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Verlivion: Ein Funke Vertrauen
Verlivion: Ein Funke Vertrauen
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eBook705 Seiten9 Stunden

Verlivion: Ein Funke Vertrauen

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Über dieses E-Book

Das Königreich Aruna steht am Rande eines Krieges. Um den Frieden zu wahren, reist Alexith mit Prinz Tristan von Lima ins Weiße Hochland, um die Yidhé von seiner Unschuld zu überzeugen. Doch Intrigen, Magie und Verrat stellen sich ihnen in den Weg. Können sie den Krieg verhindern? Sind die Yidhé überhaupt an einem Frieden interessiert? Selbst das Goldkind Philomena findet seine Zweifel daran ...

Und während im Dürre geplagten Norden der Konflikt brodelt, sieht sich Akeem in der Wüste Rigestan einer gänzlich neuen Gefahr gegenüber …
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Okt. 2023
ISBN9783347767409
Verlivion: Ein Funke Vertrauen
Autor

Kai Hagen

Kai Hagen wundert sich, ob diese Autorenbeschreibungen überhaupt gelesen werden. Falls ja, wünscht er dem Leser einen fröhlichen Tag. Zu seiner Person? Kai Hagen wurde am 6. November 1989 in Schorndorf geboren und beschloss kurz nach dem Abitur 2009, in die Tasten zu hauen und selbst eine Geschichte zu erzählen. Abgelenkt von Marketingstudium, HARTZ 4-Zeit, den ersten Jobs und Salsa tanzen, dauerte es über ein gutes Jahrzehnt bis zu seinem Debütroman "Verlivion – Im Antlitz der Omen". Aber da Leonardo da Vinci für die Mona Lisa auch gute zehn Jahre gebraucht hatte, muss das ja kein schlechtes Zeichen sein. Immerhin kam der zweite Verlivion-Band "Ein Funke Vertrauen" schon ein Jahr später raus! Kai Hagen lebt heute in dem bezaubernden München.

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    Buchvorschau

    Verlivion - Kai Hagen

    AKT EINS

    – 1 –

    1. Septuan 110

    Alexiths Gemächer, Schloss Lima

    Grafschaft Lima, Königreich Aruna

    Alexith fuhr erschreckt auf. Er krallte sich mit den Händen an dem Baumwollstoff seiner Decke fest. Er konnte seinen unkontrollierten Atem hören. Für eine Sekunde wurde der Raum ihm ihn herum schwarz, dann schwamm er wieder in klaren Konturen vor seinen Blick.

    Ich bin in meinem Bett. Habe ich geträumt? Ein Albtraum? Alexiths Augen sprangen gedankenverloren über die Einrichtung – die Badewanne, die Kommode, die zugezogenen Vorhänge. Dann fixierte er den jungen Mann mit den braunen Locken, der eben noch neben der Tür gestanden hatte und nun auf ihn zu kam.

    »Alexith!«, sagte Lyam.

    Alexith rieb sich die Stirn. Habe ich alles nur geträumt? Er riss die Augen auf, als die Erinnerung an eine blonde Frau in sein Gedächtnis drang. »Marlene!«

    Alexith sprang aus seinem Bett. Er packte Lyam an den Oberarmen. »Wo ist sie? Wo ist Marlene?«

    Lyam blickte ihn kopfschüttelnd an. »Ich kenne keine –« »Die Botschafterin!«, sagte Alexith. »Wo ist die Botschafterin?«

    Lyam blinzelte. »Ich weiß nicht«, sagte er leise.

    Alexith ging schnaubend an ihm vorbei und riss die Tür auf. Er streckte den Kopf hinaus. In der Ferne drang ein undeutlicher Ruf durch die Gänge des Schlosses, doch er konnte niemanden sehen. Wo sind sie alle? Wo ist Marlene? Er knallte die Tür wieder zu.

    Alexith zog sich seine weiße Robe über den Kopf, die jemand zusammengefaltet auf der Kommode abgelegt hatte. Dann schlüpfte er in die Halbschuhe, die er neben der Tür entdeckte. Los geht's!

    »Wo willst du hin?«, fragte Lyam mit gerunzelter Stirn, offenbar unsicher, wie er mit der Situation umgehen sollte. »Vielleicht sollten wir auf Tristan warten …«

    Alexith ballte zuerst die Hände zu Fäusten, dann hob er mahnend den Finger. »Ich habe das Warten satt! Ich will wissen, was geschehen ist!« Ohne Lyam eines zweiten Blickes zu würdigen, trat er auf den Gang hinaus. Zielstrebig bewegte er sich voran. Zum Thronsaal! Ich werde schon irgendjemanden finden, der mir sagen kann, wo Marlene ist. Hitze stieg ihm in den Kopf. Es ist an der Zeit, dass ich Antworten bekomme!

    Alexith begegnete zwei Mägden, die ihre Waschkörbe an sich pressen mussten, als er sich an ihnen vorbeidrängte. Sie nannten ihn einen ›Bengel‹ und fluchten hinter ihm her, doch Alexith ignorierte sie. Einen Gang weiter traf er auf zwei limische Gardisten, die sich lachend über etwas amüsierten. Als sie den Novizen auf sich zukommen sahen, unterbrachen sie ihr Lachen und musterten ihn mit schiefen Köpfen. Sie sagten jedoch nichts, und Alexith ignorierte auch sie. Noch zweimal abbiegen und ich bin da!

    »Alexith! Warte!« Lyams Stimme hallte hinter ihm durch die Gänge. Doch Alexith hatte nicht die Absicht, der Aufforderung nachzukommen.

    Hinter der nächsten Ecke erfassten seine Augen eine Frau in einem dunklen Waffenrock vor einer geschlossenen Tür. Feldwebel Nola Kim. Sie trug zwei Schwerter auf dem Rücken und drehte Alexith den Kopf zu, als er näher kam. »Wo ist die Botschafterin?«, fragte er.

    Feldwebel Nola Kim blickte ihn mit ihren grünbraunen Augen an. Ihr eiskalter Blick fuhr ihm bis in die Beine und brachte ihn für eine Sekunde zum Stehen. Doch gleich darauf schüttelte er den Kopf. »Vergesst es! Ich frage jemand anderen.« Seine Nackenhaare stellten sich auf, als er an ihr vorbeiging. Mein Ziel war so oder so der Thronsaal. Im Thronsaal werde ich Antworten bekommen!

    Zwei Gardisten standen rechts und links vor den geschlossenen Türen des Thronsaals. Aus dem Raum drangen gedämpfte Stimmen. Schnell musterte Alexith die beiden Soldaten. Ihre Plattenpanzer hatten eine bronzefarbenen Glanz, der im starken Kontrast zu dem matten Blau ihrer Umhänge stand. Sie trugen Hellebarden und hatten ihre Blicke nach vorne gerichtet. Ihrer müden Haltung nach zu urteilen, standen sie aber schon länger auf ihren Posten. Alexith lächelte schief. Die beiden werden mich nicht aufhalten!

    Sein Herz schlug schneller, als er losstürmte. Einer der beiden Gardisten drehte den Kopf und zischte ein »Halt!«, doch Alexith hatte die Türen schon erreicht, ehe sich der Mann in Bewegung setzen konnte. Die Türen des Thronsaals ratterten, als er sie aufstieß.

    Entschlossen betrat Alexith den großen Saal. Sofort verstummten die Gespräche. Dafür klopfte sein Herz nun noch lauter. Alexith trat näher an die ringförmige Tischformation heran, die vor dem leeren Thron des Grafen stand. Er erkannte Sir Lucius und etwa ein Dutzend weiterer Männer, die dort zusammensaßen. Sie waren alle edel gekleidet und blickten Alexith an. Einige von ihnen mussten sich von ihren Stühlen aufrichten oder über ihre Schulter schauen, um ihn sehen zu können.

    »Wo ist die Botschafterin?«, fragte Alexith laut. Seine Stimme hallte durch den Thronsaal. »Wo ist sie?«

    Sir Lucius saß auf der anderen Seiten der Tischformation. Er erhob sich von seinem Platz und stützte sich dabei mit den Händen auf der schweren Holzplatte des Tisches ab, auf dem sich Dokumente, Karten und andere Papiere türmten. Der Kommandant der königlichen Truppen sagte nichts, bedachte Alexith aber mit einem strengen Blick.

