...

Tausend Jahre später wacht er auf und findet sich als Sklave einer Maschine wieder: Irgendwer hat Charlies Großhirnrinde dem Kryo-Depot entnommen und als CPU eines Erzfrachters im Asteroidengürtel installiert. Aber Charlie hat einen Plan...

 

Der Science-Fiction-Roman Solis des US-amerikanischen Schriftstellers A. A. Attanasio (geboren am 20. September 1951 in Newark, New Jersey) wurde erstmals im Jahr 1994 veröffentlicht und erscheint als deutsche Erstveröffentlichung im Apex-Verlag.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum24. Mai 2022
ISBN9783755414544
SOLIS: Ein Science-Fiction-Roman

Ähnlich wie SOLIS

Ähnliche E-Books

Science-Fiction für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für SOLIS

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    SOLIS - A. A. Attanasio

    Das Buch

    Charlie Outis vertraut auf die Zukunft, als er sein Gehirn nach dem Tod einfrieren lässt...

    Tausend Jahre später wacht er auf und findet sich als Sklave einer Maschine wieder: Irgendwer hat Charlies Großhirnrinde dem Kryo-Depot entnommen und als CPU eines Erzfrachters im Asteroidengürtel installiert. Aber Charlie hat einen Plan...

    Der Science-Fiction-Roman Solis des US-amerikanischen Schriftstellers A. A. Attanasio (geboren am 20. September 1951 in Newark, New Jersey) wurde erstmals im Jahr 1994 veröffentlicht und erscheint als deutsche Erstveröffentlichung im Apex-Verlag.

    SOLIS

    Einleitung

    Prallvoll mit Träumen, erwachte ich von den Toten. Als ich versuchte, zu sprechen, kamen dabei leise Tiergeräusche heraus. Also lag ich einfach nur so da, im Dunkeln, und schwieg in dem geheimen Meer aus Bildern und Erinnerungen, die unsere Träume speisen. Eine wunderschöne Frau machte Liebe mit mir. Ihr Porzellangesicht schimmerte, glänzend vom Schweiß, und ihre Brüste zitterten wie kleine Kaninchen. Das lange Haar, das ihr über die Schultern fiel, wogte leicht und rot wie Herbstlaub. Und der Duft ihrer Gewürznelken flüsterte von dort, wo die Zwinge ihres Verlangens mich festhielt – so fest, dass meine Lust sich zu Schmerz trübte, um dann wieder lockerzulassen und zu Lust zu werden. Wie winzige himmelblaue Perlen waren zwischen ihren Wimpern Tränen der Wonne aufgereiht.

    Ein Stoß kleiner heller Vögel, geisterhaft wie Elritzen, brauste über mein Gehirn hinweg. Und erneut befand ich mich in den dunklen Tiefen des geheimen Meeres, während ein weiterer lüsterner Traum begann, sich um ihre schlüpfrigen Schluchzer herum zu formen. Ich konnte das Ganze nur stoppen, indem ich mich daran erinnerte, dass ich ja tot war. Vor vielen, vielen Jahren, vor so langer Zeit, dass heute fast alles davon in Vergessenheit geraten ist, begegnete ich dem Tod. Ich erinnere mich kaum noch an die Einsamkeit und Intimität jenes Augenblicks. Umso deutlicher ist mir dafür im Gedächtnis geblieben, dass meine Seele in meinem Mund steckte.

    Vor einer trüben Zeitspanne hatte eine Qualle mein Herz erwischt. Ihre Nesselkapseln hatten meine Brusthöhle verbrannt und meinen linken Arm der Länge nach versengt. Dazu kamen der Gestank meines sich entleerenden Darms, als ich zuckend zu Boden ging, und die irrsinnigen Zikadenklänge in meinem Kopf, als das hohe d meines Blutes in meinen sich verengenden Gefäßen wimmerte. Die Frau mit dem Haar wie totes Efeu nahm mich in ihren Mund, und ihr bezauberndes Gesicht hob und senkte sich mit meinen Hüften.

