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Eichenbach
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eBook466 Seiten6 Stunden

Eichenbach

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Über dieses E-Book

Eichenbach 1996. Um sich seinen Kindheitstraum zu erfüllen, kauft Paul König zusammen mit seiner Familie das alte Martinshaus, welches auf einem großflächigen Grundstück thront. Eingerahmt von Wäldern und einem kleinen Bach genießt der Kindertherapeut Paul das malerische Idyll in vollen Zügen. Doch mit dem Ort stimmt etwas nicht. Hunde - die nachts im Schlafzimmer erscheinen, Knochen - die im großen Garten vergraben liegen, und ein Junge aus Pauls Praxis, den unheimliche Träume plagen. Der unwissende Paul versucht dies alles zu verbergen, doch sein neuer Nachbar, ein eingefleischter Mann Eichenbachs, kennt die Mythen des Dorfes.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Feb. 2022
ISBN9783347483088
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    Buchvorschau

    Eichenbach - Mo Clare

    DAS HAUS AM RINNSAL

    „Die Sünden entstehen aus Unwissenheit"

    Thomas von Aquin

    „I want to break free"

    Queen

    Kapitel 1

    Paul (I)

    1

    Der Wagen holperte über einen schier endlosen Weg aus alten Feldsteinen, Gestrüpp und Schlamm – immer in Richtung der kleinen und rätselhaften Ortschaft in der Nähe von Verden, zu der Paul seine Familie für immer fortführen wollte. Die Kinder (Gott segne sie!) waren den Großteil der Fahrt über lieb und ruhig gewesen. Gracy hörte über ihren Walkman Musik und Ben spielte auf seinem grauen Gameboy, welchen er vor zwei Jahren zu Weihnachten bekommen hatte.

    Neben Paul, auf dem Beifahrersitz, saß Kathrin und kaute sich nervös auf der Unterlippe herum. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie immer noch nicht einordnen konnte, was sie von diesem Umzug aufs Land halten sollte. So saß sie nur stumm da, schaute angestrengt nach vorne auf die Windschutzscheibe und zerkaute sich weiter ihre Lippe.

    Ob sie wohl selbst merkt, dass sie bereits blutet?, schoss es Paul durch den Kopf. Um die Stimmung aufzubessern, rief er plötzlich aus: »Hey, ich wette, ihr ahnt noch gar nicht, dass wir ein verdammt großes Abenteuer vor uns haben! Seid ihr nicht aufgeregt!?«

    »Nö«, murmelte Ben. Dabei schaute er weiterhin mit einem fest zusammengepressten Mund auf seinen grauen Daddelkasten. Vermutlich war Mario kurz davor, in einen Abgrund abzustürzen!?

    »Hast du was gesagt, Papa?«, rief Grace und zog sich dabei den Kopfhörer vom Ohr. Kati, wie Paul seine Kathrin liebevoll nannte, blickte ihrem Mann sanft in die dunklen Augen. »Paul, wir sind alle müde und heute denkt keiner von uns an die großen Abenteuer hier in diesem … Dorf. Gib uns bitte etwas Zeit!« Dabei machte Kati eine Art Kussmund in Pauls Richtung. Dieser atmete leise aus. Sie hatten zwar das Haus und den riesengroßen Garten noch nicht gesehen, auch er selbst kannte es nur von Fotos, die ihm der Makler gezeigt hatte. Aber trotzdem hatte er ein magisches Gefühl dabei. Die Daten passten und für das große Grundstück war das Haus überraschend günstig gewesen. Er musste einfach zuschlagen und sich damit einen tiefen (und für Paul unbekannten) Lebenstraum erfüllen: ein Leben draußen auf dem Land. Paul vermutete, dass die kindlichen Ausflüge mit seiner Entscheidung zusammenhingen. Die allwöchentliche Flucht aus Hannover und die sanfte Wärme der Sonne, die auf den Feldern und Wiesen seine Haut streichelte. Die Ruhe und die frische Luft (abgesehen von einem Gülle-Traktor) waren Paul stets in Erinnerung geblieben und so manche miese Woche konnte sich positiv wenden, wenn die Familie damals, nach der Kirche, in die Natur aufbrach.

    Nach einer weiteren halben Stunde ereignisloser Fahrt passierten Paul, Kati und die Kinder das alte gelbe Ortsschild, welches zwischen den Büschen sehr verloren dastand. Völlig unerwartet tauchte es auf der rechten Straßenseite auf. Es wirkte verloren, so schief und schmutzig stand es da, als wäre es völlig ungewollt dorthin verpflanzt worden. Grace, die das Schild halblaut vorlas, blickte verunsichert nach vorne: »Eichenbach. Klingt ja aufregend! Papa, ich habe keine Lust auf Kühe und Pferdeäpfel! Oder auf Eichen, die lahm am Bach rumstehen!«

    Paul musste nun doch grinsen. »Schatz, das ist doch nur ein Name. Alle Orte haben Namen und ich finde, dieser hier klingt besonders – malerisch.« Doch Grace runzelte nur die Stirn. »Langweilig trifft es besser«, sagte sie leise.

    »Sicher ist es spannend herauszufinden, woher das kleine Örtchen diesen Namen hat, findest du nicht?«, sagte Paul. Er fügte noch schnell hinzu: »Wir heißen ja auch König, aber Könige habe ich nicht in meinem Stammbaum!«

    »Das fehlte noch«, sprach Kati leise vor sich hin. Paul ignorierte es und schob den Frust seiner Frau auf das allgemeine Unbekannte, das ihr hier bevorstand. Er lenkte den Wagen weiter, es war ein alter, grauer VW-Kombi – aber immer treu und zuverlässig.