    »Verzeiht, edler Rat!«, rief eine der Schlosswachen hinter Alexith. Der Mann ergriff Alexith am Unterarm. »Wir werden diesen Störenfried sofort in den Kerker bringen.« Alexith schäumte vor Wut. Lass mich gefälligst los! Er wollte sich gegen den Handgriff wehren, doch der Gardist war darauf vorbereitet und trat ihm in die Kniekehle. Alexith schrie auf. Als der Gardist ihn zur Tür zerrte, blieb ihm nichts anderes übrig, als neben ihm herzuhumpeln.

    »Haltet ein!«, drang Sir Lucius' Stimme durch den Raum. »Der Novize kann bleiben. Verlasst den Saal und schließt die Türen.«

    Der Gardist kniff die Augen zusammen und blickte Alexith an. Dann ließ er ihn los und salutierte in Richtung des Kommandanten. »Sehr wohl, Sir!«

    Alexith brummte. Das wird einen blauen Fleck hinterlassen. Schmerz pochte unter seinem Knie. Doch er biss die Zähne zusammen und ging wieder auf die Tischrunde zu – dieses Mal etwas vorsichtigter. Das Schweigen der anwesenden Männer war mittlerweile einem Tuscheln gewichen. Sie hatten ihre Köpfe zusammengesteckt. Ein paar von ihnen zeigten mit dem Finger auf Alexith.

    »Wo ist sie?«, fragte Alexith. »Wo ist die Botschafterin?« »Sir Lucius – dieser Novize bricht in den Thronsaal ein, stört uns in unserer Sitzung und zeigt nicht einmal einen Funken von Anstand vor dem Adel dieser Stadt.«

    Alexith hatte die Stimme des Mannes, der da sprach, schon einmal gehört. Er saß direkt neben Sir Lucius und trug eine grüne Tunika, in die auf Schulterhöhe eine schwarze Schlange eingestickt war. Baron Dominik von Cabal.

    »Ich erwarte, dass dieser Bengel sofort zum Pranger gebracht wird!«, erhob der Adlige seine Stimme erneut.

    Alexith machte ein paar Schritte weiter in den Raum hinein. Er blickte in das Gesicht jedes einzelnen Adligen. Dann dämmerte es ihm. Es sind nur Männer hier! Sie ist nicht hier! Er ballte die Fäuste.»Ich will eine Antwort! Wo ist sie?«

    Sir Lucius lehnte sich zur Seite und flüsterte Baron Dominik etwas zu. Dann trat der Ritter vom Tisch weg und kam auf Alexith zu. Er trug eine rote Uniform mit goldenen Riemen. Als er nur noch zwei Armlängen von Alexith entfernt war, blieb er auf dem blauen Teppich stehen. »Sie ist nicht hier, Bruder Alexith.« Sir Lucius' Stimme war ruhig. Sehr ruhig. Warum klingt er so traurig?

    »Worauf wartet Ihr noch, Kommandant?«, rief einer der Herren vom Tisch. »Beendet diesen Irrsinn endlich!«

    Sir Lucius wandte seinen Blick nicht von Alexith ab. Offenbar ignorierte er den Einwurf. »Ihr solltet zurück in Eure Gemächer gehen. Wir sprechen später.«

    Alexith schüttelte den Kopf. »Aber … wo ist sie?«

    »Bei der Göttin, Amador!«, brach es aus Baron Dominik heraus. »Sagt es ihm doch einfach!«

    Etwas schnürte Alexith die Kehle zu, als er diese Worte hörte. Er trat einen Schritt nach hinten. Nein, nein, nein! Dann sprang er auf Sir Lucius zu und packte den Ritter am Kragen seiner Uniform. »Wo ist sie?«, fragte er, auch wenn er die Worte kaum aussprechen konnte.

    Sir Lucius hob seinen Arm an und riss seinen Ellenbogen dann nach unten, um sich aus Alexiths Griff zu befreien. Uff! Bevor der Novize reagieren konnte, hatte der Kommandant schon seine Faust nach vorne schnellen lassen. Er traf Alexith in den Unterleib. Einen Moment lang blieb Alexith die Luft weg, und er taumelte zurück. Doch schwerwiegender als der Schlag waren die drei Worte, die Sir Lucius ihm hinterherwarf: »Sie ist tot!«

    Alexith riss die Augen auf. Er schüttelte den Kopf. Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Er trat auf den Teppichläufer zurück, ohne hinter sich zu blicken. »Das kann nicht sein!«, sagte er laut.

    »Kann nicht sein?« Es war Baron Dominik, der die Worte wiederholte. Er hatte sich nun ebenfalls vom Tisch entfernt und sich hinter Sir Lucius gestellt. »Wie viele Tote muss diese Grafschaft noch ertragen, ehe Ihr versteht, dass Ihr den Horizont als Euren Schatten tragt?« Die nächsten Worte spuckte er aus: »Ihr bringt den Tod!«

    »Das ist nicht wahr!« Alexith taumelte weiter zurück. Er schreckte auf, als die beiden Türen hinter ihm knarrten.

    Alexith drehte sich um und erblickte einen hochgewachsenen Mann, der zusammen mit Tristan den Raum betrat. Ser Leopold Libra folgte ihnen mit Abstand.

    Tristans Vater! Alexith hatte Graf Friedrich von Lima noch nie zu Gesicht bekommen, doch intuitiv nahm er sofort eine aufrechtere Haltung ein. Es bestand kein Zweifel, dass der hochgewachsene Mann der Herrscher Limas war. Er hatte einen kräftigen Körper, eine kantiges Gesicht und ein spitzes Kinn. Seine hohen Wangenknochen und der breite Mund mit den weichen Lippen sprachen noch von der Anmut, die er in seinen jüngeren Jahren gehabt haben musste. Graf Friedrichs Haare waren kurz geschoren und hatten mit der Zeit das Grau angenommen, das auch in den Augen des Herrschers lag. Er trug einen golddurchwirkten Mantel mit feinen Stickereien.

    Ein Knacken und Knarren von Stühlen ertönte, als Graf Friedrich die ersten Schritte in den Raum getan hatte. Doch diese Geräusche konnten nicht von der sonderbaren Ruhe ablenken, die mit ihm in den Thronsaal eingekehrt war. Niemand wagte es, auch nur einen Laut von sich zu geben. Wortlos trat Graf Friedrich mit Tristan an Alexith, Sir Lucius und Baron Dominik vorbei. Der junge Prinz schenkte seinem Freund ein kurzes, trauriges Lächeln.

    Ser Leopold dagegen blieb neben Alexith stehen. Mit seinen braunen Augen strahlte der Ritter Amygdalas wieder Kraft und Ruhe aus. Er wirkte deutlich bewusster als in den Erzruinen, wo ihn die fremden Magier kontrolliert hatten. Der Ritter legte Alexith eine Hand auf den Rücken, sagte aber nichts. Die Geste veranlasste Alexith aber dazu, sich wieder dem Geschehen im Saal zuzuwenden.

    Graf Friedrich ging um die ringförmige Tischformation herum, wo die Adligen ihre Häupter gebeugt hatten. Der Herrscher ließ sich auf seinem Thron nieder. Tristan stellte sich, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, daneben. »Lady Madeleine ist von uns gegangen«, hallte die Stimme des Grafen durch den Thronsaal. Seine Stimmkraft alleine machte deutlich, dass er alle Anwesenden ansprach. »Unsere Heiler haben alles versucht, doch sie sind gescheitert. Die königliche Botschafterin ist nun ein Teil des heiligen Reichs der Göttin selbst. Möge ihr Geist dort Frieden finden.«

    »Möge ihr Geist dort Frieden finden!«, wiederholten die anwesenden Adligen.