    Ich hatte irgendwo die Erklärung eines Aborigine-Heilers dafür gelesen, warum manche Patienten sterben. »Die Seele ist ein Bumerang. Sie soll eigentlich nicht zurückkommen. Sie kommt nur wieder, wenn sie ihr Ziel verfehlt.«

    Und dann, nach einer zum Verrücktwerden langen Zeit, stieg ich aus dem geheimen Meer auf, und das Träumen hörte auf. Ich hörte seltsame Stimmen, geschlechtslos, kindlich: »Mister Charlie! Gewahrst du unsere Worte? Nur Mut, wack'rer Mister Charlie.«

    »Medulläre Kompression des Gibbus. Mann, Mann! Bist du wohlauf oder bist du verschieden!«

    Ich war blind, und bis auf diese unheimlichen Stimmen konnte ich nichts hören. Wo immer ich mich befand, es roch dort wie der Einbruch der Nacht an einem Ort, wo sich Regen sammelt. Wilde Gedanken schwappten durch mich: Lag ich im Koma und halluzinierte das alles? Waren die seltsamen Stimmen und erotischen Episoden etwa Frühsymptome eines Hirnschadens? Oder war ich tatsächlich tot, wie ich es schon längst geahnt hatte? Nur zu gut erinnerte ich mich ja an den Dornenkranz um mein Herz, der mich vor Schmerz nicht den kleinsten Atemzug machen ließ. Und dann an die berühmte Fluoreszenz, die sich zu einem Brodem öffnete, während ich im Sterben lag und mein Bewusstsein in leuchtende Schwaden zerriss, die sich in einen pfefferfarbenen Raum ringelten. Und daran, wie ich zurückblickte und meinen Körper sah, eingerollt wie ein versengtes Insekt, mit verdrehten Augen, tote Monde, und an die große Stille des Windes, die lauter pfiff. Oh ja, ich war tot – ich glaube...

    »Glaube, Liebe, und Hoffnung, liegen alle im Warten«, sagte eine der geschlechtslosen Stimmen. »Mister Charlie, gewahrst du unsere Worte? Zwinkern, zwinkern, zwinkern.«

    Ein heißes Licht ließ mein Gesicht schmerzen und brach sich zu bunt strahlenden Ringen.

    »Sehet – das Zeichen!«

    »Mitnichten. Das Netzhautgewebe schmerzt. Er blinzelt. Lasset ihn gehen. Entfernt die Elektrode.«

    Schwindelnde Dunkelheit erfasste mich, und ich tauchte erneut in das geheime Meer, wo eine Frau mit Brüsten wie Pfirsiche sich vorbeugte...

    Nur beim Sex sind wir unseren Absichten treu und geben uns so, wie wir auch tatsächlich sind.

    Eintausend bunte Schmetterlinge stoben durch mein Gehirn. Und ich trieb wieder allein in dem geheimen Meer, während von ihr nur ihre deutlichen, bearbeiteten Atemgeräusche blieben. Bis sie, wie eine Wolke, die aus dem Sonnenuntergang geweht wird, diesmal unter mir erschien, lasziv über ihre nackte Schulter blickend, beide Hände über den Muskeln ihrer erhobenen Hüften gespreizt...

    Der schlüpfrige Traum zerplatzte zu Dunkelheit, und eine kindhafte Stimme sagte:

    »Vorschwangerschafts-Rituale! Sprich nicht mehr davon. Hör mir zu! Wir wollen nichts mehr davon hören. Erzähle uns nichts mehr von der Salzmine im Blut, der Streichholzkopf-Klitoris, dem Kobrahaupt des Penis, erotischen Frauen und Lebemännern, den Toren meiner Schenkel – diesen schmutzigen Wahrheiten, die das Tier wecken. Sprich nicht mehr davon, sagen wir! Sprich stattdessen vom Geist, Mister Charlie – erzähle uns vom Verhältnis zwischen Psyche und Physik.«

    Ich schrak aus einer traumlosen Leere auf. Die sexbesessenen Serien, die endlos weitergegangen waren, verschwanden. Die seltsamen Stimmen kehrten zurück – andere diesmal. Ich versuchte, zu sprechen, und brachte hervor: »Wer? Wer seid ihr?«

