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Mittendrin und nirgendwo: Benefiz-Anthologie zugunsten des Vereins Straßenkinder e. V.
Mittendrin und nirgendwo: Benefiz-Anthologie zugunsten des Vereins Straßenkinder e. V.
Mittendrin und nirgendwo: Benefiz-Anthologie zugunsten des Vereins Straßenkinder e. V.
eBook312 Seiten4 Stunden

Mittendrin und nirgendwo: Benefiz-Anthologie zugunsten des Vereins Straßenkinder e. V.

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Über dieses E-Book

Sieben Geschichten von acht Autoren über Kinder, die mittendrin leben, doch nirgendwo zuhause sind. Manche sind fantastisch, andere erschreckend real, eine spielt in der Vergangenheit und manche muten wie ein Märchen an. Es geht darum wegzugehen, anzukommen, sich bekannten und unbekannten Gefahren zu stellen, Mut zu beweisen und neue Chancen zu ergreifen. Doch allen Geschichten ist eines gemeinsam: Das Licht am Horizont nach einer finsteren Nacht.

Mitwirkende Autoren: Sandra Andrea Huber, Eve Flavian und Neela Faye, Julia Bohndorf, Tanja Meurer, Daniel Schiller, Juliane Seidel, Swantje Berndt

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum1. Nov. 2019
ISBN9783748719366
Mittendrin und nirgendwo: Benefiz-Anthologie zugunsten des Vereins Straßenkinder e. V.

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    Buchvorschau

    Mittendrin und nirgendwo - Swantje Berndt

    1. Vorwort

    Ein sauberes Bett und eine warme Mahlzeit.

    Simple Dinge.

    Die wenigstens von uns nehmen sie bewusst wahr, weil wir davon ausgehen, jederzeit darüber verfügen zu können.

    Jeder, der schon eine Nacht hungrig in Kälte und Regen verbracht hat, sieht das jedoch anders.

    Was für Erwachsene eine derbe Herausforderung darstellt, ist für Kinder und Jugendliche eine maßlose Überforderung. Spätestens wenn es Winter wird, beginnt aus dem oft unfreiwillig gewählten Abenteuer ein Albtraum zu werden.

    Was sich anfangs noch wie Freiheit anfühlte, wandelt sich schleichend oder abrupt zu einem Gefühl des Verlorenseins.

    Wenn der Rückweg in die Familie nicht existiert, weil die Verhältnisse dort unerträglich sind, bleibt vielen nur das Ausharren auf der Straße übrig. Inklusive sämtlicher Gefahren, die sie bereithält.

    Schlagworte wie Drogenmissbrauch und Prostitution sagen sich leicht daher, wenn man sie nur von außen betrachten darf. Ein kurzes Darübernachdenken, ein mitleidiges Seufzen oder gar verständnisloses Kopfschütteln und der Alltag mit geheizten Räumen sowie vollen Kühlschränken geht weiter.

    Eine alte Weisheit besagt, dass man erst über einen anderen Menschen urteilen darf, wenn man eine Zeitlang in dessen Schuhen gelaufen ist.

    Ich für meinen Teil reiße mich nicht um die Erfahrung, als Kind vor dem eigenen Elternhaus fliehen zu müssen, und ich maße mir schon gar kein Urteil darüber an, warum Kinder und Jugendliche auf der Straße das tun, was sie für überlebenswichtig halten. Aber ich bin dankbar, dass es Organisationen gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, sich um diese Kinder zu kümmern. Eine Aufgabe, die sich im Prinzip jedem von uns stellt, insofern wir uns als ein Teil der Gesellschaft verstehen. In einer echten Gemeinschaft wird niemand fallengelassen. Hier unterscheidet sich die Theorie eklatant von der Praxis egoistischen Nutzenmaximierens.

    Die vorherrschende Meinung, wenn sich jeder um sich selbst kümmert, ist jedem geholfen, ist und bleibt genau das: eine Meinung. Was dem einen leichtfällt, ist für den anderen unmöglich. Für Kinder trifft dies in ganz besonderer Weise zu.