    Alexith blickte den Grafen an. Sein Unterleib zog sich zusammen. Nein, nein, nein …

    Der Brustkorb des Grafen hob sich, als er tief Luft holte, ehe er weitersprach: »Düstere Zeiten haben dieses Reich aufgesucht. Es ist an der Zeit, dass wir etwas dagegen unternehmen.«

    Alexith senkte den Kopf. Er starrte auf den blauen Teppichboden. Über die Fasern des Stoffes legten sich Erinnerungen. Er konnte noch sehr genau sehen, wie der Magier das Messer in Marlenes Unterleib gestoßen hatte. Er konnte noch sehr genau hören, wie sie voller Schmerzen geschrien hatte, als die Klinge in ihren Körper eingedrungen war. Ich war dir so nahe. Ich hätte dich retten müssen. Ich hätte … Alexith hob den Kopf wieder an, als er merkte, dass die Aufmerksamkeit des Thronsaals auf ihm lag. Unter den Blicken der Adligen fühlte er den Drang, zurückzuweichen, als wären sie ein Feuer, dem er zu nahe gekommen war. Sie wissen es auch. Sie wissen, dass ich sie retten hätte sollen. Ser Leopold stützte ihn nach wie vor am Rücken.

    »Er bringt den Tod mit sich, Euer Erlaucht!«, rief Baron Dominik.

    Als wäre es abgesprochen, fügte ein anderer Adliger hinzu: »Ich hörte sogar, dass er einen Seelenfresser beschworen hat, der durch unsere Wälder streift!«

    Graf Friedrich hob die Hand an. Sofortiges Schweigen.

    »Bruder Alexith!«, donnerte die Stimme des Grafen. »Prinz Tristan und Ser Leopold erzählten mir, dass Ihr gegenüber der gutgütigen Göttin Amygdala ein Schweigegelübde abgegeben hättet. Wie meine Ohren aber vernehmen konnten, habt Ihr Euch dazu entschieden, diesem Schweigen ein Ende zu setzen?«

    »Seinen Schwur hat er gebrochen!«, rief einer der Adligen. Sir Lucius stellte sich neben Alexith. »Euer Erlaucht, Bruder Alexith mag in seiner kleinen Rage gesprochen haben, doch wir kennen die Umstände und Bedingungen seines Schwurs nicht. Da sein Mentor nicht mehr am Leben ist, möchte ich an seiner Statt um Milde bitten. Der junge Mann hat ebenso sehr gelitten wie diese Grafschaft.«

    »Diesen Worten möchte ich zustimmen, Vater«, sagte Tristan.

    Danke … Alexith blickte Sir Lucius und dann Tristan an. Er musste schwer schlucken, als er den Blick des Grafen wahrnahm, der die Augen leicht zusammengekniffen hatte. Alexith konnte seine Beine zittern spüren, so lange dauerte es, ehe Graf Friedrich weitersprach:

    »Also gut. Ser Leopold, bitte entsendet einen Brief an Vater Rhanel. Als Oberhaupt der Kirche Amygdalas soll es seine Entscheidung sein, ob der Novize Konsequenzen für seine kleine Rage tragen soll.« Die grauen Augen des Herrschers waren nun starr auf Alexith gerichtet. »Dennoch sei klargestellt, dass das Volk Arunas nicht vor den Augen der Göttin zum Komplizen eines möglichen Schwurbrechers gemacht werden soll. Solange Ihr Euch im Königreich befindet, Bruder Alexith, werdet Ihr Euer Schweigen aufrechterhalten. Diese Entscheidung vermag vom Palast der Elemente oder der Kirche Amygdalas überstimmt werden. Nickt, wenn Ihr meine Worte verstanden habt.«

    Alexith blinzelte. Bei der Göttin. Er hat recht! Ich habe – »Nun?«, fragte der Graf.

    Alexith nickte heftig, auch wenn er dabei die Zähne zusammenbiss. Es war keine Absicht. Und was für eine Wahl habe ich schon? Er schnaubte leise. Und was für eine Rolle spielt dieser Schwur denn, wenn ich meine Freunde nicht retten kann?

    Graf Friedrich nickte ebenfalls. Der strenge Blick wich nun einem freundlicheren Gesichtsausdruck, der Alexith ein schweres Gewicht von den Schultern nahm. »Dann verschwenden wir keine weitere Zeit. Lucius, kläre uns über die Geschehnisse im Königreich auf!«

    »Euer Erlaucht!«, warf Baron Dominik ein. »Verzeiht mir die Unterbrechung, aber Ihr wollt diesen Novizen doch nicht an unserer Sitzung teilhaben lassen?«

    Graf Friedrich kratzte sich an der Nase. »Das ganze Schloss hat Euren Wunsch vernommen, den Novizen hinrichten zu lassen, Hochwohlgeboren. Lassen wir den jungen Mann wenigstens die Gründe dafür hören.«

    Was soll das heißen? Ihr habt doch nicht vor …?

    Als Baron Dominik daraufhin nichts erwiderte, verließ Sir Lucius Alexiths Seite und ging auf die Adligen zu. »Bevor ich darauf eingehe, welche Rolle Bruder Alexith in all dem Chaos spielen könnte, möchte ich alle Anwesenden auf den gleichen Stand der Dinge bringen.«

    Alexith atmete tief ein. Er konnte spüren, wie die Augen aller Anwesenden nun nicht mehr auf ihm lagen. Graf Friedrich hätte keine Milde gezeigt, wenn er vorhätte, mich hinzurichten. Es ist alles gut.

    »Vor einem Monat«, sagte Sir Lucius, »wurde Wasserwacht von unbekannten Banditen, teilweise sarakenischer Abstammung, zerstört. Es gibt nur wenige Überlebende. Alle Details lassen sich aus den Berichten des entlassenen Hauptmanns Arvesta entnehmen. Fakt ist zumindest, dass die Banditen nach ihrem Angriff wieder verschwanden und seitdem nie wiedergesehen wurden. Kein Aufklärer konnte auch nur eine einzige Spur von ihnen ausmachen. Es scheint sich um die Tat von sehr gut ausgebildeten Leuten mit außergewöhnlichen Kontakten gehandelt zu haben.« Er pausierte eine Sekunde. »Das bedeutet auch, dass jemand ihnen dabei geholfen haben muss.«

    Der Ritter ließ den letzten Satz in die Stille des Thronsaals fließen. Alexith konnte Sir Lucius nur von hinten sehen. Warum blickt er die Adligen so abwartend an?

    Sir Lucius sprach weiter: »Zeitgleich litten Lima und andere Städte der Grafschaft unter mehreren Sabotageakten. Ich rede hier nicht nur von dem Anschlag auf Prinz Tristan auf dem hiesigen Markt. Es kam auch zu Angriffen auf Bauernhöfe und Siedlungen nahe der Nördlichen Ader. Als wäre diese Zerstörung aber nicht genug, haben wir auch mit Desinformationen zu kämpfen. Bürger denunzieren sich gegenseitig und bringen jeden bei dem kleinsten Verdacht um, er könnte ein Magiebegabter sein. Andere berichten der Königlichen Legion und der Limischen Garde, dass neben Wasserwacht auch andere Städte im Königreich vernichtet worden wären – was ich nicht bestätigen kann.«

    Der Kommandant der königlichen Streitkräfte seufzte laut. »Meine Herren. Ihr habt selbst mitbekommen, dass die Nördliche Ader vor ein paar Wochen von der Garde abgeschottet wurde. Die Anweisung Seiner Erlaucht war eine Fälschung, genügte aber, um unser eigenes Militär zu blenden.« Er trat näher an den Tisch heran. Die Augen der Adligen lagen gebannt auf ihm. »Es ist bisher unklar, wie der Feind das alles bewerkstelligen konnte. Wir konnten bis heute keinen Attentäter, Banditen oder Saboteur lebend fassen. Wir können aber sicher sein, dass sich so ein Plan nicht alleine durchsetzen lässt.« Wieder pausierte er. »Das bedeutet, dass jemand ihnen dabei geholfen haben muss.« Alexith legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Als der Ritter die Formulierung wiederholte, zeichnete sich Unruhe in den Gesichtern mancher Adliger ab. Er verdächtigt jemanden im Raum!