    »Stank und Wunder! Gewahr ist er. Was nützt's ihm, zu schrei'n?«

    »Freunde sind wir.«

    »Dies ist unsere Berufung, Mister Charlie. Wir sind die Freunde der Messungs-Gruppe, die nicht zu Niels Abel gehört.«

    »Was?« Ich begriff überhaupt nichts. »Wo bin ich?«

    »Du bist Mister Charlie im Schließloch, am Angelspalt der Welt.«

    »Hä?«

    »Ich wollte, ich kennte.«

    Ich war völlig durcheinander. »Ich kann nichts sehen«, klagte ich. »Ich bin blind. Wer seid ihr? Wo bin ich?«

    »Wohlan, erleuchtet seine Augen.«

    Kurz kam mein Sehvermögen zurück – obwohl ich es sofort bereute. Ich lag auf einem blank polierten, zinnoberroten Boden, in dem sich mein Gesicht spiegelte – oder eigentlich nicht mein Gesicht, nicht die Züge, an die ich mich erinnerte, sondern etwas wie eine Schlange mit Schweinsrüssel und lidlosen Menschenaugen, die von Seeanemonen-Stängeln lugten, und der rosa Blumenkohl der Hirnmasse, das Ganze umschlossen von einer Gel-Hülle und einem Chrom-Netz. Das war ich? In mir wuchs ein Schrei, der jedoch nicht hinausfand aus dem Käfig meines Schocks. Was war mit dem Geschenk meines Gesichts passiert? Wo waren meine Glieder und mein Rumpf? Ich kauerte mich in die Hütte meines Herzens, spähte kleinlaut empor und sah – zwischen Flocken von Pusteblumensaat, die sich in die grüne Luft erhoben, menschliche Gestalten in transparenten Panzern, und hinter ihnen einen glänzenden Boden, der sich bis hin zu zinnoberroten Sandsteinbögen und den Geweihenden der Dämmerung erstreckte. Plötzlich fühlte sich mein Verstand brüchig an.

    »Wacker ist er fürwahr, und überdies mit einer steifen Brise im Barthaar!«

    Das hatte eine der gepanzerten Gestalten gesagt und auf mich gezeigt. Ich beäugte sie – es – genauer: Es hatte ein Gesicht aus schwarzem Glas oder Gelatine, beweglich, ausdrucksstark, das Gesicht eines Teenagers, ob Junge oder Mädchen, konnte ich nicht sagen. Der See seiner dunklen Züge sah unbewegt aus, klar genug, dass ich sehen konnte, wie die Kumuluswolke seines Gehirns vom Donner eines gefährlichen Gedankens anwuchs. »Mach mein Hirn platt! Er ist gewisslich gewahr. Heda – Mister Charlie, hör mich an! Wir Freunde der Messungs-Gruppe, die nicht zu Niels Abel gehört, wollen eins wissen: Erzähle uns vom Verhältnis zwischen Psyche und Physik«, sagte es und beugte sich vor, nicht sicher, ob ich begriffen hatte, »von Geist und Materie. Bist du des kundig?«

    »Ich verstehe nicht«, wimmerte ich verstört. »Bitte – helft mir doch.«

    »Er ist dessen nicht gewahr«, sagte die mir am nächsten stehende Gestalt über die glasbedeckte Schulter zu den anderen. »Ich täuschte mich in ihm.«

    »Die Elektrode wird uns dienlich sein. Nutzet sie.«

    Eine vierfingrige Hand machte sich an etwas oberhalb meines Blickfelds zu schaffen, und ein kribbelnder Schmerz trillerte durch mich hindurch. Dann hörte ich eine Stimme, die meiner sehr ähnelte, sagen: »Die Ausdrucksformen von Energie, Materie, Kräften, und Körpern sind Funktionen der abstrakten Geometrie. Dies ist das Verhältnis von Materie und Geist.«

