Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

urbem silere: Die lautlose Stadt
urbem silere: Die lautlose Stadt
urbem silere: Die lautlose Stadt
eBook260 Seiten3 Stunden

urbem silere: Die lautlose Stadt

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nicht ganz freiwillig stolpert der fünfzehnjährige Oliver Hansen in eine fremde Welt und verschwindet damit auf mysteriöse Weise. Während seine Eltern sich im Hier und Jetzt um den verschwundenen Jungen sorgen, trifft Oliver in einem verborgenen, jedoch unbarmherzig stillen Kosmos auf die schöne Mia. Sie fasziniert ihn sehr und auch Mia kann sich seinem besonderen Reiz nicht entziehen - kommt er doch aus einer Welt in die es sie schon seit Jahren hinzieht. Wäre da nur nicht Mias Vater, der ihre Gedanken kontrolliert und eine Flucht zu verhindern weiß. Mia möchte mit Olivers Hilfe dieser fantastischen Umgebung entfliehen, deren zermürbende Stille Oliver schon nach kurzer Zeit sehr zu schaffen macht. Doch ganz so einfach wird es nicht.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum27. Nov. 2018
ISBN9783746784861
urbem silere: Die lautlose Stadt

Ähnlich wie urbem silere

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für urbem silere

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    urbem silere - Victoria Credo

    Kapitel 1

    Die erste Begegnung mit der fremden Welt

    »BÄM!« Mit einem lauten Knall schlägt Oliver wütend die Wohnzimmertüre zu.

    Claudia zuckt vor Schreck zusammen.

    »Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung!«, ruft Oliver noch lautstark aus dem Flur heraus. Er fühlt sich mal wieder total missverstanden.

    Peter erhebt sich nun auch aus seinem Sessel. Er legt die Tageszeitung beiseite. Gelesen hat er ohnehin schon lange nicht mehr, sondern sich die Diskussion zwischen seinem Sohn und Claudia anhören müssen. Er geht zur Wohnzimmertüre, öffnet diese und ruft Oliver hinterher:

    »Glaub nur nicht, dass du damit durchkommst, mein Junge!«

    »BÄM!« Da fällt auch die schwere Eichenhaustüre mit Wucht ins zitternde Schloss. Oliver hat das Haus seiner verständnislosen Eltern verlassen und sich damit jeder weiteren Diskussion entzogen.

    Stille!

    Claudia und Peter schauen sich ratlos an.

    »Was erlaubt der Lümmel sich eigentlich?«, fragt Peter nach einer Weile.

    »Dem gehört ganz gewaltig einmal der Hosenboden versohlt. Wir hätten uns das früher nicht erlauben dürfen. Da hätte es aber ein großes Donnerwetter zu Hause gegeben. Den jungen Leuten geht es heute einfach viel zu gut.«

    Peter ist sichtlich empört.

    Claudia hingegen ist den Tränen nah. Sie teilt Peters Meinung nicht.

    Die Diskussion möchte sie mit ihm alleine aber auch nicht fortführen und geht wortlos in die Küche um sich mit anderen Tätigkeiten wieder auf schönere Gedanken zu bringen.

    Der Streit mit Oliver geht ihr sehr nahe. Der Junge ist mitten in der Pubertät und rebelliert zurzeit sehr häufig. Ein wenig zu häufig für ihren Geschmack.

    Peter beruhigt sich wieder, setzt sich in seinen gemütlichen Sessel und widmet sich erneut seiner Tageszeitung. Schnell ist jegliche Aufregung verflogen und das beschauliche Leben im Hause Hansen geht seinen gewohnten Gang.

    Stille kehrt wieder ein. Man hört ab und zu nur das Geräusch der knisternden Zeitung, wenn Peter umblättert. Aus der Küche ist hin und wieder das Klappern von Geschirr zu vernehmen.

    Es ist einer dieser heißen Sommertage, an denen man keinen Hund auf die Straße schicken mag. Die schwüle Luft über dem kleinen Ort in der Lüneburger Heide ist so erdrückend, dass man am liebsten seine Wohnung verdunkeln und sich nicht mehr bewegen möchte.