    Sie fuhren nur auf einer Straße (scheinbar gab es nur die eine Hauptstraße im Ort und wenige Nebenstraßen), bis sie im hinteren Teil unerwartet nach links abbogen und eine graue Auffahrt, zwischen ein paar Bäumen gelegen, hinauffuhren. Dann standen sie plötzlich vor ihrem neuen Zuhause und alle im Wagen waren erst einmal still. Das Haus war groß, größer als auf den Fotos von Herrn Freche, dem Makler. Man müsste zwar etwas Arbeit in einige Außenrenovierungen stecken, doch konnte man direkt einziehen. Das hatte Freche versprochen! Der Makler hatte sogar eine Malerfirma engagiert, die in den letzten Wochen damit beschäftigt war, die Räume zu streichen und die Fußböden neu zu verlegen (natürlich nach Wünschen von Paul und Kati). Die Firma machte zwar hinterher etwas Ärger, aber darum kümmerte sich Paul nun nicht.

    Von außen war das neue Haus der Familie mit hellen Holzbrettern verkleidet. Im unteren Geschoß flankierten jeweils zwei Fenster zur Rechten und Linken die Haustür.

    Paul stieg als Erstes aus dem Wagen und trat ins Freie, dabei machte er ein übertriebenes Geräusch, als wollte er die ganze Luft der Umgebung einatmen. Ben schaute von seinem Gameboy auf und machte große Augen. Er bestaunte die riesige Rasenfläche vor dem Haus, den großen Wald hinter dem Gebäude.

    »Gehört das alles dazu? Der Garten? Der Wald?«, rief der Achtjährige begeistert aus, seine Stimme überschlug sich dabei ein bisschen.

    »Der Garten ja«, sagte sein Vater. »Der Wald gehört der Gemeinde, aber natürlich können wir ihn nutzen zum Spazieren oder du zum Spielen!«

    »Gebongt, es ist super hier!«, sagte Ben lachend und stieg ebenfalls aus dem Auto. Kati drehte sich zu Grace nach hinten um. Beide blickten sich kurz in die Augen und Grace nickte, als verstände sie, was ihre Mutter ihr damit sagen wollte. Dann stiegen die beiden auch aus dem Wagen und sahen sich ausgiebig um.

    Paul war währenddessen schon damit beschäftigt, die Haustür (eine große weiße Tür aus altem Holz) aufzuschließen. Er hatte gerade erst den Schlüssel umgedreht, um ins unheilvolle Dunkel des stillen Hauses zu treten, als Kati ihn zu sich rief. Rasch zog er die Tür wieder ins Schloss und ging die vier Stufen der grauen Steintreppe nach unten. Kati umarmte ihren Mann und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund. Durch ihre leicht blutende Unterlippe vermischte sich der verräterische eisenhaltige Geschmack auf Pauls trockenen Lippen. Zärtlich blickte sie ihren Mann an: »Ich weiß, dass das hier dein Traum ist. Entschuldige bitte, wenn wir die letzten Tage etwas, sagen wir, schlecht drauf waren!« Paul nahm sie in die Arme und schaute über die Schulter seiner Frau zu den Kindern hinüber. »Schon gut, Liebes! Ich verstehe eure Sorgen, aber uns wird es hier gut gehen. Richtig gut!« Und ohne es vorher gewollt zu haben, gab er Kati einen lockeren Klaps auf den Hintern.

    »Papa, bitte«, stöhnte Grace. Paul kicherte leise, einer Zwölfjährigen war immer alles peinlich. Wie konnte er es nur wagen, seiner Frau einen zärtlichen Schlag auf den Po zu geben? Grace stand auf dem Rasen und schaute sich nun wieder um. »Schöner Garten, hier könnte man es sich irgendwie gemütlich machen … denke ich …«, dabei streifte sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die der plötzlich aufkommende Wind aufgewirbelt hatte. Das lief bisher alles schon einmal recht gut! Doch den größten Clou hatte sich Paul noch aufgehoben. Man soll nicht gleich zu Beginn schon alle Raketen verschießen, so heißt es doch!?

    Hinter dem Haus – am Rande des Waldes – lief der kleine dünne Bach, der dem Ort wohl zu seinem Namen verholfen hatte. Er hatte seinen Ursprung irgendwo bei Rotenburg, das hatte Paul bereits herausgefunden.

    »Wir haben hier auch ein Rinnsal oder besser gesagt einen kleinen Bach im Garten. Fließendes und klares Wasser! Ihr müsst nur mal hinter das Haus …« – doch der laute Schrei von Ben unterbrach Pauls Botschaft. Es klang bedrohlich und schmerzerfüllt, befremdlich und überrascht. Ben begann jetzt wie am Spieß zu brüllen. Kati suchte panisch Pauls Blicke, dieser richtete seine Augen auf den Rasenpfad, der seitlich vom Haus nach hinten in den Garten führte. Ben befand sich bereits auf dem hinteren Teil des Grundstücks. Zuerst dachte Paul, dass Ben womöglich das kleine Bächlein entdeckt hatte, doch dafür waren Bens Laute zu schmerzhaft und panisch.