    »Lady Madeleine, Repräsentantin und Botschafterin unseres Königs, befand sich bis zur letzten Nacht in der Gefangenschaft von Magiekundigen. Wir konnten sie befreien …« Sir Lucius senkte den Kopf. »… doch nicht retten.« Er blickte den versammelte Rat an. »Sie befand sich auf dem Weg nach Lima, und ihre Abreise war recht spontan. Und auch wenn die Angreifer Magier waren, töteten sie bei dieser Entführung dennoch bestens ausgebildete Legionäre. Eine solche Falle ist eine Meistertat, meine hohen Herren. Sie erscheint mir ohne entsprechende Rückendeckung unmöglich. Das bedeutet …« Dieses Mal ließ er den Satzanfang wirken und betrachtete dabei eindringlich jeden einzelnen Adligen am Tisch. »… dass jemand ihnen dabei geholfen haben muss.«

    Noch ehe der Satz zu Ende war, war Baron Dominik schon von seinem Sitz aufgesprungen. Er richtete seinen Zeigefinger auf den Kommandanten. »Eure Anschuldigungen sind unerhört, Sir Lucius!«

    Sir Lucius faltete die Hände. »Ich glaube nicht, dass meine Anschuldigungen nicht erhört wurden, Lord Dominik. Werft einen Blick nach links und rechts. Ich sehe keine Überraschung in den Gesichtern dieses Rates. Ganz im Gegenteil.«

    »Ihr beschuldigt den Rat des Hochverrats!«, schallte die Stimme des Barons durch den Saal.

    Alexith ging näher auf die Versammlung zu, um Sir Lucius nicht im Rücken zu stehen. Als er neben ihm stand, konnte er sehen, wie Sir Lucius sein Gesicht zu einem Schmunzeln verzog.

    Er schnaubte: »Ich zähle nur eins und eins zusammen, Euer Hochwohlgeboren.« Dann ging er zwei feste Schritte auf den Tisch zu. »Hätte ich die Absicht gehabt, die Anwesenden wegen etwas zu beschuldigen, hätte ich erwähnt, dass die Männer des Großbauern Henk dabei gesichtet wurden, wie sie die Weizenfelder anderer Bauern in Lima anzündeten, die ihm keine zusätzlichen Abgaben zahlen wollten. Ich hätte erwähnt, dass Baron Philipe von Armand keine Patrouillen auf exakt der Straße hatte, auf der Lady Madeleine entführt wurde. Ich hätte ebenso erwähnt, dass versprochene Lieferungen von Nahrungsmitteln und Rohstoffen niemals die Grafschaften Niamey und Hrodna erreicht haben. Sie wurden als vermisst gemeldet, haben die Baronie Eroh aber tatsächlich nie verlassen.« Sir Lucius trat einen weiteren Schritt nach vorne, dieses Mal direkt auf Baron Dominik zu. »Und ich hätte erwähnt, dass Euer Haus, Euer Hochwohlgeboren, deutliche Hinweise auf einen Seelenfresser ignoriert hat, der in den Wäldern Eurer Westküste gesichtet worden war.«

    Im Thronsaal war es totenstill. Die Adligen am Tisch hatten ihre Köpfe eingezogen. Nur Baron Dominik verharrte in seiner Haltung. Er starrte Sir Lucius mit zusammengekniffenen Augen an.

    »Meine Herren«, sagte Sir Lucius und hob dabei die Hände an, »Ihr werdet die Nachricht schon empfangen haben. Der König ist tot.« Er deutete nach rechts auf die geschlossenen und mit Vorhängen bedeckten Fenster. »Es herrscht Chaos dort draußen. Prinzessin Amélie-Isabelle bemüht sich, das Reich in diesen schweren Zeiten zusammenzuhalten. Doch sie hat es nicht einfach. Sie hat nicht nur ihren Vater verloren. Lady Madeleine, ihre Botschafterin, ist tot. Sir Jarvis van Laire ist tot. Graf Christoph von Seduna wird vermisst. Wie viele Dinge muss ich Euch noch aufzählen, um Euch vor Augen zu halten, dass jemand dieses Königreich zerstören will?«

    Alexith erstarrte, als sich Sir Lucius umdrehte und auf ihn zeigte. »Und wie groß auch Eure Wut über diesen jungen Mann sein mag: Auf die Politik in diesem Reich hat Bruder Alexith keinen Einfluss.« Sir Lucius schüttelte den Kopf. »Sie liegt ganz allein in Euren Händen, werter Rat von Lima.«

    Graf Friedrich hob daraufhin seine Hand. »Lucius … Ich verstehe, dass meine Grafschaft nicht auf diese Angriffe vorbereitet war. Das waren wir in der Tat nicht. Bei der Göttin, wir sind schon genug damit beschäftigt, die Ordnung unter dieser Dürre zu halten. Dennoch … Du deutest an, dass Bruder Alexith nichts mit all dem zu tun hat. Die Magiekundigen, die Lady Madeleine entführt haben, waren aber eindeutig hinter ihm her. Erkläre das.«

    Sir Lucius nickte. »Bruder Alexith –«

    Eine zweite Stimme unterbrach den Scharfrichter. Alexith schreckte auf und blickte über seine Schulter. Senyuva! Er hatte nicht einmal gehört, dass die Türen geöffnet worden waren.

    Senyuva trug ein langes, weißes Reisekleid. Barfüßig lief sie über den blauen Teppich und trat an Alexiths Seite.»Bruder Alexith wurde angegriffen, weil ihn Angehörige meines Volkes tot sehen wollen, Euer Erlaucht.«

    »Lassen wir nun jeden uneingeladen an dieser Sitzung teilhaben?«, polterte Baron Dominik, der sich wieder gesetzt hatte.

    Senyuva sah müde aus, auch wenn ihre grünen Augen volle Aufmerksamkeit ausstrahlten. Alexith wurde es warm, als die Yidhé seine Hand ergriff. Sie lächelte ihn kurz an, ehe sie ihren Blick auf den Grafen richtete.

    »Lady Senyuva wurde von mir persönlich eingeladen, an diesem Gespräch teilzunehmen, Lord Dominik«, sagte Graf Friedrich. An die Yidhé gewandt, fügte er hinzu: »Ich war mir nur nicht sicher, ob Ihr Euch kräftig genug dafür fühlen würdet.«

    Senyuva schenkte dem Grafen ein tiefes Nicken. »Habt Dank, Euer Erlaucht. Ich möchte Eure Gastfreundschaft nicht mit langatmigen Erklärungen strapazieren und deshalb gleich zu Eurer Frage kommen. Sir Lucius, Ihr erlaubt?«

    Sir Lucius streckte seine Hand einladend in Richtung der versammelten Adligen.

    Senyuva wandte sich den Ratsherren zu: »Das weiße Volk der Yidhé konnte deutliche Zeichen ausmachen, dass die abtrünnigen Shisma an Kräften gewinnen. Unsere Ratsherrin Ghandarva, das Element der Akaa, hatte Visionen, die eine sich anbahnende Invasion zeichnen. Sie sah auch, wie ein junger Mann die Führung dieser Armee der Dunkelheit übernahm: Derjenige, der nach einer uralten Prophezeiung die Große Pforte öffnen wird, um die Shisma ins Königreich zu leiten. Derjenige, den die Dunklen auch als Imperator bezeichnen.«

    Alexith hatte den Kopf gesenkt. Es war schwierig für ihn, den Ausführungen Senyuvas ganz zu folgen. Immer wieder flackerte Marlenes schmerzerfülltes Gesicht vor seinem inneren Auge auf.

    »Vor einigen Monden stellten wir eine seltsame, unkontrollierte Quelle der Magie fest, die ihren Ursprung an der Westküste Eures Reiches hatte. Ich selbst war es, die Bruder Alexith entdeckt hatte und den Verdacht hegte, dass er die Quelle dieser Energie war.«

    »Er ist ein Hexer?«, rief Baron Dominik in den Raum hinein.

    Alexiths Körper spannte sich an. Ich bin was? Alarmiert warf er einen Blick auf die Adligen, doch Graf Friedrich räusperte sich laut, noch ehe sich Unruhe im Thronsaal ausbreiten konnte.

    »Bruder Alexith verfügt über keine der himmlischen Kräfte Amygdalas, Euer Hochwohlgeboren«, sagte Senyuva. »Tatsächlich hat er sich eine magische Vergiftung zugezogen, als er mein Leben vor dem Seelenfresser rettete, der nahe Eurer Stadt gesichtet wurde.« Nach einem kurzen Schweigen, als würde sie sich den Tag wieder ins Gedächtnis rufen, fügte sie leiser an: »Magiebegabte können sich nicht mit Magie vergiften.«

    Graf Friedrich lehnte sich vor: »Wenn Bruder Alexith nicht diese magische Energiequelle war, die Ihr Yidhé in meinen Ländereien ausmachen konntet – zu wem gehörte sie dann?«

    Senyuva schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, Euer Erlaucht. Diese chaotische Macht ist entweder versiegt, oder sie hat sich sehr gut versteckt. Ich kann ihre Präsenz nicht mehr ausmachen.«

    »Vielleicht hattet Ihr den Seelenfresser gespürt?«, warf Tristan ein.