    Nur vom nahegelegenen Freibad hört man Stimmen. Kinder toben und planschen im Wasser. Das Nass verspricht noch etwas Abkühlung.

    Ansonsten sind die staubtrockenen Straßen nahezu menschenleer. Um diese Zeit sieht man an normalen Tagen viele fleißige Einwohner in ihren hübsch gestalteten Gärten arbeiten; Rasen mähen, Unkraut jäten oder die Einfahrt fegen. In dieser brütenden Hitze fällt dies jedoch meistens schwer und alle halten sich lieber an kühlen Orten auf.

    Hier in diesem kleinen und beschaulichen Heidedorf macht sich Oliver Hansen nach dem Streit mit seinen Eltern auf den Weg.

    Der hochgewachsene schlanke junge Mann mit auffallend blondem Haarschopf und einer modernen mittellangen Frisur schlendert die staubige Heidestraße dorfauswärts entlang hinauf zum kleinen Wäldchen. Nur wenige Hektar groß ist dieses Waldstück, welches früher für viele Jugendliche ein beliebter Treffpunkt war. Hier konnte man sich zurückziehen und auch mal unter sich sein. Einige von ihnen haben an diesem Ort zum ersten Mal Alkohol getrunken oder heimlich auch die erste Zigarette geraucht, die meistens nicht einmal schmeckte und nur heftige Hustenattacken verursachte.

    Unbeobachtet von den Erwachsenen konnte man als Jugendlicher hier einfach so sein wie man wollte. Zudem gibt es hier verschiedene prähistorische Hügelgräber aus der Bronzezeit. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb dem Ort etwas Mystisches zugeschrieben wird. In den 1970er und 1980er Jahren war dieser beliebt bei Anhängern der Gothik-Szene. Zeitweise tummelten sich einige hundert zumeist schwarz gekleidete Jugendliche dort. Manche einfach nur um Spaß zu haben, andere wiederum um schwarze Messen abzuhalten. Als eine Art Mutprobe haben damals viele junge Menschen sogar die Nacht alleine in diesem sagenumwobenen Wald verbracht.

    Aufgehört hat alles, als vor acht Jahren ein Junge aus dem Ort verschwand. Seine letzten Spuren verloren sich in diesem kleinen Wäldchen in der Nähe eines Hügelgrabes.

    Heute ist es hier deutlich ruhiger. Nur wenige Menschen suchen diesen Ort noch auf. In diesem Moment möchte Oliver einfach nur seine Ruhe haben. Der Ärger mit seinen Eltern beschäftigt ihn sehr. Für viele Mütter und Väter ist das wohl mit den pubertierenden Jungs im Alter von 15 Jahren nicht einfach, auch wenn sie selbst in ihrer Jugend rebellisch waren sowie nicht immer die Meinung ihrer zumeist viel strengeren Eltern vertreten haben. Irgendwie sehen sie dies bei den eigenen Kindern heute mit ganz anderen Augen.

    Oliver sucht nun gerade diese Ruhe, die das kleine Wäldchen verspricht, um mit seinen Gedanken ins Reine zu kommen.

    Doch was er später noch finden wird ist Stille. Eine derart erdrückende Stille, die sogar schmerzen wird.

    Die Sonne brennt unerbittlich vom tiefblauen Himmel herab als der schüchterne Junge in seinen Turnschuhen und nur mit Jeans und einem T-Shirt bekleidet den schmalen Feldweg hinauf geht. Ihm rinnt der Schweiß die Stirn hinab.

    »Hätte ich doch heute nur die kurze Hose angezogen«, denkt Oliver und greift nach einem Taschentuch in seiner Hosentasche. Es ist eines dieser alten Stofftücher, die heute kaum noch jemand benutzt. Oliver hat diese von seiner Oma geschenkt bekommen. Der Junge mag die Taschentücher sehr. Die Initialen seiner Oma sind sogar eingestickt. 'U. H.' Ursula Hansen. Beim Lesen dieser Initialen wird er immer etwas wehmütig. Oliver nutzt die Tücher nie zum Naseputzen, sondern lediglich um mal etwas aufzuwischen oder die Hände zu trocknen, wenn mal wieder kein Handtuchpapier auf der Toilette in der Schule zu finden ist - und das ist an seiner Schule leider keine Seltenheit.