    Erschrocken liefen die drei Königs nun hinter das Haus, immer in Richtung der lauten Schreie des kleinen Ben.

    Als Paul als Erstes um die hintere Ecke des Hauses bog, kam ihm sein Sohn schon in die Arme gelaufen. Unter seinem rechten Auge prangte eine rot-weiße Beule. Man sah die pulsierende Einstichstelle deutlich und ein kleiner Blutstropfen bildete sich langsam. Obwohl er es ahnte, fragte Paul den weinenden Ben, was passiert war.

    Die erste Amtshandlung auf dem neuen Grund und Boden war es, Ben von den Schmerzen seines Hornissenstiches zu befreien. Die zweite war der Anruf beim zuständigen Kammerjäger, der am nächsten Tag herkommen würde, um die Papierburg der Riesenwespen am Baum hinter dem Haus, zu entfernen.

    Dieses große und trotz der hellen Bretter dunkle Haus, am Wald und am Rinnsal gelegen, wurde nun zur Heimat von Paul und seiner Familie. Das Schloss des Königs; Paul König gewährt Eintritt! Sobald die Möbelpacker mit den restlichen Möbeln da waren, würden sich alle wohlfühlen und natürlich mussten erst die gewohnten Gegenstände und Utensilien in das unbekannte, stille Haus einziehen.

    Das Haus war zwar leer, doch es übte eine gewisse Magie auf Paul aus. So stand er abends noch allein draußen auf dem Rasen und schaute sich sein neues Reich an. Und das Haus schaute auf Paul zurück, es schien ihn anzufunkeln und zu sagen: Komm rein und spiel mit mir! Doch das vermochte der Kinderpsychotherapeut zu ignorieren.

    Am späten Abend fiel Paul in den ersten Schlaf im neuen Schlafzimmer. Oder dem Raum, der einmal das Schlafzimmer werden würde. Bis dahin war es erst einmal ein geräumiges Zimmer im oberen Stockwerk mit einem großen Doppelfenster. Die blaue Luftmatratze (ein Überbleibsel aus seiner Jugend) tat ihren Dienst wie gehabt und Paul verbrachte eine ziemlich ungemütliche Nacht auf der harten und stinkigen Plastikunterlage. Kati hatte sich mit den Kindern eine Burg aus Kissen und Decken unten im Wohnzimmer errichtet. Sie wollte die erste Nacht im neuen Haus bei den Kindern sein und Paul war zähneknirschend einverstanden damit gewesen. Man sollte einer Zwölfjährigen und einem Achtjährigen zumuten können, allein zu schlafen! Doch hielt er es für besser, das Thema nicht anzusprechen. Nicht am ersten Abend nach dem Umzug, zu dem er seine Familie ja doch mehr oder weniger überreden musste!

    Hauptsache, alle würden glücklich sein, mit diesem Gedanken schlief Paul König erschöpft und voller Neugier ein.

    2

    Um kurz vor zehn war der Möbeltransporter die graue Auffahrt zum Haus hinaufgefahren. Die Mannschaft der Möbelpacker war emsig dabei, alle gewohnten Möbelstücke und sonstigen Dinge der Familie an den neuen dafür vorgesehenen Platz zu schaffen. Kati besorgte ein paar fettige Rippchen mit Pommes zum Mittagessen, welche die Männer der Möbelspedition dankend und mit Heißhunger verschlangen. Während diese anschließend mit vollen Bäuchen die letzten Möbel aus dem großen dunkelblauen Transporter schleppten, kam der Kammerjäger der Gemeinde und entfernte gekonnt das große Hornissennest im hinteren Teil des Gartens. Ben hatte keine Schmerzen mehr, dafür war die Beule unter seinem Auge dreimal so stark angeschwollen wie am Vortag. Auch der Schock war ihm noch klar und deutlich ins Gesicht geschrieben. Als der Kammerjäger die ungewöhnliche (doch beeindruckende) Papierbehausung möglichst behutsam in ein tonnenähnliches Behältnis verstaute, näherte sich Ben König vorsichtig wieder dem Teil des Gartens, der ihm wenige Stunden zuvor noch wahnsinnige Schmerzen zugefügt hatte.

    »Das geht vorbei, Kleiner«, meinte der nette Mann der Schädlingsbekämpfung, als er sich die Stichwunde ansah. Aus der Beule war wirklich ein großer und roter Fladen geworden.

    »Du hattest Glück, dass nur eine ihr Nest verteidigt hat! In der Nähe des Nestes sind alle Insekten angriffsbereit!«

    »Ich habe ja gar nichts getan! Bin nur gucken gekommen und schon hat mich das Biest angeflogen …«, sagte Ben und klang dabei etwas ehrfürchtig. Der Kammerjäger nickte. »Ich werde den Staat weit entfernt in einem Waldstück wieder aussetzen. Hornissen stehen unter Naturschutz, weißt du?«, dabei blickte er den Achtjährigen freundlich an. Ben schüttelte den Kopf. »Wusste ich nicht!«

    »Dann weißt du es jetzt. Merke dir: Es ist ein Gesetz der Natur, dass man das verteidigt, was man liebt! Und diese Tiere lieben ihr Nest. Es ist alles für sie. Du wirst euer neues Haus bald genauso lieben, Kleiner!«, mit diesem Satz verabschiedete sich der Mann von Ben und ging noch zu einem kurzen abschließenden Gespräch zu Paul ins Haus. Dieser war gerade damit beschäftigt, einem der Möbelpacker zu erklären, warum der alte Schreibtisch nicht ins Arbeitszimmer kam, sondern im Wohnzimmer vor der großen Fensterfront seinen Platz finden sollte. »Ich arbeite lieber mit Blick in den Garten!«

    Der Kammerjäger unterbrach das Gespräch: »Herr König, hätten Sie einen Moment Zeit? Ich würde gerne kurz mit ihnen reden.« Der eben noch ruhige und sachliche Mann von der Schädlingsbekämpfung sah nun eher überrascht und nachdenklich aus. Paul überließ dem verdutzten Packer den großen Schreibtisch aus Eichenholz und eilte zum Mann von der Kammerjäger-Firma. »Entschuldigen Sie, heute kommt alles auf einmal!«, Paul grinste verlegen.