    Erneut schüttelte die Yidhé den Kopf. »Seelenfresser ernähren sich von Pranaa, doch sie bringen das magische Gefüge nicht aus dem Gleichgewicht.« Sie blickte Sir Lucius an. »Auch die Seelenkraft eines Behemoths hätte andere Impulse von sich gegeben.« Ihr Blick glitt über die anwesenden Adligen. »Verzeiht, hohe Herren von Lima, doch diese Magie war so einzigartig und verworren, dass mir kein Vergleich einfällt, der ihr auch nur annähernd gerecht würde.« Graf Friedrich brummte. »Auch wenn es mir missfällt, dass die Yidhé einen Novizen der Kirche Amygdalas ausspionieren, verstehe ich nun zumindest Eure Beweggründe. Doch es bleiben für mein Verständnis noch zwei Rätsel, ehrenwerte Senyuva. Erstens: Warum wurde Lady Madeleine entführt? Wie kann Euer Volk es wagen, Legionäre des Königreichs anzugreifen? Und zweitens: Warum haben Eure Brüder und Schwestern diesen Wahnsinn nicht beendet, als Euch der Irrtum bewusst wurde?«

    Alexith spürte, wie Senyuva seine Hand nun kräftiger umfasste. Da war ein leichtes Beben, das von ihrem Körper ausging. Er erwiderte den Druck von Senyuvas Hand. Ich bin bei dir. Hab keine Angst. Du hast mich ausspioniert. Aber du hattest keine schlechten Absichten.

    »Die Prophezeiung um die Öffnung der Großen Pforte spricht von dem Imperator der Shisma und seinen vier Wächtern, Euer Erlaucht. Es war mein Verdacht, dass Alexith der Prophezeite sein könnte. Damit lag auch die Vermutung nahe, dass Lady Madeleine seine Wächterin war.« Graf Friedrich erhob sich von seinem Thron und hielt den Kopf schief. »Ihr wollt damit sagen, dass Ihr diejenige seid, die den Tod unserer geliebten Botschafterin zu verantworten hat?«

    Dieses Mal konnte die Unruhe nicht aufgehalten werden. Die Adligen Limas tuschelten aufgeregt miteinander. Einige der Männer nickten zustimmend mit dem Kopf. Alexith stieg die Hitze ins Gesicht. Könnt ihr nicht einfach die Klappe halten und zuhören? Oder wollt ihr sie jetzt auch tot sehen? Dann fiel ihm Baron Dominik auf. Der Mann hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und die Hände über der Brust gefaltet. Er blickte Senyuva nicht einmal an. Warum ist er so ruhig?

    »Ich erstattete Ratsherrin Ghandarva Bericht, Euer Erlaucht«, sagte Senyuva so leise, dass ihre Worte fast untergingen. Ihre Stimme zitterte. Alexith hielt ihre Hand nun noch fester.

    »Ruhe!«, rief Graf Friedrich in den Raum hinein. Wenige Sekunden später war es wieder still. Mit einer Geste lud er die Yidhé ein, weiterzusprechen.

    »Ich erstattete Ratsherrin Ghandarva Bericht«, wiederholte Senyuva. »Doch der Rat war sich einig, dass wir weder Lady Madeleine noch Bruder Alexith einfach verurteilen könnten. Beide sollten ins Weiße Hochland eingeladen werden, um von den Lichtern der Akaa selbst gemustert zu werden.«

    Graf Friedrich rieb sich die Stirn und ließ sich auf seinen Thron fallen. »Und warum wurden wir dennoch angegriffen? Warum haben sich Sarakenen auf meinem Marktplatz in die Luft gejagt? Warum kostete uns Euer Verdacht so viel Blut und Leben?«

    Senyuva senkte den Kopf: »Es fällt mir schwer, diese Fragen zu beantworten, Euer Erlaucht, ohne Verrat an meinem eigenen Volk zu begehen.«

    »Die Yidhé töteten Frauen und Männer im Königreich!«, rief Baron Dominik. »Das macht sie nicht besser als die Hexen und Magier, die wir seit Jahrzehnten bekämpfen!« Der Adlige erhob sich von seinem Platz. Er ging auf Senyuva zu und machte drei Schritte vor ihr halt. »Ihr wisst, was wir mit Hexen anstellen?«

    »Ich …«, stammelte sie.

    Alexith trat vor Senyuva. Er hatte sie losgelassen und beide Fäuste geballt. Komm noch einen Schritt näher. Denk auch nur einen falschen Gedanken!

    »Das reicht!«, ordnete Graf Friedrich an. »Lord Dominik, setzt Euch wieder.«

    Der Baron rollte mit den Augen, drehte sich um und kehrte zu seinem Platz zurück. Senyuva atmete erleichtert auf, als der Baron den Tisch wieder erreicht hatte, um sich zu setzen. Eine Träne rollte ihre Wange herab.

    »Euer Erlaucht«, meldete sich Ser Leopold zu Wort. Der Ritter Amygdalas trat an Alexith und Senyuva vorbei, um sein Haupt vor dem Herrscher zu senken. »Was dieses Licht der Akaa nicht sagen kann, vermag ich zu erklären.«

    »Ihr habt mein Ohr, Ser Leopold«, sagte Graf Friedrich. »Sprecht!«

    Ser Leopold räusperte sich: »Das Weiße Hochland beherbergt eine Gruppe von Yidhé, die sich nicht der Ordnung des Rates in Sól unterworfen hat. Die Vadhávín. Sie leben isoliert und als unabhängiger Stamm in den Steppen der Gebirge des Hochlands.«

    »Und Ihr meint, diese Vadhávín sind für diese Verbrechen verantwortlich?«

    Ser Leopold nickte. »Bevor meine Männer und ich von der verführerischen Macht dieser Magier gefesselt wurden, hatten sie deutlich durchklingen lassen, dass sie sich nicht dafür interessierten, was der Rat der Yidhé sagen oder tun würde. Wenn ich Lady Senyuva richtig verstanden habe, so haben alle Yidhé diese magische Unruhe an der Westküste verspürt. Mir scheint, wir wurden von den Vadhávín angegriffen.«

    Graf Friedrich wiegte den Kopf hin und her. »Das ist natürlich eine Annahme, die ihre Gültigkeit haben könnte, Ser Leopold. Doch solange Lady Senyuva uns nicht die Namen derjenigen nennen möchte, die diese Angriffe zu verantworten haben, wird sie die Bürde der Schuld dafür tragen müssen.«

    »Auf den Scheiterhaufen mit ihr!«, forderte Baron Dominik.

    »Auf den Scheiterhaufen mit ihr!«, pflichteten ihm andere Adlige am Tisch bei.

    Ein Flehen schwang in Senyuvas Stimme mit: »Ich hatte gehofft, meine Ehrlichkeit würde Euch zeigen, dass ich keine schlechten Absichten verfolgt habe, Euer Erlaucht!« »Eure Ehrlichkeit hat keinen Wert für die Toten, die wir begraben mussten, solange sie nicht vollständig ist.« Graf Friedrich schüttelte den Kopf. »Solange Ihr uns nicht die wahren Mörder nennen könnt, haben wir keine andere Wahl, als Euch als Mörderin zu behandeln. Und das wiederum zwingt mich, dem Wunsch meines Rates zu folgen.« Alexith blinzelte. Was passiert hier gerade? Sind sie jetzt alle durchgedreht?

    »Euer Erlaucht?«, sagte Ser Leopold mit gerunzelter Stirn. »Ihr gedenkt nicht wirklich, eine Yidhé öffentlich zu verbrennen?«

    »Nein«, sagte Graf Friedrich, »natürlich nicht.«

    »Aber –«, schrie Baron Dominik.