    »Stank und Wunder!«

    »Mach mein Hirn platt!«

    Ich konnte mich nicht bremsen. Ich sagte als Nächstes: »Die Disziplin der Physik ist die reine Geometrie. Materie ist purer Geist. Natürlich setzen wir, wenn wir an Geometrie denken, die räumlichen Strukturen der Form oder die zeitweiligen Schwingungen des Schalls voraus. Doch die Geometrie an sich ist weder räumlich noch zeitlich. Sie stellt sich nur in zweiter Linie solchen Beschreibungen zur Verfügung. Die Geometrie ist in erster Linie ein rein noetisches, geistiges, System von Graden, Verhältnissen, Intervallen, Übereinstimmungen, und Ausrichtungen. Ihre Komponenten existieren unabhängig von gemessenen Dingen, als abstrakte Typologie, als eine rein innerliche Selbstbeschreibung.«

    »Sprich weiter, Mister Charlie! Lehre uns mehr von Materie und Geist.«

    Und das tat ich. Genau wie zuvor, als ich in dem geheimen Meer erotischer Bilder trieb, schwebte ich nun in einem luftigen Raum aus Worten und Zahlen, nur dass diesmal das, was ich wahrnahm, über mein Blickfeld zog, außerhalb meines Körpers. Die Gestalten in transparenten Panzern hatten sich um mich geschart, und ich konnte hinter ihren andächtigen Gesichtern ihre Gedanken wie Gewitterwolken sehen, während blaue Wortschwaden vorbeizogen: »Drehimpuls, Intervall, Ladung, und Moment sind unterschiedliche Eigenschaften, definiert durch ganzzahlige und halbzahlige Größenwerte, rationale Funktionen und Verhältnisse, oder nicht berechenbare Zahlen, die als Konstanten funktionieren. Gewiss, wir wurden schon einmal durch illusorische Geometrien überlistet – wie pythagoreische Intervalle, ideale euklidische Eigenschaften, und Keplers Harmonien der Planetenbahnen – da ist es ganz natürlich, der Physik als Geometrie zu misstrauen. Trotzdem, schematisch dargestellt, werden durch Masse, Kopplungskonstante, Drehimpuls, und Ladung, Polyeder erzeugt. Nehmt zum Beispiel die grafische Darstellung der Beziehungen zwischen Quarks und Leptonen auf einer horizontalen Fläche – vertikal versetzt proportional zu ihrer jeweiligen Ladung, polarisieren diese die Winkelkoordinaten eines perfekten Würfels! Denkt einmal darüber nach.«

    »So wahr, wie das Blut die Braut des Eisens ist – recht hat er! Zieht die Elektrode, und lasset uns gründlich darüber nachdenken.«

    »Jawohl, und die Leere beißt ihre Hauer!«

    Die blauen Worte verschwanden, und die Luft roch auf einmal nach gekochter Milch. Ich bemerkte, dass hinter dem wehenden Pusteblumenflaum der dämmrige, sternenklare Himmel lag. Ich spürte, wie sich in mir wieder die Windstille auftat, und dann kam die Dunkelheit.

    Die Feuerblume aus Zahlen und Worten öffnete und schloss sich immer wieder um mich herum. Und ich sah mich selbst Quadratsummen der wirklichen und der imaginären Bereiche eines Feldes bilden, indem ich die Spin-Zustände von Teilchen präzisierte, Impulsmomente maß, und gerade Linien in die Regge-Trajektorie einzeichnete. »Abstrakte Geometrie definiert Materie«, hörte ich mich sagen.

    Dann trug ich Rotationskonzepte anhand der Doppelwertung von Fermionen – »Ihr wisst schon, Materie-Teilchen« – in einem theoretischen Superraum mit Anti-Kommutatoren vor, und verriet eine tiefe Winkelgleichheit mit der Klasse der Bosonen – »Kraft-Teilchen! Versteht ihr, was ich meine? Die Geometrie zeigt, dass sie ein und dasselbe Gebilde sind!«