    Oliver ist heilfroh, als er die ersten schattenspendenden Bäume am Waldesrand erreicht. Zu dieser Jahreszeit ist das Laub der Bäume so dicht, dass kaum ein Sonnenstrahl auf den weichen Waldboden trifft. Das Taschentuch braucht er nun nicht mehr, hält es locker zwischen den schlanken, knochigen Fingern und spielt damit. Erst faltet er daraus kleine Figuren, im nächsten Moment streicht er das Tuch dann auch schon wieder glatt.

    Oliver geht jetzt langsamer und verliert sich mit der Zeit immer mehr in Gedanken. Gedanken an den Streit mit den Eltern, Gedanken an den Vormittag in der Schule, die Sonne und vieles mehr. Dann lauscht er den Vögeln des Waldes bei ihrem fröhlichen Zwitschern und Pfeifen. Das Tuch lässt er irgendwann, ohne dass er es merkt, aus seinen Händen gleiten.

    Völlig geschafft von der Hitze und der Sonne, nutzt er den Schatten der Bäume für eine kurze Rast, ein Stück weiter des Weges. Oliver lehnt sich an eine dicke Eiche, die etwas tiefer im Wald und abseits des Weges nahe eines der alten Hügelgräber steht. Er schaut noch eine Weile umher und beobachtet eine Gruppe Ameisen im Kampf mit einem Käfer - dann verlieren sich seine Gedanken erneut. Der Streit mit seinen Eltern scheint wie vergessen und er träumt sich in eine andere Welt, in eine Welt wo er verstanden wird.

    Zeitgleich sind seine besorgten Eltern zu Hause. Sie machen sich nun langsam Gedanken um ihren Jungen, der seit Stunden nichts mehr von sich hören ließ. Claudia Hansen ist Olivers Mutter und macht sich sichtlich mehr Sorgen um ihn als Peter, ihr Mann. Nachdenklich sitzt sie auf der schweren Ledercouch und fährt sich immer wieder mit den Fingern durch ihr langes blondes Haar, dass bis über ihre Schultern reicht. Sie trägt es meistens offen. Dabei starrt sie regungslos ins Leere, während ihr Mann immer noch die Tageszeitung liest.

    »Vielleicht waren wir doch etwas zu hart zu ihm«, sagt Claudia mit spürbarer Nervosität in ihrer Stimme und wendet sich dabei ihrem Mann zu, der sich nach wie vor mit seinen Zeitschriften beschäftigt.

    »Ach was«, entgegnet Peter barsch.

    »Der Junge muss auch irgendwie zur Vernunft gebracht werden. Wenn wir uns das damals alles erlaubt hätten was Oliver heute so tut, dann hätte mein Vater mir aber ganz gehörig die Leviten gelesen. Das ist noch nicht ausdiskutiert und der Junge darf sich noch etwas anhören, wenn er nach Hause kommt.«

    Peter Hansen ist ein sehr bodenständiger und hilfsbereiter Mann, Mitte Vierzig, leichter Bauchansatz. Das kurze dunkle Haar wird langsam lichter und grau. Nahezu in jedem Verein des Ortes ist Peter Mitglied. Aber nicht nur das. Er macht sich auch in jedem einzelnen Verein nützlich und ist dort zumeist sogar im Vorstand aktiv.

    Peter trainiert eine Jugendmannschaft im Fußballverein und ist stolz, sie zum Aufstieg in die Kreisliga gebracht zu haben. Im Kleingartenverein ist er Kassenwart und bei der freiwilligen Feuerwehr kürzlich zum Oberbrandmeister ernannt worden. Im Tennisverein, sowie bei der altehrwürdigen Schützenbruderschaft ist er im Vorstand tätig. Für das kommende Jahr hat er sich sogar fest vorgenommen, am Königsschießen teilzunehmen. Sein Vater war in den 1970er Jahren schon Schützenkönig und irgendwie gehört dies zur Tradition seiner Familie dazu.

    In diesem Jahr möchte Peter Hansen Schützenkönig werden! All sein Bestreben ist darauf ausgerichtet.