    »Ich habe noch nicht zu Ende geredet!«, schnitt Graf Friedrich ihm das Wort ab. Seine Augen lagen ruhig auf Ser Leopold. »Es wird keine öffentliche Hinrichtung sein. Mein Volk hat genug gelitten und ist mehr als nur verwirrt. Wir werden den Bürgern nicht die Idee geben, dass die Yidhé der Feind sein könnten. Nicht, solange der Rat in Sól uns noch keine Erklärung für all die Geschehnisse gegeben hat.« Er blickte Senyuva an. »Was Euch anbelangt, so schenke ich Euch einen Tag, um darüber nachzudenken, ob Ihr wirklich für die Taten anderer hingerichtet werden wollt.«

    »Ich …« Senyuva presste die Lippen zusammen, als sich Graf Friedrich von seinem Thron erhob.

    »So hört mein Urteil. Im Namen –«

    »Nein«, sagte Sir Lucius.

    Alle Augen waren nun auf den Ritter gerichtet. Alexith öffnete den Mund, wusste aber nichts zu sagen, nichts zu denken. Die Bestimmtheit von Sir Lucius' Stimme hallte in seinen Ohren als Echo wider. Tristan hatte neben seinem Vater die Haltung verloren. Baron Dominik hatte sich mit großen Augen in seinem Stuhl aufgerichtet. Auch ihnen schienen die Worte zu fehlen.

    »Nein?«, fragte Graf Friedrich. Er verbarg nicht, das er über den Widerspruch in höchstem Maße erbost war.

    »Nein«, wiederholte Sir Lucius. Er legte ein schiefes Schmunzeln in sein Gesicht, das Alexith dazu brachte, sich mit Senyuva einen Schritt von dem Ritter zu entfernen. »Im Namen Ihrer Hoheit Amélie-Isabelle von Niamey, als Tochter von König Kell dem Siebten die amtierende Herrscherin des Königreich Arunas, verkünde ich hiermit, dass die Yidhé Senyuva dem Schutz der Königlichen Legion unterstellt und ihr freies Geleit ins Weiße Hochland gewährt wird. Sie wird aufgefordert, unverzüglich ihre Heimreise anzutreten. Die Königliche Legion, die Kirche Amygdalas und die Kronvasallen Arunas werden aufgefordert, diesen Weg ohne Widerstand zu ermöglichen.«

    Stille. Alexiths Augen hüpften zwischen Sir Lucius, Graf Friedrich und den Adligen hin und her.

    »Das ist …« Baron Dominik hatte sich erhoben. Er atmete laut ein, als er seine Fassung suchte. Dann brüllte er: »Das ist unerhört! Der Kommandant der königlichen Streitkräfte stellt sich vor eine Hexe!«

    Der Vorwurf brach die Stille. Die anderen Adligen erhoben jetzt ebenfalls ihre Stimmen. Sie schrien aber so wild durcheinander, dass Alexith kein Wort verstehen konnte. Sie springen gleich alle auf und bringen Sir Lucius persönlich um. Und dann uns. Wir müssen hier weg! Er blickte den Kommandanten an. Dieser blieb vor Alexith und Senyuva auf dem Teppichboden stehen. Kein Zittern. Kein Beben. Nichts. Wie kann er so ruhig bleiben?

    »Ruhe!«, brüllte Graf Friedrich und gewann damit wieder die Herrschaft über den Raum. »Lucius? Bist du des Wahnsinns? Du überschreitest deine Grenzen! Die Grafschaft Lima kann dieses Verhalten nicht akzeptieren! Ich kann dieses Verhalten nicht akzeptieren!«

    »Euer Erlaucht, Ihr habt gar keine andere Wahl, als meine Entscheidung zu akzeptieren.« Sir Lucius sagte für einen Moment nichts, sondern betrachtete nur die hochroten Gesichter der Adligen Limas. Dann verzog er sein Gesicht zu einer traurigen Grimasse. »Lady Madeleine gehörte dem Königshaus an. Sir Jarvis van Laire und dessen Männer gehörten zu meinen Truppen. Ich habe nicht weniger verloren, als Ihr und Eure Ratsmitglieder, Euer Erlaucht. Doch ich werde nicht zulassen, dass wir eine Yidhé hinrichten, die mit dem Respekt der Demut und der Wahrheit auf uns zugegangen ist. Fordert vom Palast der Elemente, meine Entscheidung zurückzuziehen. Lasst mich von meinem Amt entheben. Lasst mich von der Inquisition jagen. Tut, was Ihr wollt, Euer Erlaucht. Lady Senyuva ist keine Feindin dieses Reiches. Bruder Alexith ist kein Feind dieses Reiches. Ich bin kein Feind dieses Reiches.«

    Sir Lucius drehte dem Rat den Rücken zu und setzte sich in Bewegung. Seine grünen Augen lagen auf Alexith und Senyuva, als er sie passierte. »Ihr habt keine Freunde mehr in dieser Grafschaft. Wir gehen.«

    – 2 –

    1. Septuan 110

    Platz der Demut

    Sternenstadt Sól, Weißes Hochland

    Die Axt steckte im Herzen der weißen Statue.

    Philomena hatte sich die Hände vors Gesicht geworfen, als sie die Waffe aus dem Marmor ragen sah. Ihre Beine zitterten. Die Statue knackste laut, als das Gestein im Inneren bröckelte. Es sah aus, als hätten sich Tränen aus Säure in das Kunstwerk gefressen. Die Furchen zerstörten die Anmut dieser Statue, die zusammen mit acht anderen einen Ring auf dem Platz der Demut bildete. Philomena blickte aber nicht einfach nur in das Antlitz von irgendjemandem. Sie starrte in ihr eigenes Gesicht.

    Die Marmoraugen der Statue blickten Philomena an, als wäre sie bis eben noch gefoltert worden, als würde sie in einem stummen Schrei darum flehen, von der Qual dieser schwarzen Axt befreit zu werden.

    Philomena zuckte zusammen, als eine Stimme neben ihr erklang: »Das bedeutet Krieg!« Es musste sich um eine Schwerthand, einen Ritter der Yidhé, handeln. Der Mann hatte seine rechte Hand auf dem Knauf seines Schwertes platziert.

    »Seht euch nur die Runenzeichen an!«, rief eine Frau, die ein paar zögerliche Schritte auf die Statue zu machte. Mit beiden Händen hielt sie einen Stab vor ihrem Körper umklammert, als wollte sie sich damit vor der Axt schützen. »Jemand hat die Kräfte der Herrin verunreinigt!« Philomena legte sich die Hand aufs Herz und atmete einmal durch. Dann trat sie einen Schritt näher an die Statue heran.

    Sie hat recht. Diese Axt wurde mit Pranaa behandelt. Aber … wie?

    Das Klopfen ihres Herzens warnte sie davor, die Waffe anzufassen, doch bereits aus den drei Armlängen Abstand konnte sie deutlich die Runensymbole erkennen, die in den langen Griff eingearbeitet waren. Ich habe solche Zeichen noch nie gesehen. »Woher …« Sie schluckte. »… kommt diese Axt?«

    Philomena erntete Schweigen. Als sie den Blick über die Yidhé um sie herum schweifen ließ, sah sie nur Schulterzucken und gesenkte Blicke. Inzwischen hatte sich ein gutes Dutzend Schaulustiger auf dem Platz versammelt. In der Ferne waren weitere Yidhé zu erkennen, die sich langsam dem Ring der Statuen näherten.

    Philomena fand ihre Stimme wieder: »War jemand zugegen, als diese Waffe ihren Weg in mein Ebenbild fand?« Sie biss sich auf die Unterlippe. Niemand antwortete ihr.

    Ist das eine Warnung? Will mich jemand tot sehen? Sie blickte der gequälten Statue in die Augen. Für einen Moment sah sie das Gesicht ihrer Schwester vor sich. Haben sie meine Nachricht an Marlene gelesen? Kennen sie die Wahrheit?

    »Ehrenwertes Goldkind!«, hörte Philomena eine Stimme hinter sich. Dann packte sie jemand an den Oberarmen. Die Hände des Fremden waren grob und kalt, aber Philomena ließ sich ohne Widerstand von der Statue wegziehen. Als sie sich umdrehte, blickte sie in die grauen Augen eines Mannes, der mit einen blauen Plattenpanzer gehüllt war.

    Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als der Fremde schnell um sie herum ging und zwischen sie und die zerstörte Statue trat. Erst als Philomena den Mann an seiner Stimme erkannte, legte sich der Schauder wieder.