    Straßenkinder e.V. versucht mit viel Mühe und Engagement diese Lücke zu schließen, die unter anderem auch der Staat hinterlassen hat. Nicht nur mit Unterkünften und warmen Mahlzeiten, auch mit Bildungs- und Freizeitangeboten, persönlichen Gesprächen, Präventionsarbeit und organisatorischer Hilfe jeder Art.

    Ein Ersatz für eine funktionierende Familie?

    Auf jeden Fall eine liebevolle und verantwortungsbewusste Alternative, die dort auffängt, wo der Großteil der Gesellschaft hilflos mit den Schultern zuckt.

    Als ich von einem guten Bekannten gebeten wurde, zu Gunsten dieses Vereins eine Kurzgeschichtensammlung herauszubringen, fiel mir die Zusage daher spielend leicht.

    Zusammen mit sechs Kolleginnen und einem Kollegen setzte ich mich an die Arbeit und es entstanden sieben sehr unterschiedliche Geschichten zum Thema »Mittendrin und nirgendwo«.

    Im Namen meiner Kollegen wünsche ich Ihnen, werter Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre und bitte Sie, dem Verein Straßenkinder e.V. auch weiterhin Ihr Augenmerk zu schenken oder ihn sogar durch Spenden zu unterstützten.

    Die Homepage finden Sie unter strassenkinder-ev.de

    Herzliche Grüße

    Swantje Berndt

    2. Überblick

    Die rote Feder

    Sandra Andrea Huber

    Geld und ein trockener Schlafplatz  ̶̶  das ist, was für Cash zählt. Träume füllen weder den Magen, noch bringen sie Bares in die Kasse, daher sind sie fehl am Platz. So fehl und überflüssig, wie er und die anderen Straßenkinder Berlins es sind. An einem Tag wie jedem anderen entfacht eine mysteriöse Begegnung einen Funken, der die Macht hat, nicht nur Cash´ Zukunft zum Positiven zu verändern. Denn nicht immer kommt Feenstaub von oben; manchmal wohnt er auch im Herzen eines Jungen …

    ~*~

    Das Märchen vom Spiegelmeister

    Swantje Berndt

    Eben noch saß Paul vor einem U-Bahneingang und ließ sich vom Schneeregen durchweichen, als er sich plötzlich in einer staubigen Werkstatt, umgeben von mannshohen Spiegeln, wiederfindet.

    Der alte Ephraim stellt sich als ihr Meister vor und bietet Paul an, bei ihm in die Lehre zu gehen.

    Trotz seiner Zweifel lässt sich Paul darauf ein und erlebt ein Abenteuer jenseits von Traum und Realität.

    ~*~

    Der Junge mit der Gitarre

    Eve Flavian und Neela Faye

    Schon seit einigen Wochen schmachtet Pascal den jungen Straßenmusiker David vor seinem Lieblings-Coffeeshop an. Endlich traut er sich, seinen Schwarm anzusprechen, allerdings reagiert dieser zunächst eher abweisend,

    wenngleich er nicht gänzlich unempfänglich für die ungewohnte Aufmerksamkeit ist.

    Als Pascal David eines abends schwerverletzt unter einer Brücke findet, zögert er nicht. Aber er weiß, dass der Musiker mehr als medizinische Hilfe braucht.

    Doch wird er sie annehmen?

    ~*~

    Schachtelheim

    Julia Bohndorf

    Das Königreich Wanzreh wird von Armut und Hunger geplagt und besonders die Kinder leiden darunter. Riel ist eines von ihnen und der Fund eines Apfels sorgt für eine Hetzjagd durch kalten Regen sowie dunkle Gassen. Der Verlust seiner Beute auf der Flucht ist jedoch nicht das Ende, sondern der Weg in die Arme einer fremden Person und zu einem wahrhaft magischen Gegenstand.

    ~*~

    Warte, warte nur ein Weilchen

    Tanja Meurer

    Wie wahnsinnig können Menschen sein?

    Diese Frage stellt sich Anni Beckmann, als im letzten Kriegssommer 1918 eine entsetzliche Mordserie an Kindern ihren Anfang nimmt. Bald rücken die Ereignisse in den Hintergrund, als ihre Eltern zwei Kriegsveteranen als Untermieter aufnehmen. Einer der beiden Landser - Heinrich Wolff - ist Anni vom ersten Moment an unheimlich, obwohl er aus ihrer Nachbarschaft stammt und ein Freund der Familie ist. Der entstellte Mann verströmt den Hauch von etwas Tierhaftem. Erst als Annis Vater unter Mordverdacht an den Kindern verhaftet wird, ist sie gezwungen, sich näher mit Wolff, der ihr seine Hilfe anbietet, zu beschäftigen.