    Kurz und knapp: er wird überall gerne gesehen. Peter ist bekannt wie ein bunter Hund und auch immer bereit, sich für sein Dorf einzusetzen. In heiklen Situationen bewahrt er die nötige Ruhe sowie einen kühlen Kopf. So auch jetzt bei der Auseinandersetzung mit seinem Sohn Oliver und den folgenden Diskussionen mit seiner Frau.

    »Wie alle in diesem Alter wird er sich nun irgendwo abreagieren und ist zum Abendessen wieder hier«, sagt er noch und legt seine Zeitung dann endgültig beiseite.

    Im Anschluss verabschiedet er sich von seiner Frau. Der Kleingartenverein ruft mal wieder. Claudia bleibt mit ihren Sorgen alleine.

    »Typisch Mann«, flucht sie noch und versucht sich sodann mit Hausarbeit selbst etwas Ablenkung zu verschaffen.

    Die Wäsche muss ja noch gemacht werden. Im Keller ist es auch recht kühl und angenehm. Da fällt das Bügeln leicht. Den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht macht sich Claudia auch schon auf den Weg die schmale Kellertreppe hinunter in ihr Bügelzimmer. 

    So vergehen dann die Stunden. Doch niemand sieht mehr etwas von Oliver im beschaulichen Heidedorf.

    Die rauschenden Blätter und das Summen der emsigen Bienen in den bunten Blüten ringsum - sowie das fröhliche Gezwitscher der Vögel - lassen Oliver nach wie vor träumen, bis er plötzlich vom Geräusch knackender Äste aufgeschreckt wird.

    »Da ist doch jemand«, denkt er noch bei sich und steht auf, um nachzusehen, was gerade um ihn herum geschieht. 

    Noch etwas schlaftrunken erhebt er sich von seinem gemütlichen Platz an der Eiche und prallt im gleichen Augenblick auch schon mit einem ihm unbekannten jungen Mann zusammen. Beide stürzen daraufhin eine kleine Böschung hinab. Sie fallen in Richtung des Hügelgrabes. Oliver verliert dabei seinen linken Schuh und gerade möchte er noch etwas sagen, was denn das soll und wer er ist, warum er nicht aufpasst und was ihm gerade in diesem Moment alles so durch den Kopf schießt…,

    …dann fallen beide noch ein gutes Stück tiefer hinunter, obwohl es dort eigentlich nicht mehr weiter gehen dürfte. 

    An dieser mit Farnen und Moos bedeckten Stelle öffnet sich plötzlich der Boden - wie von Zauberhand. Die Pflanzen weichen wie einer Choreographie folgend zur Seite und geben auf spektakuläre Weise den Eingang zu einer fremden, verborgenen Welt frei. Durch die sich nun bietende Öffnung stürzen die jungen Männer noch ein paar weitere Meter hinunter und Oliver registriert erst bei der unerwartet sanften Landung, dass er nicht mehr in seinem Wald ist.

    Die Öffnung verschließt sich sofort wieder und im Nu ist nicht mehr erkennbar, woher sie in diese verwunschene Welt hineingestürzt sind.

    »Was war das denn für ein krasser Scheiß? Hey! Herrgott noch mal! Wo sind wir und wer bist du?«, fragt Oliver sichtlich verunsichert und geschockt den noch unbekannten jungen Mann, der ihm überdies für diese Jahreszeit etwas sehr blass erscheint.

    »Seit Tagen scheint die Sonne unerbittlich vom Himmel und ein bisschen Farbe bekommt doch jeder«, denkt Oliver und wundert sich im gleichen Moment über seine sanfte Landung in einem Geflecht aus farnähnlichen Pflanzen und wilden Blumen die er zuvor jedoch in dieser Form und mit diesen Farben noch nie gesehen hat.

    »Was machst du denn auch da, du Trottel! Du darfst gar nicht hier sein! Verdammt noch mal - so ein Mist«, entgegnet im Flüsterton ein schlanker junger Mann mit ungewöhnlich lichtem Haar.

    Oliver schätzt ihn auf Anfang zwanzig. Sofort hält der Junge ihm den Mund zu. Im gleichen Augenblick macht er mit der anderen Hand eine Handbewegung und führt seinen Zeigefinger an seine schmalen Lippen.