    »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich das Nest komplett entfernt habe. Mit Nachzüglern ist nicht zu rechnen! Aber … Wir haben hier in der Gegend äußerst selten Hornissen. Es wundert mich, dass ausgerechnet in Ihrem Garten welche genistet haben. Ich schätze das Nest auf gute vierzehn bis sechzehn Wochen. Anscheinend hatte Ihr Junge tatsächlich Pech. Hornissenangriffe sind extrem ungewöhnlich hier. So selten, dass mir eigentlich gar keine bekannt sind …«

    Paul grinste schon wieder, musste sich dafür aber innerlich selbst ohrfeigen. »Na ja, ich sehe es als einen kleinen Fehlstart in unser neues Heim. Aber wie sagt man: Das Gute kommt zum Schluss

    Der Kammerjäger winkte kurz, stieg in seinen Mercedes Sprinter und brauste schnell davon. Die Tiere würde er weit entfernt aussetzen und sie könnten in Frieden weiterleben.

    Als abends der Transporter der Möbelfirma vom Grundstück abfuhr, stand Paul zusammen mit Kati vor der Haustür und schaute dem Möbelwagen so lange hinterher, bis er nicht mehr zu hören und zu sehen war. Als das Brummen des Motors komplett verstummt war, sah er seiner Frau in die Augen. Sie sah zauberhaft schön aus und Paul wusste, warum er sie vor fünfzehn Jahren geheiratet hatte. Damals, als er noch mitten im Psychologiestudium steckte und Kati die Arbeit als Erzieherin in der Kita aufnahm. Sie hatten sich auf der Geburtstagsparty eines gemeinsamen Freundes kennengelernt. Der Abend war eher träge, doch er endete damit, dass der leicht beschwipste Paul König mit der angeheiterten Kathrin Bauer nach der Feier noch einen Spaziergang in der Nähe des Maschsees machte. Sie verstanden sich vom ersten Augenblick an fantastisch und so begann ihre Beziehung damit, ihren Weg zu gehen.

    Seitdem war einiges passiert. Als Grace geboren wurde (Kati war ein großer Fan von der verstorbenen Schauspielerin und Fürstin Grace Kelly und sie hoffte insgeheim, dass ihre Tochter einmal ebenso reich, hübsch und berühmt würde), nahmen sie sich eine größere Wohnung. Dort lebten sie aber nur gute zwei Jahre. Die Heizung im Haus war nicht richtig intakt und bevor die kleine Gracy noch ernsthaft krank wurde, zog die Familie in eine schöne Wohnung nach Garbsen, am Rand von Hannover. Dort blieben sie, bis Ben vier Jahre alt war. Paul war schon fast zufrieden mit der Lage am ruhigen Stadtrand, jedoch konnte er nicht loslassen von der Idee des Landlebens. Nach einer eher kurzen Odyssee in einem kleinen Reihenhaus fand er endlich die Stelle als Psychotherapeut für Kinder in Verden, einer Kleinstadt ganz in der Nähe von Eichenbach. Dann ging alles ganz schnell und Paul kontaktierte den Makler, der ihm ein besonderes Kleinod mit zauberhaftem Charme versprochen hatte. Nun standen Paul und Kati vor jenem Kleinod und atmeten die laue Abendluft. Ben lag bereits in seinem neuen Zimmer im Bett, Grace versprach auch, bald schlafen zu gehen, nachdem sie sich eine Folge der Simpsons angesehen hatte.

    »Gibt es hier eigentlich Nachbarn oder irgendwelche anderen Leute in der näheren Umgebung?«, fragte Kati leicht amüsiert und schaute sich zu allen Seiten um. Die Einfahrt zum Haus war recht lang und zu beiden Seiten ragten hohe Bäume und Büsche hervor. Hinterm Haus lag der Wald. »Ich habe heute den ganzen Tag schon überlegt, dass wir hier noch niemanden gesehen haben!«

    »Das Grundstück und alle umliegenden sind recht weitläufig«, sagte Paul. »Nachbarn gibt es schon, wir wohnen nicht allein im Ort, Schatz!«, lachte er. »Nur … wohnen wir hier halt etwas weiter auseinander. Aber wir werden die Leute schon noch kennenlernen!«

    »Na hoffentlich, sind es keine versteiften alten Bauern, die mittags um zwölf ihre Suppe essen. Dicke Erbsensuppe mit Speck«, dabei machte Kati ein dümmliches Gesicht mit verdrehten Augen. Paul musste schmunzeln und schließlich lachten beide eine Weile. Als sie mit dem Lachen fertig waren, bemerkten sie wieder die vollkommene Stille rund ums Haus. Irgendwo flatterte ein Vogel davon. Dann wieder gespenstische Ruhe.