    ~*~

    Lebensmut

    Daniel Schiller

    Jens lebt auf der Straße. Eines Tages schlägt das Schicksal zu und er verliert seinen besten Freund. Aufgerüttelt durch dieses Ereignis stellt er sein bisheriges Leben in Frage. Als er schon aufgeben möchte, findet er neue Hoffnung.

    ~*~

    Lichtblick

    Juliane Seidel

    Eine rote Höhle, ein schwarzer See und eine geisterhafte Stimme, die nach ihm ruft: Finns Dasein gleicht einer Gefangenschaft, ist trist und ohne Abwechslung. Erst als seine Erinnerungen Stück um Stück zurückkehren und einen Teil der Höhle zum Einsturz bringen, öffnet sich ein Lichtblick am Horizont. Doch den Sprung ins Ungewisse zu wagen und herauszufinden, was mit ihm passiert ist, stellt Finn vor eine Herausforderung, der er sich zunächst nicht gewachsen fühlt.

    ~*~

    3. Die rote Feder

    (Sandra A. Huber)

    »Hey Alter, hast du dir etwa in die Hose gepisst?«

    Natter kriegt sich vor Lachen kaum noch ein. Die neongrüne Strähne, das letzte bisschen Haar auf seinem kahlgeschorenen Kopf, baumelt vor seinem Gesicht wie eine Schlange und macht seinem Spitznamen alle Ehre. Sein Hund Ringel - zusammen das Dreamteam Ringelnatter - hebt das Bein zum Hals und versucht seine Flöhe aufzuscheuchen. Natürlich heißt Natter nicht wirklich Natter. Unsere echten Namen lassen wir zurück; sie passen nicht in dieses Leben auf der Straße. Trotzdem weiß ich, dass Natter, ehe seine Mutter ihn und Ringel rausgeworfen hat, weil sie kein Geld für drei Mäuler hatte oder ausgeben wollte, Frederik hieß. Weil er es mir verraten hat. Weil wir Freunde sind.

    Mein Name war André.

    Heute bin ich Cash. Weil ich fast immer das meiste Geld auftreibe.

    Ich stemme mich vom Boden in eine sitzende Position und wische mir beiläufig Spucke aus dem Mundwinkel. Meine Glieder fühlen sich steif an, regelrecht tiefgekühlt. Wenn man lediglich den freien Himmel über und ein paar zusammengeknüllte Kleidungsstücke unter sich hat, ist das einfach so. So, wie man aufs Klo gehen und sterben muss; eventuell sogar gleichzeitig.

    Die flüchtige Frage, ob ich mich irgendwann daran gewöhnen werde, an den ranzigen Geschmack in meinem Mund, und die Erkenntnis, dass gerade mal Herbstanfang ist, ertränke ich in dem letzten Rest Bier. Er schmeckt schal und fad; verträgt sich also gut mit meinem Mundgeruch. Ehe ich die Brühe herunterschlucke, nutze ich sie dann doch lieber zum Gurgeln, spucke sie auf den nackten Asphalt neben mich und begutachte abermals meinen Schritt. »Verdammt, bei der Kälte frieren mir noch die Eier ab! Warst du das?!«

    »Ob ich dich angepisst hab?«

    »Ob du mir Bier in den Schritt geschüttet hast, du Pisser!«

    »Selber Pisser!«

    Ich ziehe eine Grimasse; Natter erwidert sie. Kurz bin ich versucht mich nach unten zu beugen; habe ich mich vielleicht doch angepisst? Nein, es ist Bier. Selbst wenn es nicht Bier ist, ist es Bier. Wie ein Iltis stinke ich trotzdem. Im Großen bin ich hart im Nehmen; für den Moment kann ich mich allerdings selbst nicht mehr riechen.