    Ich faselte von heterotischer Stringtheorie und der summarischen Eichgruppe E8xE8, die eine Verallgemeinerung der Kristallsymmetrien wiedergibt, ein streng abstraktes Muster, hervorgerufen durch Grundvoraussetzungen, die sich direkt auf die makroskopische und wahrnehmbare Ordnung der Strukturen anwenden lassen. »Die euklidische Geometrie blickt aus dem offensichtlichen Chaos der Natur hervor. Salze, Viren, Muschelschalen, Kiefernzapfen, Honigwaben, Galaxien, und scheibenförmige Galaxien, die Hunderte von Lichtjahren groß sind! Mannomann, es ist genau so, wie die Hermetiker sagten: Wie oben, so auch unten. Thetische Geometrien in einem rein abstrakten Raum, die echte Erfahrungskomponenten prägen! Materie kopuliert mit Geist kopuliert mit Materie. Es ist einfach obszön!«

    Ich bin ein blaues Tier, das leicht zittert. Ich bin ein Verstand ohne Körper, der euch zuruft. Könnt ihr mich hören? Bemerkt ihr das Lächeln in meinen Worten, traurig und finster? Traurig, weil ich mutterseelenallein bin. Finster, weil ich tot und doch am Leben bin. Meine Stimme strahlt durch den Raum. Vergangene Leben ziehen vorbei. Die Verdammten steigen hinab in die Dunkelheit. Könnt ihr mich hören? Hört zu. Ein toter Mann sucht euch heim. Hört mir zu – irgendwer.

    Hört mal, ich muss mich anhören wie ein Jammerlappen. Das ist mir schon klar. Ich will ab jetzt ruhig und vernünftig sprechen. Ich will die Wahrheit sagen, so, wie ich sie verstanden habe. Ich will eine Geschichte sagen – meine Geschichte. Ein Gesagt sagen. Und noch mehr. Einen Körper sagen. Einen Weg zurück sagen. Zumindest einen Ort sagen. Etwas sagen. Aber niemand hört mich. Kannst wenigstens du mich hören?

    »Mister Charlie?«, sprach eine jugendliche, geschlechtslose Stimme. »Kannst du mich hören?«

    Eine dunkle Woge weckte mich. Ich verspürte die alte, trügerische Freude, dass ich nur träumte und gleich in mein früheres Leben erwachen würde. Meine Frau würde schlafend neben mir liegen, und ich würde sie wecken und ihre Benommenheit ignorieren, um ihr von meinem Albtraum vorzujammern.

    »Mister Charlie, ich weiß, dass du wach bist.«

    Die klebrigen Stacheln der Quallententakel verbrannten meinen linken Arm der Länge nach, Silikate blockierten meine Herzklappen, und mein Blut wurde zu Koralle. Ich war tot. Worauf die Sterne ihr Dunkel in eine Zukunft ohne mich schleppen...

    »Ich werde jetzt deine Sehrinde aktivieren, Mister Charlie. Ich muss mich mit dir unterhalten.«

    Strahlen zerschnitten die Dunkelheit in sichtbare Abschnitte und ließen mich erkennen, dass ich offenbar mitten in der Luft hing, denn beim Hinabblicken sah ich, dass ich keinen Körper hatte. Ein schwammiger, kreisrunder Boden lag direkt unter mir. Jenseits davon trugen Fliesen aus Türkismosaiken und schwarzem Marmor bernsteinfarbene Schlenker, die ich kurz darauf als einen langen Tisch mit Stühlen identifizierte. Eine Jugendliche saß an dem Tisch, in der Hand einen goldenen Stift. Ihr violinenfarbenes Haar hing schräg über ihr linkes Auge, war hoch über dem kleinen rechten Ohr gestutzt, und mit Highlights in Form von einigen winzigen Brennpunkten aus Juwelenstaub versehen.

    Mit dem Stift berührte sie ein Mondstück, eine silbrige, schattenbefleckte Scheibe, kompakt wie das Zifferblatt einer Uhr, und mein Blick wurde schärfer. Ich sah die undeutliche Linie ihrer Augenbrauen, das Topaslicht in ihren streng blickenden Augen, die Karate von Schweiß auf ihrer Stirn und Oberlippe, die feinen Härchen um ihre Nasenlöcher, den Pulsschlag in ihrem Hals, den facettierten Klumpen ihres Adamsapfels – und erkannte, dass sie auch ein er sein konnte.