    »Ist diese Stille nicht herrlich?«, sagte Paul. Kati legte daraufhin den Arm um ihren Mann und fuhr ihm anschließend durchs Gesicht. Durch den Stress in den letzten Tagen war Paul nicht zum Rasieren gekommen und seine Wange fühlte sich stoppelig und rau an. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln, tief in ihrem Bauch. »Ich kann mich daran gewöhnen«, meinte sie und gähnte demonstrativ. »Jetzt sollten wir aber auch schlafen gehen! Bevor du nächste Woche mit der Arbeit beginnst, müssen wir noch einiges erledigen. Morgen früh fangen wir damit an, den Garten auf Vordermann zu bringen!«

    »Ai, Ai, Käpt’n«, scherzte Paul und begleitete seine Frau ins Haus. Es war die zweite Nacht im neuen Heim, doch die erste gemeinsame der beiden. Sie liebten sich ausgiebig und fielen beide in einen ausgesprochen ruhigen und erholsamen Schlaf. Im Haus war es totenstill und auch von draußen war kein Verkehrslärm zu hören (was angesichts der Lage der Ortschaft auch eher seltsam gewesen wäre). Paul schlief zum Rhythmus des Weckers auf seinem Nachttisch ein.

    Tic, Tac, Tic, Tac, Tic, Tac, Tic, Tac.

    3

    Als Paul am Morgen erwachte, bemerkte er, dass er unter leichten Kopfschmerzen und einer verstopften Nase litt. Während er noch im Bett lag und sich vorsichtig die müden Augenlider massierte, war Kati bereits aufgestanden. Die Decke auf ihrer Bettseite war ordentlich zurückgelegt und Paul konnte von unten Stimmen hören. Wahrscheinlich war seine Frau gerade dabei, den Kindern ein Frühstück zu machen. Im kleinen Küchenradio lief die FFN-Morgenshow. Ein typischer Tagesanbruch bei einer typisch norddeutschen Familie eben!

    Als sich Paul zur linken Wandseite umdrehte, sah er den Mann noch gerade so. Er war ungefähr sechzig Jahre alt und hatte mittellange leicht graue Haare. Es hatte den Anschein, als hätte der Mann Paul eine kurze Zeit beobachtet. Dann verschwand er in der Wand.

    Moment! Er tat WAS!?

    Paul rieb sich erneut – doch nun stärker – die Augen, dann blickte er zum Fenster hinaus. Es war heller warmer Augusttag und die Sonne tauchte alles in ihr fröhliches Licht – der blaue Himmel strahlte vor sich hin und tat so, als würde der nahende Herbst noch kilometerweit entfernt sein.

    »Was zum Henker …?«, murmelte der Kinderpsychologe und starrte auf die Wandseite, durch die gerade eben noch der fremde Mann entwichen war.

    »Paul!? Bist du schon wach? Komm runter, es gibt Rührei und Toast!«, rief Kati von unten aus der Küche.

    »Ich komme, mein Schatz«, sagte Paul laut und versuchte, dabei noch verschlafen zu klingen. In Wirklichkeit war er nun aber hellwach und überlegte fieberhaft, ob er in der Nacht irgendeinen Traum hatte, in dem ein Mann mit grauen Haaren vorkam. Vielleicht war das eben ein Überbleibsel seines Traums? Doch er konnte sich an nichts erinnern. Vielleicht war das alles aber auch nur eine Begleiterscheinung seiner Kopfschmerzen? Ja, das war die gefundene Erklärung (Ausrede) für diesen sonderbaren Moment. Wer nach Antworten sucht, wird eben auch fündig! Seine Kopfschmerzen gaukelten ihm vor, dass Paul für kurze Zeit einen Fremden in seinem Schlafzimmer erblickt hatte, Bingo!

    Mit diesem Gefühl der Erleichterung stieg er aus dem Bett und eilte, ohne sich noch einmal umzudrehen, aus dem Zimmer. Schon im oberen Korridor stieg ihm der Geruch von Ei und Toast in die Nase, welche plötzlich wieder frei wurde. Sicher hatte er sich eine Sommergrippe eingefangen! Doch außer dem Geruch von Toast und gerührtem Ei war noch etwas anderes da, ein stärkerer Duft. Paul zog die Luft ein. Es roch nach … Kaffee!

    Schnell stieg er mit seinen nackten Füßen die Stufen der Holztreppe nach unten und eilte in die Küche. Dabei machten die Bretter der Stufen ein knarrendes Geräusch.

    Knaaarsch.

    Grace und Ben saßen am Tisch und waren schon fast fertig mit ihrem Frühstück. Bens Stichwunde hatte ihren Höhepunkt hinter sich gelassen und verheilte langsam. Kati stand am Herd und hantierte mit dem Ei, dabei trug sie eine weiß-pinke Schürze und sah einfach nur sexy aus!

    »Guten Morgen Familie!«, sagte Paul fröhlich.

    »Morgen«, brummelte Grace und nahm dabei einen Schluck Orangensaft zu sich, den milden ohne Fruchtfleisch – so mochten es die Königs morgens am liebsten.

    »Na, wie habt ihr die erste Nacht in euren neuen Zimmern verbracht?«, erkundigte Paul sich und versuchte, seine beiden Kinder dabei erwartungsvoll anzusehen.

    »Geht so«, sagte Gracy und biss dabei in ihren Marmeladentoast.