    »Ich brauch ´ne Dusche«, sage ich und stehe auf. »Kommst du mit?«

    Natter streckt die Beine durch und krault Ringel hinter dem Ohr. »Nö, lass mal.«

    »Dann eben nicht.« Ich klaube mein Zeug zusammen, womit ein lädierter Armee-Rucksack und eine Plastiktüte mit dreckiger Wäsche gemeint sind. »Um zwei am Alex?«

    »Wahrscheinlich.« Sein Wahrscheinlich ist lässiger und unverbindlicher als ein Ja, meint jedoch das Gleiche; so gut kenne ich ihn inzwischen.

    Ich nicke. »Man sieht sich.«

    »Bring mir ein Bier mit!«, ruft Natter mir noch hinterher; ich zeige ihm freundlich den Stinkefinger und verschwinde um die nächste Ecke.

    Wir sind nun mal da, denke ich, während ich gegen den bunten Strom Passanten anlaufe, hier und da anecke, es genieße und gleichsam hasse. Wir können uns nicht einfach in Luft auflösen oder unsichtbar machen, auch wenn ihr euch dann besser fühlen würdet, denke ich. Manchmal finde ich die Vorstellung allerdings gar nicht so übel. Luft sein; frei sein; keine Sorgen haben.

    Nach einer notdürftigen Wäsche in einem öffentlichen Klo, die Tüte vollgestopft mit feuchten Klamotten, treibt mich der Hunger an eine belebte Straße. Zeit den nicht vorhandenen Geldbeutel aufzufüllen. Ich hoffe, dass es nicht allzu lange dauert, bis ich genug für einen Burger und eine Coke zusammenhabe; mein Magen hängt ziemlich durch. Schmächtig sein ist von Vorteil, wenn man schnell abhauen muss, und schlecht, weil man nicht viel auf den Rippen hat, von dem man zehren kann. Wenn die Einnahmen üppig ausfallen, leiste ich mir vielleicht eine Tube Zahnpasta, überlege ich, nachdem die ersten Cent-Stücke in meiner geköpften Dose gelandet und mehrere Passanten mit Starbucks-Bechern und Smartphones in den Händen an mir vorbeigelaufen sind. Aber nur vielleicht. Wahrscheinlich gewinnt doch wieder das Bier. Oder die gesüßte Kondensmilch, die hält den Kreislauf aufrecht. Und der Zuschuss zum Pott. Samy schulde ich auch noch eine Dose Bier. Dafür schuldet Natter mir noch drei Kippen, fällt mir ein und das malt mir ein Grinsen auf die Lippen.

    »Hast du dich an einen Witz erinnert?«

    Ich hebe den Kopf und begegne dem Gesicht eines langen, dunkelhaarigen Typen, schätzungsweise um die dreißig. Er ist ähnlich schmal wie ich, wirkt jedoch drahtiger und genährter.

    »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«

    »Ich war einfach nur neugierig. Das ist nicht verboten, oder?«

    Ich zucke mit den Achseln, schaue die Straße entlang und warte darauf, dass der Typ weitergeht - was er nicht tut. Stattdessen setzt er sich neben mich auf den Boden, als wäre nichts dabei.

    »Was soll das werden, wenn´s fertig ist?« Ich ziehe meinen Rucksack näher zu mir und mustere den Kerl mit Skepsis und Argwohn. Ein Polizist? Einer vom Jugendamt? Ein Streetworker? Ich kann ihn nicht einordnen.

    »Ich wollte mich nur kurz ausruhen.«

    »Is’ klar«, äffe ich. »Such dir was Eigenes. Da hinten steht ´ne Bank, da machste dir deine hübsche Hose auch garantiert nicht dreckig.«

    »Hosen kann man waschen oder gegen eine neue tauschen.«

    »Ach nee.«

    »Leben auch.«

    Doch sowas wie ein Streetworker. »Verpiss dich einfach und erzähl jemand anderem von deinen Pseudoweisheiten, wie wär das?« Anscheinend ist Pissen, in allen Varianten, heute Wort des Tages. Könnte schlimmer sein. Überdosis ist beispielsweise ein Scheißwort. Oder erfrieren.