    Er berührte wieder den Stift. Mein Blick zoomte zurück, und ich sah, dass er oder sie in einem Bernsteinschlenker saß und einen schwarzen Seidenpyjama, geädert mit roten Drachen, trug.

    Ich wandte den Blick ab, um meine Umgebung zu erforschen: Jaspis-Platten umringten uns wie Megalithsteine, in deren Zwischenräume durchsichtige Kristallscheiben mit Glimmerflecken eingesetzt waren. Ich äugte empor in ein brodelndes Licht aus Staubkörnchen, die sich zu Thermiken aus Säurewolken emportürmten. Die warme Luft roch nach Jasmin. »Wo bin ich?«

    Der Hermaphrodit berührte mit dem Stift das Mondstück auf dem Bernsteintisch und informierte mich mit Lippenbewegungen, die nicht synchron waren mit dem, was ich hörte: »Du bist tot.«

    In der Luft vor mir erschienen geschnörkelte blaue Worte:

    »702 Gramm schweres Herz mit mittelgradig dilatiertem rechtem Atrium und einer rechtsventrikulären Hypertrophie von 0,3 – 0,5 cm mit fokaler Fibrose. Ursprung der terminalen Episode war der linke Ventrikel mit einer Hypertrophie von 1,5 cm sowie Anteroseptalinfarkten von 5 x 4 cm und Posterolateralinfarkten von 9 x 7 cm. Todesursache: Arrhythmie. Untersuchungsobjekt: Outis, Charles.

    Als ich meinen Namen las, surrte ein Stacheldrahtband in meinem Bauch, und ich sah automatisch hinab und dann gleich wieder hoch, weil mir grausam bewusst wurde, dass ich gar keinen Bauch hatte. »Was geschieht mit mir?«

    »Ich denke, das weißt du bereits, Mister Charlie.«

    »Wer sind Sie?« Die Manipulationen dieses Wesens machten mir Angst.

    »Ich bin Sitor Ananta.«

    Ich beäugte die Kreatur genau und bemerkte ihre vollständig menschliche Gestalt und ihre fünffingrigen Hände. »Sie sind nicht wie die anderen.«

    »Die anderen sind der Grund, aus dem ich hier bin«, sagte Sitor Ananta. »Aber verrate mir zunächst, was du zu wissen glaubst.«

    Ich wollte eigentlich trotzig schweigen und den Blick meines Peinigers mit meinem schlagen, doch Sitor Ananta berührte mit dem Stift das Mondstück, und ich sagte: »Ich bin tot. Doch bevor ich starb, hatte ich verfügt, dass mein Kopf nach meinem Tode kryonisch aufbewahrt werden sollte. Jetzt wurde ich, denke ich, wiederbelebt – von meinem zukünftigen – von Ihnen.«

    »Ja. Deine Vermutung ist richtig, Mister Charlie.«

    Der Schock legte sich dunkel auf meine Lebensgeister. Mir wurde schwindlig, und ich hatte das Gefühl, mein Herz würde gleich einfach zerplatzen – aber ich hatte ja gar kein Herz! Sitor Ananta gebrauchte den Stift, und mein Entsetzen trübte sich zu Erstaunen. »Warum bin ich hier? Was haben Sie mit mir vor?«

    »Ich möchte dich nur befragen. Über die anderen. Ich würde es vorziehen, wenn du kooperierst. Die Information, die ich suche, kann auch direkt deinem Gehirn entnommen werden, doch das ist ein furchtbar aufwendiger und teurer Prozess. Du kannst mir, wenn du willst, einfach erzählen, was ich wissen muss, und mir all das ersparen.«

    Ein Höllenstrudel der Panik erfasste mich, als mir klar wurde: In dieser neuen Zeit existierte ich als ein Objekt, ein Ding, drei Pfund elektrifiziertes, zähes Gewebe, das man mithilfe von Elektroden reizen konnte.