    »Verzeiht mir, Euch angefasst zu haben, ehrenwertes Goldkind«, sagte Ser Keeran. »Ich konnte nicht erlauben, Euch zu nahe an diese Falle treten zu lassen.«

    Auf diese Worte hin wichen die Schaulustigen um sie herum einen großen Schritt zurück.

    »Falle?«, fragte Philomena. »Ser Keeran, wisst Ihr, wer diese Axt in meinem Ebenbild hinterlassen hat?«

    Ser Keeran verharrte mit dem Rücken zu ihr. Er war einen halben Kopf größer als sie und wirkte durch seinen Plattenpanzer wie eine blaue Wand. Er versperrte damit perfekt ihre Sicht auf die Statue. Der Ritter schüttelte den Kopf, was seine Rüstung klappern ließ. »Mir ist nichts über diese Axt bekannt, ehrenwertes Goldkind. Ser Xango vermutete, ich könnte Euch hier finden. Er bittet darum, dass Ihr Euch zum Ratssaal begebt. Ich werde hier bleiben und dafür sorgen, dass niemand diesem Werkzeug des Horizonts zu nahe kommt.«

    »Habt Dank, Ser Keeran«, murmelte Philomena. Sie lehnte sich zur Seite, um einen letzten Blick auf die Statue zu werfen. Sie musste ihre Hände falten, um ein Zittern zu unterdrücken. Ihre eigenen Marmoraugen betrachteten sie weiterhin mit einem Ausdruck tiefster Qual. Er hat recht. Ich sollte nicht hier bleiben. Es ist nicht sicher hier. Philomena bedachte Ser Keeran mit einem unsicheren Lächeln, drehte sich auf der Stelle um und verließ den Platz. Im Ratssaal werde ich Antworten finden.

    Dass die Tore des Ratssaales verschlossen sein könnten, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie legte ihre Hand auf den goldgefassten, weißen Marmor der Torflügel. Der Zugang war noch nie verschlossen. Was geschieht dort drinnen? Sie legte ihr Ohr an. Dann senkte sie den Blick und seufzte. Nichts zu hören. Da es weder eine Klinke noch einen Knauf gab, die ihr beim Öffnen der Tore hätte helfen könnten, trat sie ein paar Schritte zurück. Ihre Augen wanderten den weißen Marmor nach oben bis zum freundlichen Blau des Himmels, wo einige Wolken auf Reisen waren. Hat sich der Rat versammelt? Und wenn er mich sehen möchte, warum bleiben die Tore dann geschlossen?

    Ideenlos zupft sie an ihren blonden Strähnen, ehe sie sich ein Stück abseits auf den Boden setzte.

    Drei Stunden lang verharrte sie im Schneidersitz vor dem Gebäude. Kein Yidhé hatte sich vor der Ratshalle gezeigt. Die Stadt war so ruhig, als wäre sie ausgestorben. Sie müssen alle die Ankunft dieser Axt gespürt haben. Aber warum hat mich niemand geweckt? Warum hat es mir niemand gesagt?

    Ein kühler Wind spielte mit ihren Haaren, als suchte er einen Weg zu ihrem Herzen, das noch unruhig vor sich hin trommelte. Als die Tore vor ihr plötzlich knarrten und sich einen Spalt breit öffneten, hob Philomena den Kopf. Ein Mann verließ das Gebäude. Es war Ser Rafail.

    Die Schwerthand kam mit gesenktem Kopf auf Philomena zu. »Sie sind nun bereit, Euch zu sehen, ehrenwertes Goldkind.« Er blickte sie nicht an.

    Mehr hast du mir nicht zu sagen? Philomenas Unterleib zog sich zusammen. Ser Rafail ließ sie einfach sitzen und ging davon. Ich habe ihn noch nie so gesehen. Was ist nur geschehen? Dann erhob sie sich und betrat die Halle.

    Man hätte meinen können, Ser Rafail hatte sich mit der Stimmung im Ratssaal angesteckt. Philomena näherte sich den versammelten Räten. Unkoordinierte Gesten, schnelle Worte – ihre Körpersprache verriet ihre innere Unruhe. Sie sind alle hier. Wie konnten sie sich so schnell versammeln? Philomena lief über den blauen Samtteppich, der heute den Marmorboden schmückte. Sie blieb stehen und rieb sich die Schläfe. Sind das Risse? Doch bei genauem Hinsehen erkannte sie, dass es nur rote Fäden waren, die durch das Blau des Teppichs gezogen waren. Sie blickte wieder auf, als das Stimmengewirr um sie herum verstummte.

    Eine Künstlerin grüßte Philomena mit einem Nicken und verzog dabei ihr Gesicht zu einer traurigen Grimasse. Die Magierin neben ihr schloss die Augen. Ihr Brustkorb ging auf und ab, als sie einen tiefen Atemzug nahm. So viele Emotionen. Ihr macht alle den Anschein, als wäre jemand gestorben. Philomena richtete ihre Augen auf die Plattform. Ihr Bauch zog sich zusammen, als sie den Blick von Ghandarva erhaschte, die aufrecht auf ihrem Thron saß.

    Ser Xango erhob sich von seinem Sitz und kam Philomena entgegen. Er trug einen blauen Mantel mit goldenen Verzierungen. Die schweren Schritte seiner Stiefel hallten durch den Saal. Er neigte sein Haupt, die Hand auf der Brust, als er vor Philomena zum Stehen kam. »Amygdalas Segen, Philomena!«

    »Möge die Göttin Eure Pfade behüten, Ser Xango!« Sie wollte sich zu einem höflichen Lächeln zwingen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Die Spannung im Saal schien das zu verhindern. Jetzt weiß ich, warum Rafail so schwermütig war. Sie blickte an dem Ritter vorbei. Wenigstens haben die Räte aufgehört zu tuscheln. Mit dem Blick auf Ser Xangos freundliche Augen fragte sie: »Was ist geschehen?«

    Ser Xango blickte über seine Schulter zu Ghandarva, dann zurück zu Philomena. Er presste seine Lippen zusammen, als müsste er zuerst über die Wahl seiner Worte nachdenken. »Es gab einen Angriff auf unsere gutgütige Ghandarva. Die Axt, die in deinem Kunstwerk steckt … sie hätte um eine Haar unsere geliebte Ratsherrin erwischt.«

    Philomena schlug die Hände vors Gesicht. »Geht es ihr gut?«

    Ser Xango nickte, schüttelte dann aber den Kopf. Er seufzte: »Die Axt hat ihr Ziel verfehlt. Dennoch hatten wir mehr Glück als Schutz, fürchte ich.« Er warf einen weiteren Blick nach hinten, lud Philomena dann aber mit einer Geste ein, ihm ein paar Schritte zurück zum Eingang zu folgen. Er sprach mit gedämpfter Stimme weiter: »Diese Waffe ist ein Artefakt der Shisma. Sie wurde geschmiedet, um unser Volk zu vernichten. Ich bin ihr heute nicht zum ersten Mal begegnet.«

    Philomena riss die Augen auf. Eine Hitze stieg ihr in den Kopf. »Wer hat uns attackiert?«

    Ser Xango hob die Schultern an. »Das ist unklar. Ghandarva hatte ein paar Künstler ins Königreich entsandt, um sich die Hände Amygdalas genauer anzusehen.« Sein Blick schweifte durch den Saal, während er sich die Stirn kratzte. »Die Berichte besagen, dass sie auf ihrem Rückweg angegriffen wurden und ein Portal zur Flucht nutzen mussten. Die Axt wurde mit einem wuchtigen Schwung durch die Sphären geschleudert. Es war ein Zufall, dass sich das Portal gerade dort geöffnet hatte, wo Ghandarva stand.«

    Philomena legte den Kopf schief. »Die Waffe durchdrang das Portal ganz allein?« Sie schüttelte mehrmals den Kopf. »Ich dachte immer, dass die Sphären führungslose Objekte blockieren würden?«

    Erneut hob Ser Xango die Schultern an. »Wie ich schon sagte: Dieses dunkle Element der Abtrünnigen wurde erschaffen, um uns ein Ende zu bereiten, mein Goldkind. Es verwundert mich nicht, dass die Magie der Waffe kräftig genug war, die Blockaden der Sphären zu durchbrechen.« »Sind die Künstler am Leben?«, fragte Philomena. »Konnten sie uns sagen, wer die Angreifer waren?«