    »Sei um Himmels Willen ruhig!«, flüstert er Oliver zu und schaut sich verängstigt um.

    Erst als er keine drohende Gefahr erkennt spricht er im Flüsterton weiter.

    »Wo zum Teufel kommst du denn her? Und sei bloß leise! Hier darf uns niemand hören!«

    Oliver schaut verständnislos in entsetzte Augen eines jungen Mannes, der etwas seltsam gekleidet und wild gestikulierend vor ihm sitzt.

    »Die Kleidung hat ein bisschen was von Raumschiff Enterprise«, denkt er und schaut sich den jungen Mann etwas genauer an. Seine Augen leuchten in einem kräftigen Grünton. Ungewöhnlich schmale Lippen lassen die kräftige Nase noch ein wenig größer erscheinen als sie eigentlich ist.

    »Zum Glück sind die Flaschen noch heil«, flüstert der nun sichtlich erleichterte junge Mann weiter und tastet dabei über seinen dunklen Mantel unter dem er wohl drei Flaschen Wodka versteckt hat.

    »Sei bloß leise!«, befiehlt er noch einmal mit Nachdruck.

    Oliver ist immer noch völlig baff, schaut mit großen Augen um sich und realisiert erst nach und nach, dass er nicht mehr in seinem kleinen Wäldchen ist. Um ihn herum sieht es aus wie in einem Urwald. Alles ist dicht mit Bäumen und Sträuchern besetzt. Deutlich dichter, als er dies aus heimischen Wäldern kennt. Diese Pflanzen sind ihm jedoch völlig unbekannt. Alles hier scheint fremd zu sein und hat völlig andere Farben und Formen als die, die er kennt. Farben, die er kaum zu beschreiben vermag, weil er sie so noch nie in seinem Leben gesehen hat.

    Farben mit einer Leuchtkraft, die er bisher noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte.

    Der junge Mann lässt ihn in Ruhe die neue Umgebung erkunden und erste Eindrücke sammeln. Aus eigener Erfahrung weiß er, wie schwer dies für Oliver gerade zu begreifen ist. Er selbst ist vor Jahren ebenso zufällig in diese andere Welt hineingestolpert. Ein Zurück ist in diesem Moment auch nicht mehr möglich, daher muss er Oliver unweigerlich in diese leuchtende Fabelwelt mitnehmen. Nach und nach versucht er ihn mit der ungewöhnlichen Umgebung vertraut zu machen.

    »Schau dir nur alles in Ruhe an. Ich kann dir gleich alles genau erklären, aber sei um Himmels Willen unbedingt leise. Wir sollten uns so wenig wie möglich unterhalten«, macht er Oliver noch einmal deutlich.

    Noch während er das flüstert geht er zu einem nahegelegenen Strauch und reißt ein Blatt ab. Für Oliver sieht es aus wie ein herkömmliches Blatt Papier. Dann holt der junge Mann einen ungewöhnlich grellbunten Stift aus seiner Jackentasche und schreibt ein paar Zeilen, die er Oliver dann zum Lesen vorhält.

    Oliver ist völlig sprachlos. Was ist denn das Kurioses? Wo kommt denn nur das Blatt Papier her?

    Das kann doch unmöglich an einem Baum wachsen? Oliver braucht noch etwas Zeit um all das zu realisieren. Er lässt seinen Blick erneut durch die farbenprächtige Welt schweifen. Gerade schaut er in einen gau-grünlich schimmernden Himmel und erblickt im gleichen Moment Blüten, die in einer Art schwarz-violetten Farbe regelrecht zu leuchten scheinen. Dann realisiert er auch, dass er außer dem Flüstern des jungen Mannes bisher noch kein einziges Geräusch wahrgenommen hat.

    Es herrscht eine erdrückende Stille.

    Oliver nimmt den ihm gereichten Zettel und liest die magentafarbenen Worte:

    »Ich bin Alexander. Wir sind hier nicht alleine. Leise, ja fast lautlos zu sein, kann dir hier dein Leben retten. Zeige mir mit Gesten, was du willst, aber gib möglichst niemals einen Laut von dir.«   

    Er ist geschockt. Wie soll ein 15-jähriger Junge auch mit so etwas umgehen können? Das er leise sein soll, dies hat er schon begriffen und traut sich auch vor lauter Angst nicht mehr auch nur einen Ton von sich zu geben. Immer noch schockiert versucht Oliver langsam zu begreifen was geschehen ist und wo er jetzt bloß sein könnte.