    »Der Mann war gruselig!«, antwortete Ben und schnitt eine Grimasse. Er versuchte wohl, den Mann nachzumachen. Paul horchte interessiert auf. »Welcher Mann?«

    »Der, der heute Nacht in meinem Zimmer war!«, sagte Ben und stocherte in seinen Cornflakes herum. Seine Mutter schaute zu Paul und den Kindern mit einer Mischung aus Besorgnis und Ärger in ihrem Gesicht. Bevor sie sich auf ihren Stuhl setzte, streifte sie die sexy Schürze ab. »Das kommt von deinen Gruselfilmen, Ben!«, sagte Kati und blickte erwartungsvoll zu ihrem Mann, so, als sollte er nun gefälligst auch etwas dazu beitragen. Doch Paul, der nun viel zu aufgeregt war, rief nur aus: »Hatte er graue Haare? Etwas länger als normal?«

    »Paul, also wirklich!«, Kati wurde lauter.

    »Hast du den etwa auch gesehen Papa?«, fragte Ben und sah mit einem ernsten Blick zu seinem Vater hinüber. Der Vater, der sonst immer sachlich und groß wirkte. Doch er kam Ben nun eher unwirklich und klein vor.

    »Nein. Aber ich weiß, dass in diesem Film ein Mann mitspielt, der ähnlich aussieht! Übrigens, Benjamin König: Du weißt, dass Mama und ich es nicht möchten, dass du dir Spukfilme ansiehst!«

    »Ha, du hast ihn ja selbst gesehen, wenn du weißt, wie der Mann aussieht!«, rief Ben energisch aus.

    Der Junge ist nicht dumm, dachte sich Paul. Dann wurde er wieder ernster. »Ich bin vierzig Jahre alt, Benjamin – du bist acht! Find den Fehler!«

    »Ich denke, dass Ben diese Filme nun nicht mehr ansehen wird, nicht wahr!?«, meinte Kati und schaute schlichtend zwischen den beiden hin und her. Ben nickte mit unzufriedenem Gesichtsausdruck und brummte irgendetwas.

    »Gut, dann hätten wir das ja geklärt«, Kati lächelte. Paul hingegen wurde nachdenklich. Geklärt war leider noch gar nichts. Ben hatte diese Figur scheinbar auch gesehen. Also konnte ihm sein Kopfschmerz eben doch keinen Streich gespielt haben, oder? Nachdenklich rieb er sich seine Schläfe, wenigstens waren die Schmerzen in seinem Kopf schon fast nicht mehr da. Wunderdroge Kaffee!

    Um sich nicht den restlichen Tag zu verderben, beschloss Paul, dass das alles nur ein riesengroßer und seltsamer Zufall war. Ja, er hatte einen Mann gesehen – und auch Ben hatte einen Mann gesehen. So ein Mann kam aber tatsächlich in dem Film vor, den Ben heimlich angeschaut hatte. Somit war Katis Theorie mit Bens Albtraum gar nicht so abwegig. Was er selbst hingegen gesehen hatte, das war seine Sache und vermutlich war es am Ende doch nur ein Schimmer aus müden Augen und drückenden Schmerzen hinter der Stirn. Unterm Strich also ein Zufall und somit nicht mehr der Rede wert!

    »Was liegt heute an?«, fragte Grace und spielte an ihren blonden Haaren.

    »Mama und ich gehen in den Garten. Ihr zwei könntet ja den Ort erkunden? Vielleicht lernt ihr schon ein paar Kinder kennen!«, sagte Paul nun wieder gewohnt sachlich.

    »Paps, ich will nicht den Babysitter machen!«, nörgelte Grace und verdrehte dabei demonstrativ genervt die blauen Augen.

    »Pass auf, ich bin kein Baby!«, entgegnete Ben und machte eine Faust in Richtung seiner großen Schwester. Die hingegen streckte ihrem Bruder die Zunge heraus. Vor einiger Zeit hatte die Zwölfjährige die neumodische Idee gehabt, sich ein Piercing durch die Zunge stechen lassen zu wollen. Gut, dass das in ihrem Alter noch nicht möglich war!

    »Kinder, Schluss damit! Ihr beide seht euch hier ein bisschen um und heute Abend essen wir Burger!« Kati versuchte erneut, einen aufkeimenden Streit zu schlichten.

    »Na gut, komm Ben. Gucken wir mal, was dieses Nest so zu bieten hat«, Grace stand auf und Ben folgte seiner Schwester hinaus in den Flur. Paul sah seine Frau an und lächelte milde. Sie aßen ihr Frühstück, räumten den Tisch ab und gingen dann hinaus in den großen Garten.

    4

    Die nächsten Stunden gehörten nur dem Rasen, der gemäht werden musste. Sie gehörten der Hecke, die Paul mühevoll zurückstutzte, und sie gehörten den Beeten rings um das Haus, welche Kati erst einmal von Unkraut und Unrat der letzten Jahre befreite, bevor sie liebevoll die Harke nahm, um hinterher wieder neue Pflanzen einzusetzen. Paul schloss seine Augen und lauschte in die umliegende Natur, hörte den Gesang einer Schwarzkopfmeise aus dem nahen Wald und genoss das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Zwischendurch wurde sein Gehör immer wieder von Kathrins angestrengtem Schnaufen gestört, die große Mühe hatte, die scheinbar uralten Wurzeln der toten Pflanzen zu entfernen. Mit einem leichten Schütteln seines Kopfes war Paul wieder bei vollem Bewusstsein. Er ging zu seiner Frau hinüber und sah ihr in die Augen. Schweiß lief von ihrer Stirn, auch bedingt durch die sengende Augusthitze.