    »Ich würd sie dir aber gern erzählen, André.«

    Ich erstarre innerlich, presse die Lippen aufeinander, verspüre den Drang aufzuspringen und mich vom Acker zu machen. Definitiv irgendein Typ der deutschen Bürokratie. »Woher willst du wissen, dass ich so heiße?«

    »Die Erklärung ist simpel und kompliziert zugleich.«

    »Eh besser, du behältst sie für dich«, sage ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dann will ich aufstehen - werde jedoch zurückgehalten, was mich noch mehr drängt, aufzustehen. »Pfoten weg!!«

    »Ich bin keiner vom Amt.«

    »Meinetwegen, dann bist du eben von einer Sekte. Aber nicht mit mir, such’ dir ’nen anderen Dummen!«

    »Du solltest dir die Zahnpasta kaufen.«

    Nun starre ich den Kerl wirklich an. Also noch mehr als vorhin. Immer noch skeptisch und argwöhnisch, aber auch verwirrt. Und irritiert. Und neugierig. »Wer zum Teufel bist du?«

    »Ich bin du - oder vielmehr derjenige, der du mal sein wirst. Mit anderen Worten: dein vierunddreißigjähriges Ich.«

    Einen kurzen Moment schießen mir tausend Gedanken durch den Kopf, dann lache ich los. So laut, dass ich ein paar pikierte Blicke und das ein oder andere Nasenrümpfen ernte, als wäre es verboten in der Öffentlichkeit zu lachen. Später heißt es garantiert wieder, diesen Straßenkids ginge es doch gut, die hätten den größten Spaß; immerhin drücken sie sich vor Arbeit und Schule. Faule Kids eben. Aufmüpfige Kids. Perspektivlose Kids - das denken sich alle, ohne es zu sagen.

    »Schon klar«, sagt der Mann leichthin und macht eine kreisende Fingerbewegung um seine Schläfe. »Du denkst, ich hab einen an der Waffel. Kann ich verstehen; immerhin weiß ich ja, wie ich ticke, weil ich du bin.«

    »Jetzt wird´s mir echt zu bunt!«

    »Mal im Ernst, willst du in fünf Jahren immer noch hier sitzen? Oder in zehn? In fünfzehn? Denkst du, dass du dann noch hier sitzen kannst? Alkohol, Drogen, all die Gestalten, die hier rumlaufen … gibt genug Gründe, den Löffel abzugeben. - Und mindestens genauso viele von der Straße runterzukommen, kein Bier mehr zu gurgeln und das Gefühl eines vollen Magens besser zu kennen als das eines leeren.«

    »Das kann auch nur einer sagen, der Markenjeans trägt und lupenreine Zähne hat.«

    »Falsch. Das kann einer sagen, der es von dort, wo du gerade sitzt, auf die Seite dir gegenüber geschafft hat. Du hast es bereits auf die andere Seite geschafft - du musst nur noch deinen Hintern hochkriegen und verstehen, dass du bereits gewonnen hast. Ein wasserdichtes Spiel.« Er hebt die linke Hand und spreizt die Finger. »Siehst du das? Du bist verheiratet, mit einer echt heißen Frau. Du hast süße, manchmal unglaublich nervende Kinder und ein tolles Zuhause. Du hast all das, weil du verstanden hast, dass du all das haben kannst. Weil du daran geglaubt hast, dass du ein gutes Leben führen kannst. Weil du an dich geglaubt hast.«

    »Sekte - sagte ich doch.«

    »Wäre doch dämlich, wenn ich mich selbst anlügen würde, oder nicht? Was bitte schön hätte ich davon? Rein gar nichts. Ich hab nur was davon, wenn du mir glaubst. Andernfalls war´s das mit meinem lupenreinen Leben.«

    Ich stehe auf. »Tja, dann gehst du wohl leer aus. Pardon, wir gehen leer aus«, sage ich spottend.

    Er greift in seine Gesäßtasche, zieht einen Fünfziger heraus und drückt ihn mir in die Hand. »Such dir ein Zimmer, gönn dir eine ausgiebige Dusche und schlaf eine Nacht drüber. Lass dir meine Worte einfach mal durch den Kopf gehen. Du kannst mehr schaffen, als du dir zutraust. Es liegt ganz bei dir, wie viel.«

    »Klar, Alter.« Ich stecke das Geld rasch in den Bund meiner Shorts. »Morgen fliege ich zum Mond.« Mein Gegenüber grinst und für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, mich in der Mimik und den dunklen Augen, dem ganzen Auftreten wiederzuerkennen.