    Zumindest fühlt es sich so an als ob er noch am Leben sei. Er kneift sich kurz.

    »Ich lebe!«, flüstert Oliver erleichtert.

    Er greift nach dem Stift, der sich optimal an seine Hand schmiegt und schreibt nun ebenfalls etwas für Alexander auf den Zettel.

    »Wo zum Teufel sind wir hier? Was ist das alles?«

    Alexander schreibt zurück:

    »Das wirst du nach und nach begreifen. Es ist eine andere Welt, verborgen vor dem was du bisher kennst. Du wirst es besser verstehen, wenn ich dir gleich noch ein paar Freunde vorstelle.«

    Er macht eine Handbewegung und signalisiert Oliver, dass er mit ihm mitgehen soll. Sie machen sich auf den Weg. Oliver folgt Alexander wortlos. Das Gehen fühlt sich seltsam an. Der Boden ist sehr weich. Fast schon federnd. Da ihm sein linker Schuh fehlt, wirkt es zudem sehr ungewöhnlich.

    Oliver nimmt die neuen Eindrücke auf und wundert sich schon nach jeweils nur wenigen Schritten immer wieder über neue Farben und Formen der Pflanzen in dieser Welt. Hier gibt es Bäume - zumindest Gewächse die ihm bekannten Bäumen ähneln - die jedoch keine Blätterkrone besitzen wie er sie kennt. Hier wachsen bei einigen entlang eines gelblichen Stammes dicke, blattähnliche Gebilde, teils rund und Handteller groß, an denen lange Fäden in allen Regenbogenfarben schier endlos weit herunterhängen. Andere sind wesentlich dicker. Zartrosa bis lila in den Farben. Deren Verzweigungen reichen ebenso weit nach links und rechts, wie der gesamte Stamm hoch ist. An den Enden befinden sich viele kleine bunte - in allen Farben schimmernde - Blätter, die kaum größer als ein Fingernagel sind. Der ganze Wald ist ein einziges Paradies voller ungewöhnlich strahlender Farben. Soweit er blicken kann wirkt der gesamte Boden wie ein Geflecht aus Farnen und Moos. Farblich sind sie mit Nichts zu vergleichen. Die bei uns bekannten Farben wie grün oder braun sucht man hier jedenfalls vergeblich.

    Nach einer Weile erreichen sie eine kleine Hütte. Scheinbar ist sie von den Pflanzen zugewuchert. Alexander geht zielstrebig auf den Eingang zu. Die Tür öffnet sich von selbst und völlig lautlos. Dann macht er wieder eine Handbewegung, damit Oliver ihm in die Hütte folgt. Im Haus gibt es nur einen einzigen Raum. Der Boden gleicht dem weichen Waldboden auf dem sie bis hierhin gelaufen sind. Es gibt keine Möbel. Fenster sind für Oliver ebenfalls keine ersichtlich. Die Wände sind auch innen größtenteils durch Pflanzen bewachsen. An den Decken sind keine Lampen zu erkennen, dennoch ist im Innenraum die gleiche diffuse Helligkeit wie außen wahrnehmbar. Erst jetzt realisiert er, dass die Hütte wohl nicht zugewuchert ist, vielmehr bilden die farbenfrohen Pflanzen selbst diese Hütte. Die Tür schließt sich hinter ihnen und Alexander setzt sich in eine Ecke auf den weichen Boden.

    »Komm, setzt dich zu mir!«, flüstert er sehr leise.

    »Hier sind wir einigermaßen sicher und Geräusche dringen kaum nach außen. Trotzdem müssen wir vorsichtig bleiben und uns nicht zu laut unterhalten. Lass uns erst einmal einen Schluck trinken.«

    Er holt eine Wodkaflasche hervor, öffnet sie und nimmt einen kräftigen Schluck - bevor er sie an Oliver weiterreicht.

    »Hallo? Ich bin erst

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1