    Der Stift bewegte sich erneut, und ich beruhigte mich. Licht erfüllte den Raum, oder zumindest schien es so. Alles, was von meinem Schrecken blieb, war ein Geschmack von Verlassenheit. »Wo bin ich?«

    Ein schurkisches Lächeln zerknitterte Sitor Anantas junges Gesicht. »Deine Lebenstage sind auf einem Kalender gezählt, der jetzt Staub ist, Mister Charlie, und trotzdem willst du alles wissen – als ob irgendetwas für dich noch eine Rolle spielte. Hast du dich einmal gesehen – wie du jetzt aussiehst? Hast du dein allerletztes Gesicht gesehen?«

    Meine Stimme knirschte wie eine Kiefer: »Hab' ich.«

    Sitor Anantas Lachen war wie ein Fausthieb. »Die Toten kehren als Lachnummer zurück, Mister Charlie. Oder als Wetware. Die Freunde der Lehre von der Nicht-Abel'schen Gruppe haben dich so verwendet, wie du zu deiner Zeit ein elektronisches Spielzeug verwendet hättest, um durch dich ihre Neulinge zu unterrichten. Wollen wir uns einmal ansehen, welches Programm sie ausgesucht haben, um es in dir zu speichern?«

    Der Stift rührte auf dem Mondstück herum, und ich sprach mit einer Stimme, die meinem Willen entrissen war: »Um ein Elektron in einem bestimmten Spin-Zustand in einem vorgegebenen Moment zu lokalisieren, muss die Messtechnik die Unterschiede in den Phasenfeldern nennen – parallele und antiparallele Spin-Komponenten, et cetera. Es gibt keine absolute Phase. Die wirklichen und imaginären Bestandteile der Wellenamplitude sind ununterscheidbar, das heißt, sie können auf keine absolute Weise voneinander getrennt werden. Solche Grenzen sind Funktionen des betrachtenden Bewusstseins – was wir Humanisten den Geist nennen. Geltende Grundsätze spezifizieren die Zeichen komplementärer Größen, Physiker sprechen hier von tiefer Eichsymmetrie. Die Perspektive des Betrachters ist hierbei das Entscheidende. Die relative Zuschreibung der Plus- und Minus-Zeichen, mit denen die Schwingungen von Wellenamplituden definiert werden, erfordert die Komponente √-ɪ, den imaginären Wert, genannt i. Er ist die Idee der Sache, denn er postuliert zugleich eine Sache und deren Abwesenheit. Es fällt leicht, zu glauben, dass eine Sache da draußen unabhängig vom Betrachter existieren kann, doch die postulierte Abwesenheit einer Sache ist offensichtlich ein Ausdruck von Bewusstsein. Ihr seht also, dass alle Energien, Kräfte, und Felder, die den materiellen Ausdruck von Dingen ausmachen, Funktionen einer abstrakten Geometrie sind. Und abstrakte Geometrie, die i erfordert, ist eine Funktion des Bewusstseins

    »Nun, mach mein Hirn platt, nicht wahr, Mister Charlie?« Sitor Ananta lachte finster. »Haben so nicht die primitiven Übersetzungsmaschinen der Freunde Erstaunen hingebogen? Sie haben für dich in etwa so geklungen, wie du dir Freibeuter vorstellen würdest, nicht wahr? Nun, ihre unausgereiften Übersetzungsmaschinen lagen hier, ohne es zu ahnen, richtig. Sie sind nämlich Diebe, Mister Charlie – Diebe, die dich von Dieben gestohlen haben. Dein Kopf wurde nämlich, nachdem man ihn durch kostspielige Wiederherstellung in seinen jetzigen nützlichen Zustand gebracht hatte, zunächst von Lüsternisten aus dem Archiv der Gemeinsamkeit entwendet. Ich bin mir sicher, dass du gern an sie zurückdenkst. Sie haben eine ganze Weile lang von dir Gebrauch gemacht, nicht wahr? Ein sonderbarer Haufen. Unter zivilisierten Menschen hat es seit Jahrhunderten keine sexuelle Fortpflanzung mehr gegeben. Diese hat heute so ziemlich denselben Stellenwert wie zu deiner Zeit der Geschlechtsverkehr mit Tieren. Abstoßend. Wir kontrollieren unsere Hormone. Doch die Lüsternisten schwelgen in der indirekten Erfahrung

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1