    »Tendenziell ein gutes Ziel, nur werden wir flugkrank. Das gäbe eine schöne Sauerei. Frei umherfliegende Kotze … nein danke, das muss nicht sein. Behalte lieber den Boden im Auge - und die Gebäude, die darauf stehen. Prenzlauer Berg ist ein guter Bezirk; den solltest du nicht außer Acht lassen.« Er zwinkert mir zu.

    »Wovon hast du wie viel geschluckt und was hast du dafür bezahlt?«, rufe ich dem Spinner hinterher, doch er hebt nur die Hand zu einem letzten Wink, ruft so was wie »Die heutige Nacht könnte nicht nur dein Leben verändern«, ehe er in der Masse verschwunden ist.

    Ich stehe noch lange an der Ecke und starre in die bewegte Menschenmenge, als würde mich ihr Hin und Her in Trance versetzen. Sogar mein Magenknurren vergesse ich vorübergehend, weil sich ein anderer, längst vergessener, verdrängter Hunger in mir breit macht.

    Was für ein Idiot, sage ich irgendwann später laut und mache mich auf den Weg zum Kiosk.

    ~*~

    Ich weiß weder, wie noch warum ich hergekommen bin, was nichts daran ändert, dass ich vor einem kleinen Hotel stehe und mich frage, wer nun der größere Idiot ist: der Typ, der denkt, er käme aus der Zukunft, oder der, der dessen Worten Glauben schenken möchte, auch wenn er dabei seinen letzten Rest Grips vor die Straßenbahn wirft.

    Warmes Wasser, Seife, ein weiches Bett, ein Zimmer nur für mich allein - deswegen bin ich hier, sage ich mir, während ich verdränge, was ich stattdessen für das Geld bekommen könnte. Keinen megamäßigen Rausch, aber zumindest einen, der die Welt für kurze Zeit rosiger aussehen ließe. Ich hätte meine Schulden begleichen oder Vorräte anlegen können; hätte mir eine neue Iso-Matte oder Klamotten besorgen können. Hätte uns allen ein 1A Abendessen spendieren können. Und was mache ich? Ich schieße das Geld in den Wind, für eine einzige Nacht, von der ich morgen früh nichts mehr haben werde. Mein letztes bisschen Grips muss längst aufgebraucht sein; eine andere Erklärung habe ich nicht. Statt Vernunft ist da nur noch diese Sehnsucht, die ich mich kaum traue an mich heranzulassen, weil sie noch viel mehr wehtut als ein Magen, der leerer als leer ist.

    Mein gefälschter Ausweis und das Geld des Spinners ebnen mir den Weg und befördern eine weiße Schlüsselkarte in meine Hand. Ich schließe die Zimmertür hinter mir ab, atme mehrmals durch und werde von einer Welle Emotionen überrollt. Zu Boden gedrückt. Weggespült. Zermahlt und zerlegt.

    Wie lange ist es her, dass ich einen solchen Luxus genießen konnte? Wie lange, dass ich einen Schlüssel besaß, der mich alles und jeden aussperren ließ? Wie lange, dass ich einfach nur ein Junge in einem Zimmer war?

    Ich dusche, bis aller Dreck von mir abgespült und alles warme Wasser aufgebraucht ist. Den Bademantel auf der geröteten Haut, lasse ich mich rücklings ins Bett fallen, fühle mich federleicht und tonnenschwer zugleich. Ich hasse es eingesperrt zu sein und doch genieße ich es, dass mein Blick von der Decke gebremst wird und der freie Himmel sich zur Abwechslung um ein Gebäude und nicht um mich spannt. Hier und jetzt ist dieses Zimmer mein Zuhause und ich bin sein alleiniger Besitzer und Bewohner. So viel habe ich lange nicht mehr besessen; so jung und alt zugleich habe ich mich noch nie gefühlt.