    »Komm her, mein Schatz. Ich helfe dir mal!«, sagte er und nahm Kati die Harke aus der staubigen Hand. Sie blickte ihren Mann dankbar an, sagte jedoch kein Wort. So schufteten die beiden bis in den späten Nachmittag hinein, die Kinder waren zwischendurch kurz nach Hause gekommen, um den Eltern aufgeregt zu erzählen, was sie schon alles entdeckt hatten. Ben berichtete, dass der Bach des Ortes an einer Stelle ideal zum Baden wäre. »Dort ist er etwas breiter und geschützter, Papa«, hatte der Achtjährige aufgeregt gesagt, während er sich ein Glas Apfelschorle einschenkte. Paul war froh, dass Ben sich scheinbar schon wohlfühlte und dem Abenteuer Eichenbach offen gegenüberstand.

    Grace hatte, typisch für ein pubertierendes Mädchen, wenig Sinn für Bäume oder Badespaß. Sie hatte die Ortsbesichtigung genutzt, um herauszufinden, wo etwas los sei, wie sie erwähnte. Doch auch die blonde Zwölfjährige war fündig geworden: Es gab mittig der langen Dorfstraße einen kleinen Platz, auf dem man sich scheinbar traf, um abzuhängen, wie es die jungen Leute nannten. Gracy erzählte auch, dass sie sich dort schon mit ein paar Kindern ihres Alters unterhalten hatte. Nach dem kurzen Bericht (und einigen Sandwiches) zogen die beiden wieder los. Paul und Kati war das nur recht. So konnten sie in Ruhe die Arbeiten am Haus fortführen.

    »Wenn die Kinder nächste Woche in die Schule kommen, haben sie wenigstens schon ein paar Leute kennengelernt«, meinte Kati und schrubbte die grauen Stufen vor der Haustür. Hier hatte scheinbar schon lange niemand mehr sauber gemacht! Paul, der damit beschäftigt war, das liegengebliebene Gras des Rasenmähers aufzusammeln, nickte und wischte sich die salzigen Schweißtropfen aus den Augenbrauen. Eigentum und Heimat zu haben, bedeutet Arbeit und Schweiß! Und Blasen … Paul zählte vier Stück an seinen Händen und Fingern. Als er sich eine nach der anderen aufgestochen hatte und das brennende Gefühl von zerplatzter Haut vernahm, war er der Ansicht, dass es für diesen Tag genug sei.

    »Die Kinder werden sich schon zurechtfinden, Kati! Die haben sich hier schneller eingelebt, als dir lieb ist. Wenn du in einem Monat die Stelle in der Kita antrittst, wirst du auch deinen Rhythmus finden. Ihr könnt euch bald schon nichts Schöneres mehr vorstellen, als hier zu leben!«, brachte er hervor und tauschte dabei die schweren und muffigen Arbeitsschuhe gegen seine leichten Sneakers aus.

    Kati schmunzelte: »Empfehlung vom Psychologen akzeptiert«, und knuffte Paul neckisch in die Seite. »Nein wirklich. Das Haus ist schön, der Garten ist prächtig. Macht zwar ’ne Menge Arbeit, aber das wird irgendwann ja auch erledigt sein.« Sie rieb sich die schmerzenden Glieder, doch sie glaubte dem, was sie gerade gesagt hatte. Irgendwann wird die harte Arbeit erledigt sein!

    »Ich hoffe, ich störe nicht!?«, sagte plötzlich eine raue alte Stimme seitlich der beiden. »Habe Ihr Gespräch gerade mitbekommen und wollte mich eigentlich nur kurz vorstellen. Aber sie haben recht! Es gibt nichts Schöneres, als hier in Eichenbach zu leben – wenn man die Ruhe zu schätzen weiß!« Der Mann grinste freundlich. »Franke. Jörg Franke, ich wohne nebenan!«

    Paul und Kati sahen sich an und schmunzelten. Es gab doch noch andere Leute in diesem Ort! Einen kurzen Augenblick lang war sich Paul gar nicht so sicher, wo die nächsten Nachbarn waren – auch wenn er Kati ganz gefasst mitgeteilt hatte, dass die Grundstücke nur etwas größer seien. Nun spürte er doch eine gewisse Erleichterung und lächelte dem Mann entgegen. »Freut uns sehr, Herr Franke. Ich bin Paul König und das hier ist meine Frau, Kathrin. Wir sind mit unseren beiden Kindern vor zwei Tagen angekommen.«

    »Oh, nennen Sie mich einfach Jörg! Ich fühle mich noch jung, auch wenn der Pass etwas anderes behauptet«, dabei hustete Jörg Franke ein paar Mal hinter seiner großen Faust. Eine gewaltige Faust, stark genug, um Knochen zu brechen – wenn es sein musste.

    Kati und Paul betrachteten Herrn Franke. Wie alt mochte er sein? Sicher über siebzig, doch er schien vital und gut in Schuss zu sein. Seine weißen Haare waren noch voll und die Arme wirkten kräftig wie die Arme eines Mannes, der sein Leben lang hart gearbeitet hatte. Stille.

    »Woher kommen Sie?«, fragte Franke nun.