    Ser Xango atmete tief ein: »Ghandarva sagte mir, dass es nur ein einziger Künstler war, der das Portal durchschritten hat, ehe dieses Instrument des Bösen folgen konnte. Er konnte ihr noch Bericht erstatten, ehe er kraftlos zusammenbrach.«

    »Er ist tot?«, hakte Philomena nach. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

    Ser Xango nickte. »Er wurde bei seinem Fluchtversuch vergiftet. Zumindest vermuten wir das.«

    »Wer war es? Wer hat dies zu verantworten?«

    Ser Xango biss sich auf die Unterlippe, ehe er antwortete. »Der Künstler berichtete, dass es sich um Legionäre des Königreichs handelte, die unsere Brüder und Schwestern auf offener Straße angegriffen haben. Angeblich habe der Palast der Elemente beschlossen, seine Jagd auf Magier auf die reinen Blüten der Yidhé auszudehnen. Was ich nicht glauben kann. Noch weniger will ich glauben, dass der Angriff von der königlichen Botschafterin, Lady Madeleine, befohlen wurde.«

    Philomena stockte kurz und fiel einen halben Schritt zurück. »Lady Madeleine? Das ist Unsinn!« Sie würde keiner Menschenseele etwas antun!

    Philomena schaute Ser Xango aufmerksam an. War da ein Funkeln in seinen Augen? Der Ritter nickte. »Auch mich plagen Zweifel, ob ich diesen Worten Glauben schenken kann. Doch es erreichte uns ein zweiter Bericht von Ser Rafail, der ähnliche Feindseligkeiten durch die Botschafterin beschreibt.«

    »Ser Rafail war an dem Kampf beteiligt?« Philomena musterte jetzt sehr genau die Mimik des Ritters. Was verrätst du mir nicht? Warum sprichst du nur so vage über diese Berichte? Sie biss die Zähne zusammen, um ein weiteres Kopfschütteln zu unterdrücken. Diese Berichte sind falsch! Marlene würde niemals einen solchen Angriff befehlen! Ausgeschlossen!

    »Ser Rafail war nicht mit den Künstlern unterwegs, wurde aber wohl selbst angegriffen.« Ser Xango brummte. »Auch wenn es mich überrascht hat, dass Ser Rafail die Grenzen überhaupt ohne Ankündigung überschritten hat. Ghandarva kann dir mehr darüber berichten.«

    Philomena nickte. Das mag alles sein. Aber was hat Ser Rafail gesagt? Sie behielt die Frage für sich. »Warum waren die Tore zum Ratssaal verschlossen?«, fragte sie stattdessen.

    Ser Xango drehte sich zur Seite und zeigte auf die Versammlung: »Ghandarva hatte die Bitte ausgesprochen, die Räte in Ruhe über die Angelegenheit informieren zu dürfen, um schnelle Entscheidungen treffen zu können.«

    Schnelle Entscheidungen? Philomena ließ ihren Blick über die Magier, Ritter und Künstler schweifen. »Ich kann ihre Anspannung in meinen Knochen spüren. Dieser Angriff wird nicht ohne Antwort bleiben, oder?« Sie betrachtete wieder den Ritter der Akaa. »Bitte sagt mir, dass es keinen Krieg geben wird.«

    Ser Xango rümpfte die Nase. »Ich werde dieses Wort nicht in den Mund nehmen, solange ich nicht wirklich weiß, was passiert ist. Ich habe gute Kontakte im Königreich, von denen wir mehr erfahren werden. Ich habe Hoffnung, doch es wäre naiv, mich nur auf sie zu verlassen. Sollten die Menschen uns wirklich angreifen wollen, müssen wir darauf vorbereitet sein.«

    Philomena blickte den blauen Samtteppich mit den roten Fäden zu ihren Füßen an. »Ja, das verstehe ich.« »Entschuldige mich nun, Philomena.«

    Philomena blickte Ser Xango kurz hinterher, ehe sie sich wieder der Versammlung zuwandte. Ghandarva hatte sich von ihrem Thron erhoben und stand nun an einem goldenen Tisch. Philomena ging auf sie zu. Die Ratsherrin hatte eine Blässe im Gesicht, die den silbernen Teint ihrer restlichen Haut grau wie Stein malte. Ihre Augen studierten das Tuch, das auf der Tischplatte aufgespannt war. Mit weißen Fäden waren dort die Umrisse des Hochlands und die des Königreiches Aruna aufgestickt.

    »Es beruhigt mein Herz, dass du wohlauf bist«, sagte Philomena. Sie zwang sich zu einem Lächeln.

    Ghandarva starrte die Karte an. »Jede Sekunde, die vergeht, mein Liebes, ist eine Sekunde zu lange, in der unsere Feinde nach unserem Leben trachten. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass sie ihre Waffen bis in unser reines Hochland bringen würden. Und doch fließen die Farben ihrer Grausamkeit wie Flüsse durch die Steppe.«

    Warum ist sie so abwesend? Mit ihren Blicken richtete sie diese Frage an die anderen Räte um den Tisch herum. Diese wichen ihren Augen aus.

    »Ser Rafail hatte unser heiliges Land verlassen und das Königreich bereist«, sagte Ghandarva. Ihre Stimme klang wie ein Hauch in einer Winternacht. »Weißt du etwas darüber?«

    Philomena stützte sich am Tischrand ab. »Ser Rafail war auf meinen Wunsch hin bei den Menschen von Aruna, Lady Ghandarva.« Sie schürzte die Lippen. Es ist besser, wenn ich sie förmlich anspreche. Sie ist nicht wirklich hier.

    Ghandarva umklammerte ihren Leib mit beiden Armen. »Und welchen Dienst sollte die Schwerthand für dich im Königreich erbringen, Goldkind?«

    Einer der Räte, ein Ritter, unterbrach ihr Gespräch, ehe Philomena auch nur über eine Antwort nachdenken konnte. »Ja, ehrenwertes Goldkind: Was hatte Ser Rafail bei den Menschen zu suchen?«

    Müssten sie das nicht schon wissen? Hat Rafail ihnen nicht davon berichtet? Philomenas Augen huschten über die Fäden der Karte. Was hat er ihnen erzählt? Ihre Fingerkuppen pochten. »Er …« Sie biss die Zähne zusammen. Sie musste sich nicht umblicken, um zu wissen, dass die Aufmerksamkeit aller Räte ihren Worten galt. Mutter Amygdala, verzeih mir.

    Mit dem Blick auf die Karte sagte sie: »Er sollte mir einen Beweis liefern, dass der Novize Alexith wirklich eine Gefahr für unser Volk darstellt.« Dann hielt sie die Luft an, als könnte sie damit dieser Lüge Platz schaffen. Ich kann ihnen nicht die Wahrheit sagen. Wie würden sie reagieren, wenn sie wüssten, dass ich meine Schwester vor ihnen warnen wollte?

    Der Ritter verschränkte die Arme. »Vertraut Ihr nicht mehr dem Wissen, das unsere Aufklärer in diesen Ratssaal bringen, ehrenwertes Goldkind?« Er hatte seine Stimme erhoben, um den Vorwurf zu schärfen.

    »Doch, aber …«, murmelte Philomena. Sie blinzelte und blickte auf, als Ghandarva ihre Hand auf ihre legte.

    »Es ist in Ordnung, Liebes«, sagte die Ratsherrin mit einem angespannten Lächeln. »Deine Träume scheinen dich zu verwirren.«

    »Doch warum würde Ser Rafail unser Weißes Hochland verlassen, ohne den Rat davon zu informieren?« Der Ritter stemmte die Hände in die Hüften. »Hattet Ihr der Schwerthand Schweigen auferlegt, ehrenwertes Goldkind?« Ghandarva tätschelte ihre Hand und kicherte. »Man sollte meinen, alle Yidhé würden das Gespür in den Augen tragen, warum Ser Rafail diesen Dienst für unsere geliebte Philomena vollführen wollte, ohne mit jemandem darüber zu reden!«

    Der Ritter blinzelte.

    »Ser Rafail ersucht meinen Blick, ehrenwerter Rat«, sagte Philomena. Sie lächelte den Ritter schief an. Für die Yidhé war es ungewöhnlich, über solche Dinge zu

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