    Ich packe die Lebensmittel vom Kiosk aus, breite sie vor mir auf dem Bett aus, wie bei einem Picknick, das ich nie erlebt habe, weil mein Vater mehr Freude hatte, mich durch die Wohnung zu prügeln, und Dosenbier im Kühlschrank für ausreichend hielt. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus zwischen ihm und den Wänden und Decken und bin abgehauen. Zu freiem Himmel, Schlafplätzen ohne Matratze, steifgelegenen Gliedern und Karies. Weil ich nicht zurückwill, aber müsste, da ich fünfzehn bin und Erwachsenen gerade mal so weit traue, dass ich ihnen ihr Geld abluchse, meide ich Jugendamt und Polizei - so wie viele meiner Straßenfreunde es tun. Enttäuschung kann tief sitzen; die Erwachsenen haben bei den meisten keinen Stein im Brett. Wenn es hart auf hart kommt, sind wir die besseren Erwachsenen - weil wir aufeinander achtgeben.

    Beim Gedanken an die anderen, an Natter und Jazz, Zecke und Bieber machen sich Schuldgefühle in mir breit. Ich bin fast immer derjenige, der die meiste Kohle einsackt und in den Pott einzahlt; derjenige, der die anderen von dummen - zu dummen - Ideen abhält. Derjenige, der heute nicht um zwei am Alex war und keinem gesagt hat, wo er sich rumtreibt. Heute bin ich ein Egoist, kein guter Freund und dieses Gefühl ist mies. Und trotzdem … eine Nacht in einem sauberen, warmen Zimmer, nur für mich, ist das wirklich so ein egoistischer Wunsch?

    Ich esse so viel, dass ich satt bin; den Rest packe ich wieder weg, um ihn morgen mit den anderen zu teilen. Auch wenn ich mir diese eine Nacht stehle, werde ich kein Egoist; dafür bin ich nicht gemacht. Ich brauche die anderen, vielleicht sogar mehr als sie mich.

    Irgendwann wache ich auf, verwirrt, weil ich zuerst nicht weiß, wo ich bin. Es ist Nacht, das Zimmer düster, nur erhellt vom Fernseher, den ich an-, aber nicht mehr ausgemacht habe. Schlaftrunken zappe ich durch die Kanäle, bin müde, will aber nicht, dass es Morgen wird. Ich bleibe an bunten, gezeichneten Bildern hängen, an einem Typen in grünen Strumpfhosen, mit roten Haaren und einer Kappe auf dem Kopf. Peter Pan. Klar kenne ich die Story, die kennt doch jeder. Eine Geschichte für Kinder, nicht für jemanden wie mich. Umschalten kann ich trotzdem nicht. Also sehe ich zu, wie er und die Darlingkinder in die Londoner Nacht abheben, im Nimmerland ankommen, Captain Hook und den verlorenen Kindern begegnen. Jung gegen Alt, Kinder gegen Erwachsene, nicht anders als die Realität - bis auf den Feenstaub.

    Wir verdienen auch Feenstaub, denke ich, als ich zurück in den Schlaf drifte; verdienen auch jemanden, der sich um uns kümmert, uns ein Zuhause gibt; wir sind auch verlorene Kinder. Und dann träume ich. Von Peter Pan, der mir tief in die Augen sieht und sagt, ich müsse nur glauben. Von Peter Pan, der mir die rote Feder seines Hutes ins Haar steckt und sagt, er sei stolz auf mich. Von Peter Pan, der mir gegenübersteht und plötzlich ich ist.

    ~*~

    Ich öffne die Augen; diesmal ist es hell um mich und auch diesmal brauche ich ein paar Augenblicke mich zu orientieren. Der Fernseher läuft immer noch, kommt mir jedoch leiser vor. Wahrscheinlich, weil der Tag lauter ist als die Nacht.

    Ich setze mich auf, der Bund des Bademantels hat sich gelöst, reibe mir den Sand aus den Augen und wappne mich gegen das Loch, das mich erwartet, wenn ich durch die Zimmertür in den Flur trete. Jetzt bloß nicht rumheulen. Ich fahre mir durchs Haar - und erstarre in der Bewegung. Es vergehen einig Sekunden, dann gleitet meine Hand über die Matratze, meine Finger greifen zu, heben eine einzelne, rote Feder in die Höhe.

    Nur ein Traum, sage ich mir. Es war nur ein Traum.

    Ich streiche mit der Spitze über meine Wange, komme mir vor wie jemand, der testet, ob

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