    »Oh, aus Hannover. Ein Leben lang gefangen in der großen Stadt war genug!«, sagte Paul und lachte. »Aber dann sag doch bitte auch Paul und Kathrin, wir sind doch nun Nachbarn!«

    »Hannover! War schon öfter dort. Meint ihr, dass 96 bald wieder aufsteigt?«

    »Mag sein, ich halte es nicht so sehr mit Fußball, mir ist ein Spaziergang an der Leine lieber gewesen!« Paul lächelte und Jörg Franke erwiderte das Lächeln mit einem schmunzelnden Kopfnicken.

    Es war ein angenehmes Gespräch mit Herrn Franke – nein, mit Jörg! Er bot seine Hilfe an, wenn etwas nicht in Ordnung sei, lud die Familie ein, immer rüberzukommen (auch am Sonntag!) und freute sich über die gemeinsame Zeit. »Ihr werdet es sicher genießen! Mein Haus ist direkt neben den großen Büschen, nur ein Stück weit weg. Kommt, wann immer euch danach ist!«, sagte Franke und sah Paul tief in die Augen. Dann verschwand er wieder zwischen den Büschen und Bäumen, von wo aus er scheinbar auch gekommen sein musste. Man hörte nur noch das Knacken der Äste und Zweige unter den Füßen des alten Mannes, dann wurde es wieder still.

    »Ein netter Mann«, sagte Kati und streichelte ihren Bauch, in dessen Inneren ihr Magen bereits beachtlich knurrte. »Aber nun komm rein, wir bereiten das Abendessen vor!«

    »Ich esse vier Burger!« Paul spürte, wie sehr sein Magen knurrte. Er brachte noch schnell die letzten Gartengeräte den Kellergang hinunter. Die Kellertreppe lag auf der Rückseite des Hauses. Argwöhnisch blinzelte er zum Ulmenbaum, in dem die Hornissen genistet hatten. Doch kein Tier flog dort umher und suchte verzweifelt nach der Papierburg. Die Kinder würden keine Stiche mehr befürchten müssen! Zufrieden träumte Paul vor sich hin und ging runter in den Keller.

    Als Paul die brüchige Steintreppe zum dritten Mal hinunterging, hatte er das Gefühl, dass die Stufen unter seinen Füßen zu schwanken begannen. Mit festem Griff klammerte sich der Kinderpsychologe am eisernen Geländer fest. Das Gefühl der Schwerelosigkeit verblasste langsam und Paul schob den Vorfall dem harten Tag und dem hungrigen Magen zu. Er dachte an Jörg Franke. Und plötzlich fiel Paul auf, dass sie doch noch gar nichts über ihn wussten. War er verheiratet, hatte er Kinder oder Enkel? Wohnte er allein? Doch Paul verschob diese Gedanken und beschloss, Herrn Franke – Jörg – bald einmal zu besuchen.

    Als er schließlich in die Küche kam, roch es bereits nach den besten Burgern des Landes (McDonald’s war nichts dagegen!). Er streichelte Kati sanft über den Rücken, als Paul plötzlich pochende Schritte vernahm. Sie kamen von draußen und bewegten sich schnell auf das Haus zu. Dann sprang die Haustür auf und Sekunden später stürmte Grace König in die Küche. Die Aufregung stand ihr mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben.

    5

    Grace berichtete, dass sie den Lauf des Baches durch den Ort gefolgt waren. Er mündete in der Aller, dem größeren Fluss in der Nähe – nur, um dann von dort aus in die Weser zu fließen. Die Weser verteilte sich von Bremerhaven aus in die Nordsee und somit war der kleine Bach, der laut Beschilderung den Namen Gohbach trug, ein Teil des Weltmeeres. Doch diese Tatsache war es nicht, welche die Zwölfjährige so in Aufruhr versetzte. (Den Lauf der Flüsse hätte sie ohnehin noch gar nicht nachvollziehen können und wahrscheinlich wäre es dem Teenager auch egal gewesen.)

    Schuld an ihrer Aufregung war die alte Wassermühle, die sich mittig im Dorf befand. Das alte Gebäude sah aus, als wäre es schon hundert Jahre außer Betrieb, doch wie Grace erzählte, hörte der Müller erst in den sechziger Jahren auf, den Strom des Baches zum Mahlen von Getreide zu benutzen. Das hatte sie auf einer kleinen Tafel am Gebäude lesen können. Kurz vor der Stelle, an der früher das große Mühlrad seine Kreise zog, wurde der Bach in einem kleinen Teich gestaut – um dann, wie durch eine kleine Talsperre, mit voller Wucht vor der Mühle zu brechen. Von der Mühle aus verlief der Bach dann breiter und kräftiger durch den Ort. Das Haus der Familie befand sich auf der anderen Seite des Mühlenteichs, dort war der Bachlauf schmaler und ruhiger.

    »Papa, diese alte Mühle ist echt gruselig! Der Bach fließt von da an breiter! Wir sind am Wegesrand gelaufen. Nach kurzer Zeit kommt man an einem Friedhof vorbei, der direkt am rauschenden Wasser liegt. Ben hat sich fast in die Hosen gemacht!«

    »Haha, habe ich gar nicht, du Lügnerin«, erwiderte ihr kleiner Bruder daraufhin. Er schaute trotzdem etwas eingeschüchtert in die Runde.

    »Jedenfalls sind wir weiter am Wasser entlang und an der langen

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